Monthly Archives: October 2013

Über die Magie meines alphabetischen Verzeichnisses


Jetzt habe ich hier schon einige Rezensionen veröffentlicht und ihre Einträge durch das alphabetische Verzeichnis erreichbar gemacht. Dabei ist, durch die Ordnung nach dem Schema des Alphabets, eine ganz neue Unordnung unter den Büchern entstanden, die sich dieser Dimension der Einordnung beugen mussten. Direkt unter Marisha Pessls monumental-düstrem, verschlungenen Werk “Die amerikanische Nacht” steht nun Camartins “Bibliothek von Pila” (und wird es bald nicht mehr, wer will wissen, welche Autorennamen noch existieren, ob ich sie lesen, über sie schreiben werde?) , dieses eher leise Werk über die Lektüre der Klassiker. Nimmt Pessl Werk das kleine Büchlein nicht in Besitz? Kommunizieren sie nicht in diesem Gebilde miteinander, wie aufeinanderfolgende Zeilen in einem Gedicht? Erfüllt Pessl nun die orangesandsteinfarbenen Fluchten von Camartins Bibliothek, mit den alten und doch frischen Seiten, mit ihrer phosphoreszierenden Dunkelheit, mit dem Stummton der Filme Cordobars, dem Summen der Perspektiven? Wie verhält es sich, da nun Timothy Zahn und Nicolas Born ihre Werk in der Bücherliste nebeneinader finden – wird da nicht eine unüberbrückbare Distanz einfach negiert? Der Krieg der Sterne, der wahrhaftige galaktische Konflikt, neben Borns realer und doch illusorer Betrachtung eines Kriegsberichterstatters – in welchen Einfallwinkel treffen sich darin die Wirklichkeiten des Krieges. Existieren sie überhaupt in beiden, nur weil man das Wort “Krieg” in beiden Texten findet? Was sagt das überhaupt aus, wenn in einem Text “Krieg” steht, inwiefern ist der Text dadurch bedingt?

Amelie Nothomb ist nur durch Danniel Pennac von Georges Perec getrennt. Wie gerne würde ich die beiden zusammensehen… Aber ein Eingriff kommt nicht in Frage. Man kann die nun gezogene Masche nicht einfach an einer Stelle aufknüpfen. Oder doch? Die Frage: wie sehr besteht ein System und seine Zukunft, seine Echtheit, seine Wirkung aus dem,  was mit ihm erschaffen wurde, was es erschaffen hat? Und wie viel Erneuerung braucht es – nur Inhalt, auch Rahmen. Wenn man zu sortieren beginnt: beginnt man damit einen Anfang oder ein Ende?

Menasse und Moore. Der Prozeß zum Holocaust und Watchmen. Darin liegt eine geradezu abwegige, verbotene Verbindungswahrscheinlichkeit – denn nichts darf mit dem Holocaust verbunden werden. Aber doch seltsam, wie sehr sich diese Bücher in ihren Gegensätzen anziehen, diesen krassen, farblichen, thematischen, formellen Gegensätzen, die eigentlich überhaupt keine Hindernisse sind…

Sie folgen aufeinander: Der alte Mann und das Meer, der Fänger im Roggen, der glückliche Tod. Der Holocaust vor Gericht, der Kuss meiner Schwester, der schwedische Reiter. Der stille Amerikaner, der Verfolger, der zerbrochene Krug… Wie eine kleine Ode auf Leben und Tod.

Es gibt viel mehr Bücher mit W und Z in der Bücherliste – hier gibt es mehr Entzweiung und Verdrängung als ich dachte. Was die Seele braucht: Weder Opfer noch Henker. Doch es trennt sie etwas: Wie ein Roman.

Und wenn ich so scrolle und scrolle, kommt mir das ganze, auf seinem Raum, wie ein endloses Spiel vor, etwas, das sich mehr selbst erweitert, als das ich es tue – etwas, über das ich längst die Kontrolle verloren habe. Warum steht “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” über Kafkas “Das Schloss”. Konnte Kafka das wissen. Vielleicht wollte er, dass dies eines Tages über der neuen Tür zu seinem Werk angebracht wird. Es ist als würde jedes Werk reloaded durch seine Anwesenheit in diesem Verzeichnis. Nicht wie das Verschwinden in einem Bücherregal, sondern ein konspirieren unter den einzelnen Werken: daraus entstehend: eine ständig wachsenen Intelligenz, erweitert durch jede neue Plattform. Schon sind sie intelligenter als ich. Vielschichtiger. Sie durchdringen mich und mein Verständnis von Sprache mehr, als das ich sie durchdringe. Ich dringe zwar vor, aber ich durchdringe sie nicht – aber sie durchdringen mich, mehrmals, immer wieder, überrunden mich, bleiben zum Teil in sich, treten zum Teil gänzlich hervor.

Da ist soviel, über das ich glaubte, etwas zu wissen: Über Philip Roth, deren Massefeld wie ein zu dicker Brocken in der Liste schwimmt: Ein Planet, der alles andere Licht ablenkt, ein schwarzes Loch, voller Dichter, aber alles verschluckend. Ich weiß nichts über Philip Roth und seine Romane. Ich habe mich ins Nichtwissen geschrieben. Die Bücher wissen mit allem was man über sie sagt immer noch mehr.

