Jetzt habe ich hier schon einige Rezensionen veröffentlicht und ihre Einträge durch das alphabetische Verzeichnis erreichbar gemacht. Dabei ist, durch die Ordnung nach dem Schema des Alphabets, eine ganz neue Unordnung unter den Büchern entstanden, die sich dieser Dimension der Einordnung beugen mussten. Direkt unter Marisha Pessls monumental-düstrem, verschlungenen Werk “Die amerikanische Nacht” steht nun Camartins “Bibliothek von Pila” (und wird es bald nicht mehr, wer will wissen, welche Autorennamen noch existieren, ob ich sie lesen, über sie schreiben werde?) , dieses eher leise Werk über die Lektüre der Klassiker. Nimmt Pessl Werk das kleine Büchlein nicht in Besitz? Kommunizieren sie nicht in diesem Gebilde miteinander, wie aufeinanderfolgende Zeilen in einem Gedicht? Erfüllt Pessl nun die orangesandsteinfarbenen Fluchten von Camartins Bibliothek, mit den alten und doch frischen Seiten, mit ihrer phosphoreszierenden Dunkelheit, mit dem Stummton der Filme Cordobars, dem Summen der Perspektiven? Wie verhält es sich, da nun Timothy Zahn und Nicolas Born ihre Werk in der Bücherliste nebeneinader finden – wird da nicht eine unüberbrückbare Distanz einfach negiert? Der Krieg der Sterne, der wahrhaftige galaktische Konflikt, neben Borns realer und doch illusorer Betrachtung eines Kriegsberichterstatters – in welchen Einfallwinkel treffen sich darin die Wirklichkeiten des Krieges. Existieren sie überhaupt in beiden, nur weil man das Wort “Krieg” in beiden Texten findet? Was sagt das überhaupt aus, wenn in einem Text “Krieg” steht, inwiefern ist der Text dadurch bedingt?
Amelie Nothomb ist nur durch Danniel Pennac von Georges Perec getrennt. Wie gerne würde ich die beiden zusammensehen… Aber ein Eingriff kommt nicht in Frage. Man kann die nun gezogene Masche nicht einfach an einer Stelle aufknüpfen. Oder doch? Die Frage: wie sehr besteht ein System und seine Zukunft, seine Echtheit, seine Wirkung aus dem, was mit ihm erschaffen wurde, was es erschaffen hat? Und wie viel Erneuerung braucht es – nur Inhalt, auch Rahmen. Wenn man zu sortieren beginnt: beginnt man damit einen Anfang oder ein Ende?
Menasse und Moore. Der Prozeß zum Holocaust und Watchmen. Darin liegt eine geradezu abwegige, verbotene Verbindungswahrscheinlichkeit – denn nichts darf mit dem Holocaust verbunden werden. Aber doch seltsam, wie sehr sich diese Bücher in ihren Gegensätzen anziehen, diesen krassen, farblichen, thematischen, formellen Gegensätzen, die eigentlich überhaupt keine Hindernisse sind…
Sie folgen aufeinander: Der alte Mann und das Meer, der Fänger im Roggen, der glückliche Tod. Der Holocaust vor Gericht, der Kuss meiner Schwester, der schwedische Reiter. Der stille Amerikaner, der Verfolger, der zerbrochene Krug… Wie eine kleine Ode auf Leben und Tod.
Es gibt viel mehr Bücher mit W und Z in der Bücherliste – hier gibt es mehr Entzweiung und Verdrängung als ich dachte. Was die Seele braucht: Weder Opfer noch Henker. Doch es trennt sie etwas: Wie ein Roman.
Und wenn ich so scrolle und scrolle, kommt mir das ganze, auf seinem Raum, wie ein endloses Spiel vor, etwas, das sich mehr selbst erweitert, als das ich es tue – etwas, über das ich längst die Kontrolle verloren habe. Warum steht “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” über Kafkas “Das Schloss”. Konnte Kafka das wissen. Vielleicht wollte er, dass dies eines Tages über der neuen Tür zu seinem Werk angebracht wird. Es ist als würde jedes Werk reloaded durch seine Anwesenheit in diesem Verzeichnis. Nicht wie das Verschwinden in einem Bücherregal, sondern ein konspirieren unter den einzelnen Werken: daraus entstehend: eine ständig wachsenen Intelligenz, erweitert durch jede neue Plattform. Schon sind sie intelligenter als ich. Vielschichtiger. Sie durchdringen mich und mein Verständnis von Sprache mehr, als das ich sie durchdringe. Ich dringe zwar vor, aber ich durchdringe sie nicht – aber sie durchdringen mich, mehrmals, immer wieder, überrunden mich, bleiben zum Teil in sich, treten zum Teil gänzlich hervor.
Da ist soviel, über das ich glaubte, etwas zu wissen: Über Philip Roth, deren Massefeld wie ein zu dicker Brocken in der Liste schwimmt: Ein Planet, der alles andere Licht ablenkt, ein schwarzes Loch, voller Dichter, aber alles verschluckend. Ich weiß nichts über Philip Roth und seine Romane. Ich habe mich ins Nichtwissen geschrieben. Die Bücher wissen mit allem was man über sie sagt immer noch mehr.
Madame Bovary, Mercier und Camier und Martin Eden sitzen zusammen. Was haben sie sich zu erzählen. Welche Vergeblichkeit, welches Aufbäumen! Doch da wo sie zusammenkommen, traut sich bestimmt keiner, seine Individualität noch hervorzuheben, überhaupt zu sprechen, überhaupt zu handeln. Überhaupt ihre Romane zu begehen. Sie hocken um ein Lagerfeuer und schweigen und denken über sich nach, was sie sonst nie tun können, weil sie sonst einfach ihr Schicksal erleben.
Der Raum: so klein, so groß. Der Abstand: zwischen Scheuermanns reichen Mädchen und Shakespeares Julia. Und doch: genauso verzweifelt, genauso hoffnungsarmfroh.
Keines dieser Bücher endet je hier; sie gehen weiter und weiter, nach dem, was ich geschrieben habe – Ich gelangene nie an ein Ende, nachdem ich sie zu Ende gelesen hatte und anfing, darüber zu schreiben.
Es fehlt etwas. Kafka ist doch nicht nur das Schloss. Auster nicht nur der Levithan. Harry Mulisch nicht nur zwei Frauen… Aber mir gefällt es auch: dieses einzelne, dieses demütige, in dem jeder wichtige Autor meines Lebens ein Buch hat oder zwei. Bekenntnis, einfacher, als eine Ausführung.
Zum Ende der Stimmen kommt man nicht.
Man erschafft sich selbst ein Antiraster. Eine schöne Beschäftigung. Vielleicht nur für mich poetisch. Idee. Idee. Idee. Billy Joel singt Hebbel ein Lullabye. Roth skizziert Goodbye Columbus. Es sind noch viele weiße Leerstellen, wo einst nichts mehr sein wird. Staub, weggepustet…