Madame Bovary, Mercier und Camier und Martin Eden sitzen zusammen. Was haben sie sich zu erzählen. Welche Vergeblichkeit, welches Aufbäumen! Doch da wo sie zusammenkommen, traut sich bestimmt keiner, seine Individualität noch hervorzuheben, überhaupt zu sprechen, überhaupt zu handeln. Überhaupt ihre Romane zu begehen. Sie hocken um ein Lagerfeuer und schweigen und denken über sich nach, was sie sonst nie tun können, weil sie sonst einfach ihr Schicksal erleben.

Der Raum: so klein, so groß. Der Abstand: zwischen Scheuermanns reichen Mädchen und Shakespeares Julia. Und doch: genauso verzweifelt, genauso hoffnungsarmfroh.

Keines dieser Bücher endet je hier; sie gehen weiter und weiter, nach dem, was ich geschrieben habe – Ich gelangene nie an ein Ende, nachdem ich sie zu Ende gelesen hatte und anfing, darüber zu schreiben.

Es fehlt etwas. Kafka ist doch nicht nur das Schloss. Auster nicht nur der Levithan. Harry Mulisch nicht nur zwei Frauen… Aber mir gefällt es auch: dieses einzelne, dieses demütige, in dem jeder wichtige Autor meines Lebens ein Buch hat oder zwei. Bekenntnis, einfacher, als eine Ausführung.

Zum Ende der Stimmen kommt man nicht.

Man erschafft sich selbst ein Antiraster. Eine schöne Beschäftigung. Vielleicht nur für mich poetisch. Idee. Idee. Idee. Billy Joel singt Hebbel ein Lullabye. Roth skizziert Goodbye Columbus. Es sind noch viele weiße Leerstellen, wo einst nichts mehr sein wird. Staub, weggepustet…

Kleine Empfehlung zu Iso Camartin: “Die Bibliothek von Pila”


“Es kommt vor, dass der Ort, an dem du dich befindest, und die Zeit, die du lesend verbringst, dir auf einmal abhanden kommen. Dein Körper fühlt plötzlich nicht mehr, dass der Ellbogen sich am Holztisch abstützt. Die Maserungen an der gegenüberliegenden Wand, ansonsten ein für die Augen wundersames Labyrinth, in dem sich leicht verfangen, lösen sich auf, sind wie ausgewischt. Der unbequeme Stuhl, die Schuhe an den Füßen, der Pullover um die Schultern, alles ist fortgeweht. […] Lesend verlierst du deine unmittelbare Lebenswelt, um in eine andere einzudringen. Vom fliegenden Teppich der Erzählung mitgetragen, bist du auf einmal in…”

Die Klassiker der Literatur sind dies nicht allein geworden, weil sie innovativ waren oder gegen die Zeit standen. Nein, Klassiker sind sie meist, weil sie in ihrem Thema derart präzise und in ihrem Wesen trotzdem derart unerschöpflich sind, sodass sich in der Geschichte ihrer Lektüre nie ein Ende abzuzeichnen beginnt, weil keine Generation sie vollständig erledigen kann (andere Bücher werden dagegen schon am ersten Veröffentlichungstag auf irgendeiner Zeitungsseite erledigt.)

“Lesen gilt als einsames Geschäft. Doch kaum steigt man in ein Buch ein wird man zum Komplizen fremder Geschichten. Zuerst fühlt man sich als der Angesprochene, dann als der Mitbetroffene, schließlich wird man so sehr zu einem Teil der erzählten Geschichte, dass man eingreifen möchte. So ist Lesen eine Tätigkeit, die leise und sacht aus der eigenen Einsamkeit in die fremde Gesellschaft hineinführt.”

Lesen ist vor allem ein Wunder in zwei Teilen: Der Moment des Erlebens und der Moment des Wiedererlebens. Während der erste einem ganz allein gehört, kann der andere in allem erscheinen, einem Gespräch, einem Bild, einer Erinnerung, einem Traums, einem Idee, der ganzen Welt.

“Im Folgenden tue ich nichts anderes, als wozu Dante jeden Leser ermuntert:
Bleib sitzen, Leser, auf der Bank und denke,
was ich dir aufgegeben, nochmals durch,
damit du Freude hast, statt müd zu werden.
Ich hab dir vorgelegt, nun stärke dich allein.”

Das “Folgende” ist eine wunderbare Handreichung zu wunderbaren Büchern. In 12 vielschichtigen Essays erkundet Iso Camartin seine Lektüren, gelesen während seines Aufenthalts in der Stadt Pila. Fast alle sind sie “Klassiker”, Bücher voller Hochgenuss und Zauber. Ganz persönlich und doch wieder allumfassend führt er uns an diese bedeutenden Bücher heran und zeigt uns ihren Witz, ihre Magie und die ihnen innewohnende Glückseligkeit.

“Klassiker sind Bücher der fernen und nahen Vergangenheit, deren Geheimnisse noch nicht ausgeplaudert sind. […] Es sind Bücher zu denen der Leser im Verlauf seines Lebens zurückkehrt, weil etwas, das er meistens selbst nur schlecht begreift, ihn wieder in sie hineinruft.”

Die Bibliothek von Pila ist ein heimisches Buch, ein Buch, das einen gelehrten oder freudigen Leser in sich selbst und seine Lieblingswerke zurückversetzt. Es ist zwar ein wenig intellektuell und wort- und stilgewandt, doch kommt es dabei (meistens) ohne große Psychologie oder akademische Ausflüchte aus. Die meisten Texte sind Essays, die sich an das wahre Credo ihrer Gattung halten: Erzähle und Beschreibe gleichermaßen, sei in deiner Form möglichst frei, sodass sich auch der Leser frei fühlt, und liefere viele Anregungen. Was diese Texte vorführen, sind, könnte man sagen, die kolorierten Landkarten der Bücher, die sie zum Thema haben.

“Es gibt Bücher, bei denen du es nicht verhindern kannst, mit in eine Affäre hineingezogen zu werden. Sie setzen dich an einem Ort ab, wo du niemals ohne sie hingelangt wärst. Und bald einmal begreifst du: Die glücklichen und schönen Einsätze deines Lebens verdankst du den Figuren deiner Lieblingsbücher”

Ich empfehle dieses Buch jedem, der noch einmal in der Welt träumen will, die er sich einst erlas oder die er in ihrer Vielfalt erst an der Hand eines begeisterten Lesers erkunden will – und auch allen Lesern, die gerne Bücher und Autoren, an die sie sich wegen ihres Rufs und ihrem Status als Klassiker bisher nicht gewagt haben, für sich entdecken möchten.

“Nur ein Bruchteil der Menschen braucht Bücher um erträglich zu leben. Wer Bücher als wichtigste Wegzehrung seiner Lebensreise ansieht, wird nur schwer begreifen, wie es ohne sie gehen könnte. […] Die Bibliothek von Pila ist jenes minimale Buchgepäck, mit dem einer sich auf eine Reise machen könnte, von der er nicht weiß, ob er je zurückkehren will.”

Inhalt:

1. Der Lebensbaum (Die Bibel)

Zitat: “Jeder kann die trockenen Belehrungen der Schule und die lästigen Verkürzungen des Religionsunterrichts heil überstehen, der die Bibel als einen riesigen Wörterbaum ansieht, unter den man sich legt, um tausend Zweige und Triebe bei ihrem Wachstum und ihrem Wildwuchs zu verfolgen. […] Auf jedem Ast, in jedem Zweig schimmert etwas im Licht der eigenen Neugierde.”
2. Die Weisheit und das Lächeln (Dante)

Zitat: “Kann dem Leser von Dante verborgen bleiben, wie häufig in der Commedia gelächelt wird?”
3. Eine Geschichte über Laura (Petraca)
4. Zwiegespräch (Denis Diderot)
5. Gefragt ist Charakter (Nikolai Gogol)
6. Die wahre Herzenskunde (Flaubert)

Zitat: “Wenn es in der Literatur irgendwo erfahrbar ist, was Stilsicherheit inmitten von Lachen und Weinen bedeutet, dann in dieser kurzen Erzählung (“Ein schlichtes Herz” – siehe: Drei Erzählungen) von Flaubert. […] Nie hat einer gleichzeitig so warmherzig geschrieben über die Kreatur und so blasphemisch über das, was wir aus ihr machen.”
7. Eine Dame und ein Frauenzimmer dazu (Theodor Fontane)
8. Die Augenlehre der Madame Chauchat (Thomas Mann)
9. Josefine oder der Freiraum einer Närrin (Franz Kafka)
10. Labil (Virginia Woolf)
11. DIe Einsamkeit des Arciprete don Trajella (Carlo Levi)
12. Kollege Pnin und die Konspiration (Nabokov)

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*diese Rezension ist bereits in Teilen auf Amazon.de erschienen.

“Hundert Briefe an einen unbekannten Leser”


“die Kunst, einst als Zerstörer der Ordnung aus Platons Staat verbannt, wird heute zur Anarchie erzogen, aber sie nähme vielleicht alle Zwänge von neuem auf sich, wenn sie nur die Kraft des Wahnsinns wiederfände, die an ihrem Ursprung stand.”

Über Literatur zu schreiben ist ein Spiel zwischen Aufzeigen und Verschleiern. Der Leser muss etwas über das besprochene Werk erfahren, ohne dabei jedoch zu sehr in die Materie eingeführt zu werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass er sich allzu konkrete Vorstellungen in eine bestimmte Richtung macht – wo doch kein Buch anders wirklich erfahren werden kann, als durch die Lektüre; durch sich selbst. Man muss also anregen, aber man darf nichts versprechen. Dieser Balanceakt verlangt ein hohes Gefühl für Sprache und Sinnrhetorik und eine gewisse, unaufdringliche Brillanz.

“Während uns diese Beziehungen enthüllt werden, wird uns allmählich schwindelig: denn mit wenigen nüchternen Hinweisen gelingt es Guenon, so viele und so verschiedene Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, dass wir uns am Ende vor einer endlosen Perspektive finden, die die ganze Geschichte bis heute durchläuft.”
(Textbeispiel aus einem Text zu Rene Guenon “Der König der Welt”)

Roberto Calasso, Schriftsteller, Essayist und Geschäftführer des italienischen Verlages Adelphi, hat zumindest ohne Zweifel das Gefühl für Sprache und sein Erschließungspensum ist ebenfalls nahe am Brillanten – besonders unaufdringlich ist er meistens zwar nicht, was man ihm aber dank seiner fachlichen Begeisterung verzeihen kann.

In diesem Buch finden sich gesammelte 100 Klappentexte, 100 “Briefe an einen unbekannten Leser”, die Calasso über die Jahre (von 1965-1998) für die in seinem Verlag erschienen Bücher geschrieben hat. (Mit Klappentext sind hier nicht die Texte auf dem Rücken der Bücher, sondern im Einband vorne und hinten gemeint.) Es sind Streifzüge durch die Symbolik, Gedankenspiele mit der Materie der Bücher – manchmal mehr Loblied, manchmal mehr Erklärung, hier und da nur über das Buch, dann wieder auch den Autor mit einbeziehend, aber immer im Bestreben das Einzigartige und Faszinierende der Werke herauszukehren und zu beschwören.
Für diese deutsche Auswahl wurden zu einem größeren Teil auch Titel von deutschen Autoren aufgenommen, vor allem von Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard, Gottfried Benn, Alexander Lernet-Holenia, Robert Walser und Elias Canetti.

“Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.”
Hugo von Hofmannsthal

Wer gerne virtuose, literarische Capriccios liest, dem wird dieses Buch eine kleine Offenbarung sein; auch wenn sich Calasso hier und da etwas zu sehr überschlägt in seinen Zuspitzungen, schaffen die Texte es doch, viele bekannte und unbekannte Autoren in eine interessante Dimension zu rücken und uns das unbestimmte Gefühl zu geben, dass Lesen immer noch ein geheimnisvoller, unendlicher Streifzug durch das hohe, weite Land der Bücher ist, von denen man nur eins aufschlagen muss, um eine einzigartige Geschichte zu erleben. Und so manche kleine Entdeckung kann hier selbst ein guter Literaturkenner noch machen – so viel sei versprochen.

“Es ist müßig, wie auch bei Borges, das Wahre und das Erfundene bei dieser glänzenden Oberfläche voneinander unterscheiden zu wollen, denn alles daran ist visionär und insgeheim in einer einzigen Kette verbunden, um Schwobs Worte zu beweisen, denen zufolge die Ähnlichkeit, die intellektuelle Ausdrucksweise des Unterschieds ist und der Unterschied die sinnliche Ausdrucksweise der Ähnlichkeit.”
Aus dem Text über: “Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe von Marcel Schwob”

Essayistik über Literatur ist entweder etwas Angenehmes, einfach Lesenswertes oder etwas Ungenießbares. Calassos virtuoskurze Klappentextprosa zählt auf jeden Fall zu der ersten Kategorie.

Einige weitere Bücher, die ich auf diesem Gebiet empfehlen kann sind:

Die Überlebensbibliothek: Bücher für alle Lebenslagen
Was die Seele braucht
In der Kreide
Letzte Inventur vor dem Ausverkauf

“Und plötzliches Glück wie dumpfes Unglück, wie es sich in jedem Moment und in jedem Leben ereignet, begegnen uns selten mit solcher Intensität und zugleich sotto voce wie auf diesen Seiten der Mansfield, groß genug, das zu sagen, was wir alle fühlen und nie sagen.”
Aus einem Text über Erzählungen von Katherine Mansfield

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen

Zu Klaus Manns letztem Buch: “André Gide und die Krise des modernen Denkens”


“Menschsein, das heißt Mensch WERDEN.”
André Gide

Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann und vor allem bekannt als glühender Antifaschist, gehört, wenn auch nicht zu den größten, so zumindest zu den am meisten unterschätzten deutschen Schriftstellern des (frühen) 20. Jahrhunderts. Sein letztes Buch, eine Biographie von André Gide, ist ihm stilistisch und auch inhaltlich famos gelungen; er schafft es, einen äußerst beeindruckenden und sehr individuellen Geist sorgsam vor uns auszubreiten; seine Kenntnis des gideschen Werkes ist beeindruckend und teilweise fast schon intim, sodass es fast auf natürliche Weise zum Fixpunkt seiner Studie wird. Über den Menschen Gide erfahren wir daher eher viel im (Gegen-)Bezug zu seinem Werk.

Leider ist das Werk des frz. Nobelpreisträgers heute größtenteils in Vergessenheit geraten. Mal abgesehen von Die Falschmünzer, einem Roman der zweifellos zu den großen Errungenschaften in diesem Genre gehört und vielleicht noch Die Verliese des Vatikans ist kaum mehr etwas bekannt; kaum mehr gelesen werden solch wunderschöne kleine Bücher wie Der Liebesversuch, Die enge Pforte, ja, allgemein die kleineren Erzählungen Gides.

Und auch vergessen scheint ihr individueller Schöpfer, der Mann, der wie kaum ein anderer die Dialektik und Problematik der Moderne durchlebte, das Moralische ergründete, das freie Leben jenseits von Gut und Böse pries (Les Nourritures terrestres) den Kolonialismus erforschte, nur kurze Zeit dem Kommunismus angehörte und der trotz seiner langen Odyssee nie aufhörte nach Vollkommenheit zu streben: Le Paradis es toujours à refaire…
und der sein Leben lang trotz seines Kampfes gegen Institutionen wie die Kirche, seinem christlichen Glauben nie ganz entsagte und sein Leitmotiv in einem der wichtigsten Bibelzitate fand: “Den wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert, der wird es erhalten.”

“Wie reich man wird, wenn man sich verschwendet!”
Klaus Mann

Dieses Buch ist nicht nur eine Gideeinführung, es ist auch Konfrontation mit vielen Themen, die Mann, seine und Gides Generation beschäftigten, eine Reise durch ein Leben und eine Geistesgeschichte, die sich abseits der Moderne und doch in sie hinein entwickelte. Wer diese Reise im vollen Genuss erleben will, sollte vielleicht ein paar französisch Kenntnisse mitbringen, da das Buch viele Originalzitate, die nicht übersetzt sind, enthält. Trotzdem würde ich dieses Buch empfehlen, allein schon auf Grund der beiden Persönlichkeiten denen wir hier begegnen und die uns beide einiges über das allgemeine Leben und Werden und über die menschliche Botschaft, aber auch über ihre Epoche zu berichten haben, die diese Botschaft nicht “ensemble” getragen hat.

Gide war ein großer Mann, nach seiner eigenen Definition:
“Ein großer Mann hat nur einen Wunsch: So menschlich wie möglich – sei es selbst auf die Gefahr hin, oft gewöhnlich zu erscheinen. Gerade indem er dies tut, wird er – wie bewunderungswürdig! – auch seine Persönlichkeit durchaus entfalten. Wer sich aber vom allgemein Menschlichen auf die Enge des eigenen Ich zurückzieht, der verkümmert in grillenhafter Vereinsamung…

Als Humanist, als Denker, als Exzentriker, war Gide eine Ausnahmeentscheidung, eine Verfechter des Individuums und ein Denker, der sich gern von dem ablöste, was andere für selbstverständliche Bahnen in ihrem Leben hielten. Am Ende war er vor allem jemand, der die Kunst als ein Wesen zur Vermenschlichung empfand – und den Menschen als ein Wesen, das eine große Schönheit und Kraft bewahrt: das Leben.

“Und um wenn sollte man sich die Mühe geben, wenn nicht um den Menschen. Er hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen.”

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*diese Rezension ist bereits in Teilen auf Amazon.de erschienen.

“Was die Seele braucht” – In Erinnerung an Erhart Kästner


-“Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen, wie der alte Herr mir den Eintakter “Finsternisse” diktierte. Unter so vielen dergleichen Stunden sind mir diese in der Erinnerung stehen geblieben wie Inseln, die in der salzigen Lösung anderer vergessener glänzen.”-
Kästners Erinnerungen an das Diktat des Stückes durch Gerhard Hauptmann, desse Sekräter er eine zeitlang war

Erhard Kästner, Literat, Kritiker und Intellektueller, gehört zu den heute eher vergessenen Dichtern und Denkern. In Sachen Literatur hat er natürlich auch wenig vorzuweisen, gerade mal 6 oder 7 Bücher. Warum sollte man ihn trotzdem als einen der wenigen nennen, die noch wichtig sind? Weil er über Literatur schreiben konnte, wie kaum ein zweiter.

-“Wahrheiten müssen nicht nur ihr Wahres enthalten, sondern auch einen anderen Stoff, ein Phlogiston, das dieses wahre zu verbrennen vermag, also Feuer. Also Belebendes, also Verwandlungskraft. Das ist der Grund, weshalb wir lebendigen Wahrheiten seltener in der akademischen Sphäre begegnen als in der freien Literatur, seltener bei den Gelehrten, als bei den Weltleuten.”-

Vornehmlich in den Jahren nach dem Krieg hat Kästner sich viel mit der aufkommenden Literatur aus Deutschland und dem Ausland auseinandergesetzt. Später hat er sich für Paul Celan, Günter Eich und Ingeborg Bachmann stark gemacht, hat Uwe Johnson unterstützt und viel über die späteren Werke Ernst Jüngers und Gerhard Nebel geschrieben.
Das kleine Büchlein “Was die Seele braucht“  umfasst natürlich nur einen sehr geringen Teil des kästnerischen Rezensentenwerkes. Trotzdem scheint es, als sei entweder das beste ausgewählt worden oder man hätte gar nicht falsch auswählen können.
Camus, Sartre, Thomas Mann, Kafka und andere, damals aktuelle, doch oft nicht weniger interessante (und vor allem faszinierend beschriebene und dargestellte) Autoren und Bücher finden sich gemischt hier vor.

-“Für Kästner ausschlaggebend war nicht allein der Rang eines Buches als Kunstleistung, sondern, ob es glückte, sich anhand seiner ein Stück Welt zu eigen zu machen. Denn der “mundus abstrusus”, die Erfahrung, dass die Welt immerzu wegrutscht, entgleitet, dass immerwährend Entzug ist und dass es nicht mehr gelingt, sich auf der Welt zu Hause zu fühlen, galt ihm als Grunderfahrung der Moderne. Die Aufgabe der Kunst sah er darin, solche Verlust wettzumachen, Welt zu bewahren oder gar Verlorenes zurückzugewinnen.”-
Karin Niezschke im Nachwort

Analysiert Kästner, pauschalsiert er? Ein eindeutiges Nein. Kästners Rezension sind sozusagen “Kunstessays”, also in sich selbst eine Art von literarischer Arbeit, die sich mit dem Buch, seinen Themen und dem Künstler gleichermaßen auseinandersetzen, statt sie nur zu loben oder zu kritisieren. Stilistisch und sprachlich immer sehr gewogen und schön, schafft er es so, uns für die Bücher wahrhaft zu begeistern, ohne dass wir schon eine konkrete Vorstellung von dem Inhalt haben. Er schreibt (in den besten Rezensionen) sozusagen seine eigene subjektive Geschichte zu dem Buch, eine Meditation zu seinen Themen, was sowohl inspirierend als auch angenehm ist. Scharfsinn paart sich darin mit Weisheit.

-“Am Ausgang dieses Jahrhunderts, dessen Leidenschaft Wissensdurst war, steht riesengroße Melancholie. So heißt es denn, die griechische Frage von der Existenz her aufs neue zu stellen.”-

Ich würde jedem empfehlen dieses Büchlein zu lesen. Es ist wahrhaftig Seelenfutter, es ist ein kunstvolles und nachdenkliches Lesevergnügen. Und es finden sich viele wichtige Ideen und Botschaften darin, so diese hier, eine Abschlussbemerkung Kästners zum Buch von Gheorghiu (25 Uhr), einer scheinbar äußerst destruktiven Dystopie, eine Stelle, die mich Wort für Wort beeindruckt hat:

“Und hier möchte ich sagen: mir scheint dieser Pessimismus ziemlich flach. In der Reihe der Güter, die Europa verteidigen muss, pflegt man die persönliche Freiheit, den Felsen des römischen Rechts und das Gebot der Achtung vor jedem geborenen Leben zu nennen. Aber es gehört zu diesen Gütern die Hoffnung auch. Es gehört dazu der Glaube an eine mögliche Rettung. Das Wort Luthers: “und wenn ich wüsste, dass morgen Weltuntergang wäre, ich würde dennoch am heutigen Tage Apfelbäume pflanzen!” erscheint mir wie ein in den Himmel ragender Gipfel über Verzweiflungsstätten, in denen mit hunderttausend anderen Gheorghiu wohnt. […] Nie hat man ein Recht, in scheinbar verzweifelter Lage zu sagen: zu spät. Auch das gehört zur Achtung vor jedem Leben.”

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.

Franzens Essaysammlung “Anleitung zum Alleinsein”


“Das Buch muss dem Leser etwas geben, nicht der Leser dem Buch.”

Jonathan Franzen ist einer dieser Romanciers, bei denen ich mir schon immer gut vorstellen konnte, dass sie nicht nur gute Erfinder, sondern im Allgemeinen sehr intelligente Menschen sind. In den Texten aus “Anleitung zum Alleinsein” begegnet mir dann genau das: eine intelligente Stimme, mit ein klein wenig intellektueller Abgeklärtheit, aber auch einer differenziert-ambivalenten Menschlichkeit.

Egal ob ich die Einschätzungen teile, die Franzen in vielen seiner Essays doch sehr deutlich vertritt, oder nicht – wenn ein Schriftsteller glaubwürdig und einzigartig seine Argumente und Ideen präsentiert, dann muss man sich nicht zwischen Annahme und Ablehnung entscheiden, sondern man kann auch die Zwischenstufe der Anerkennung betreten, eigentlich die angenehmste von allen dreien.

In diesen Essays, entstanden in den 5 Jahren vor der Wahl George W. Bushs zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, hat Franzen viele unterschiedliche Aspekte Amerikas, seiner Kultur, seines Werdegangs und seiner (möglichen) Zukunft offen gelegt und behandelt. Einige von ihnen kann man als philosophisch-globale lesen, andere verraten gerade dem Nichtamerikaner einiges über die Systemprobleme und -eigenheiten der amerikanischen Gesellschaft; auf jeden Fall bekommt man einen kleinen Ausblick darauf, was es heißt, Amerikaner in den Gefilden nahe New York und Chicago zu sein – ohne das explizit darüber geredet wird.

Franzen ist ein eindrucksvoller und trotzdem angenehmer Essayist. Er ist ehrlich und menschlich und doch erblickt man deutlich den Schriftsteller, den subtilen Former und gekonnten Erzähler. Egal ob er über so persönliche Themen wie seinen Vater schreibt oder eine Haftanstalt in Colorado: er schafft es fast immer die richtige Distanz oder Nähe zum Objekt einzunehmen, mal ist er uns als Person gegenwärtig, dann erleben wir seinen Text als Reportage, hinter der er immer wieder durchscheint, wenn er es für angemessen hält. Und ich glaube, dass ist die große Stärke all dieser Schriften: dass sie weder persönlich, noch rein sachlich sind, sondern stets eine menschliche Schweben zwischen Schreiben und Berichten, Leben und Reportage halten.

Kleine Übersicht über den Inhalt
Das Gehirn meines Vaters (Über die Alzheimererkrankung von Franzens Vater)
Riesenschlafzimmer (großartiger Essay über die problematische Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatem)
Wozu der Aufwand? (Der berühmte “Harper’s Essay. Halb biographische, halb essayistische Analyse über Romane und Romanautoren)
Auf dem Postweg verloren (Essay über die desaströsen Zustände bei der New-Yorker Post – interessanter als man denkt)
Erika Imports (kleine autobiographische Skizze)
Aschelese (Über die Zigarette und das Rauchen)
Der Leser im Exil (über Cyberspace und moderne Unterhaltungskultur)
Die erste Stadt (interessanter, kleiner Essay über die historische Entwicklung von Amerikas Städten)
Verwertet (halb persönliches Bekenntnis, halb Betrachtung der modernen Konsumgesellschaft)
Kontrolleinheiten (über das ADX Florence, ein Hochsicherheitsgefängnis für die “schlimmsten der Schlimmsten”)
Mr. Schwierig (sehr interessanter Text über die schwierige Beziehung zwischen Kunst und Betrachter am Beispiel von William Gaddis und seinen Romanen, insbesondere dem Roman The Recognitions)
Im Bett mit Büchern (über Sex-Ratgeber und deren zweifelhafte Transparenzvorstellungen)
Bis dann in St.Louis (sehr persönlicher Text; es geht um Filmaufnahmen für eine Sendung, gemacht in der Stadt, wo Franzen seine Kindheit verlebte)
Tag der Amtseinführung 2001 (Kleine Anekdoten über einen Protestausflug, anlässlich der Wahl von George W. Bush zum Präsidenten)

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*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.

Spirituelle Erlebnisreise: “Das Heilige und das Profane” von Mircae Eliade


“Es ist das höchste Ziel des Religionshistorikers, das verhalten des homo religiosus uns sein geistiges Universum zu begreifen und es anderen begreiflich zu machen. Das ist nicht immer leicht. Für die moderne Welt ist die Religion als Lebensform und Weltanschauung kaum zu trennen vom Christentum. Ein westlicher Intellektueller hat im besten Falle die Möglichkeit, sich mit einer gewissen Anstrengung mit der religiösen Schau des klassischen Altertums oder auch bestimmten großen, östlichen Religionen wie Hinduismus oder Konfuzianismus, vertraut zu machen. […] Diese Mythologien sind schon zu sehr geprägt durch die lange Arbeit der Gelehrten […] Doch für den Religionshistoriker, der alle existentiellen Situationen des homo religosus verstehen und verständlich machen will, ist das Problem noch komplexer. Eine ganze Welt noch liegt vor den Ackerbaukulturen, die wirklich primitive Welt […] der Völker auf der Stufe des Sammelns und Jagens.” (Aus dem Vorwort)

Mit seinem Buch “Das Heilige und das Profane” hat Mircea Eliade sich auf ein Themengebiet begeben, dass weitab der heutigen menschlichen Vorstellung liegt; es nicht einmal in Medien oder Filmen oder Romanen besonders präsent. Zwar stößt man ab und zu (in Büchern über die ersten Weißen in Südamerika und in zahllosen Filmen mit Ureinwohnern oder Erzählungen von ihren Göttern und Schamanen etc.) auf eine minimale Dosis archaischer Religionskultur und -mythen, jedoch ist das ehemals globale, elementare Feld dieser spirituellen Lebensart und ihrer Lebens- bzw. Weltenmythen, bis heute, 54 Jahre nach Eliades Buch, immer noch relativ unbekannt.

“Der religiöse Mensch kann nur in einer geheiligten Welt leben, weil nur eine solche Welt am Sein teilhat und somit wirklich existiert.”

In diesem Buch geht es nicht um die monotheistischen und auch nicht um die in Asien etablierten Religionen, sondern um spirituelle Vorstellungen und Beispiele aus Zivilisationen, die vor der Zeit des Ackerbaus lebten. Es wirft ein differenziertes Bild des Spirituellen in diesen Gesellschaften auf und versucht im Ganzen die ehemalige Tragweite, die das mystische Erleben und die spirituellen Rituale in unserer Welt, in unserem Dasein, hatten, zu verdeutlichen.

Nahezu alle frühen Völker glaubten an eine von Gott geschaffene Welt, in der jeder profane Gegenstand und jeder Teil des Lebens, von der Geburt bis zum Tod, ein Symbol der Transzendenz darstellte (Eliade schreibt hierzu : “Und das Symbol spielt eine wichtige Rolle im religiösen Leben der Menschheit; durch die Symbole wird die Welt transparent, fähig Transzendenz zu zeigen”). Das heißt, dass jede Sache, die man tut und der ganze Kosmos um einen herum, nach einer bestimmten göttlichen Ausrichtung geordnet ist. Und nur in diesem Rahmen zu leben, bedeutet demnach wahrhaft zu sein.

“Das Verlangen des religiösen Menschen, ein Leben im Heiligen zu führen, ist das Verlangen, in der objektiven Realität zu leben, nicht in der endlosen Relativität subjektiver Erlebnisse gefangen zu bleiben, in einer wirklichen und wirkungskräftigen – und nicht in einer illusorischen – Welt zu stehen. (das Heilige offenbart die absolute Realität und ermöglicht dadurch eine Orientierung […])”

Dieses Verlangen, ebenso wie der nach göttlicher Ausrichtung fixierte Rahmen, sind immer noch Teil religiöser Ideale, allerdings weniger Teil der religiösen Wirklichkeit. Und gerade dieser Unterschied ist das Interessante zwischen diesen ersten archaischen Welt und der Moderne; ein Unterschied, der nicht allein mit der Religion, sondern mit der Lebenswirklichkeit zu tun hat, was Eliade sehr gut aufzeigt.

Das Buch enthält viele Beispiele aus zahlreichen Erdteilen und Kulturen, mit zahlreichen einzigartigen Facetten und Herangehensweisen; auch auf die Vielfalt der Symbole wird eingegangen: so gibt nicht nur heilige Räume, sondern auch eine heilige, immer wiederkehrende Zeit, bestimmten Riten, um sich von Zuständen zu lösen, Übergänge und Mythen von Tod und Neugeburt.

Wie gesagt: Was sich erstmal anhört wie eine bekannte, spirituell inspirierter Lebensart, ist auf einer bestimmten Ebene für uns heute fast unzugänglich; am Besten sieht man es im Vergleich:

“Für den unreligiösen Menschen sind alle vitalen Erlebnisse – Sexualität, Ernährung, Arbeit uns Spiel – desakralisiert. Das bedeutet vor allem, dass es allen diesen physiologischen Akten an einer geistigen Bedeutung und damit an der wahrhaft menschlichen Dimension fehlt.”

Der Autor beantwortet nicht die Frage, ob der desakralisierende Prozess Übel oder Unausweichlich ist; dies sei, so sagt er, auch vielmehr die Frage der Philosophie und der Psychologie. Doch weißt er uns mit dem Fingerzeig auf die vorzeitlichen Kulturen und Religionen, unbewusst auch einen Weg zu einem zweigeteilten Verständnis der Welt.
Denn obgleich der religiöse Mensch sich sozusagen bindet, um in einem geheiligen Rahmen für sein Leben Erfüllung zu finde, indem er alle Ausrichtungen seines Handelns so nah als möglich ans Göttliche verlegt, so ist doch auch der profane Mensch im Profanen auf der Suche nach einem Rahmen – aus Wissen, Macht oder Besitz – welches gleichsam heilig sein soll; weil es eine unterschwellige Verbindung zur Transzendenz (Unsterblichkeit, Ruhm, Glück, Wissen um die Metaphysik) verbricht.

Sich vorzustellen, dass alles Lebendige auf Erden ein Symbol ist, ist keinem Menschen völlig unverständlich. Auch die kultische Begehung von Sexualität (die Liebe ist eine Art Ritus, die Transzendenz errichtet) und Festlichkeiten, sind niemals ganz verschwunden. Die Sehnsucht ist geblieben und sucht zwar alle Götter zu vernichten, doch es bleibt die Frage nach dem Gott in sich und in allem, in der Welt.

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Ein menschlicher Aufruf, eine Lehrstunde in Humanität: Albert Camus’ “Weder Opfer noch Henker”


“Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.”
Aus: -Licht und Schatten-

1952 trennten sich die unter dem Banner des französischen Existenzialismus lose verbundenen Schriftsteller und Philosophen Albert Camus und Jean-Paul Sartre im Streit. Es ging um Camus Buch Der Mensch in der Revolte und dessen zentrale Aussage, mit der Sartre und auch andere intellektuelle Linke in Frankreich sich nicht abfinden konnten: das Beharren auf dem Individuum und die Nivellierung der Geschichte und des Kampfs der Systeme zugunsten einer Utopie der Einigkeit und Gerechtigkeit; Revolution nicht im Großen, Ganzen, sondern in jedem einzelnen Menschen.
Überholte Theorie, der man eine brachialere, sozialistisch-kritisch-politische und globale Praxis gegenüberstellen musste, so war die Meinung des Kreises um Sartre.

Schon 1946 erschien der Essay “Weder Opfer noch Henker” in der Zeitschrift Combat. Es ist die erste Ausformung des Gedankens, den Camus 6 Jahre später in seinem großen Essayband vollenden würde.

“Weder Opfer noch Henker” ist nun also beinahe 70 Jahre alt. Ein politisch-philosophischer Essay kann solche Entfernungen der Zeit nicht ohne Abstriche überstehen. So hat sich die damals höchst aktuelle Bedrohung und Furcht vor einem West-Ost Konflikt gewandelt – andere Probleme, die nicht unbedingt mit diesem vergleichbar sind, traten an seine Stelle.
Warum also noch diesen Essay lesen?

“Ja, was man heute bekämpfen muss, ist die Angst und das Schweigen und damit die Entzweiung der Gemüter und der Herzen, die sie zur Folge haben. Was man verteidigen muss, ist der Dialog und die weltweite Kommunikation zwischen den Menschen. Abhängigkeit, Ungerechtigkeit und Lüge sind die Geißeln, welche diese Kommunikation unterbrechen und diesen Dialog verstummen lassen. Deshalb müssen wir sie ablehnen. Aber diese Geißeln bilden heute den eigentlichen Gegenstand der Geschichte, und mithin betrachten viele Menschen sie als notwendiges Übel. Es stimmt zudem, dass wir der Geschichte nicht entkommen können, da wir bis zum Hals darin stecken. Aber man kann danach streben, in der Geschichte zu kämpfen, um jene Seite des Menschen zu bewahren, die ihr nicht angehört.”

Nach wie vor stehen wir vor den Problemen, die Camus in diesem kurzen Zitat aufgreift. Ja, man muss sogar sagen, dass sie noch viel brisanter geworden sind, weil sie sich seit der Zeit von Camus erster Warnung wirklich in unserem Denken, den politischen Realitäten und gesellschaftlichen Systemen festgesetzt haben und verinnerlicht wurden. Dass dies ein Missstand ist, wird wohl niemand bezweifeln und doch laufen wir alle weiter mit und glauben, es müsse sich etwas Großes oder Ganzes ändern, bevor wir uns ändern – das System müsste anders sein, bevor wir anders werden können, dabei ist es eben, wie Camus in seinem späteren Werk ausführt, genau umgekehrt.

Wer das Zitat oben gelesen hat, kann sich selbst überlegen, ob dieser Essay heute noch lesenswert ist, oder nicht. Ich für meinen Teil denke, dass es ein unglaublich wichtiges Buch ist. Der Teil in uns, der meint, dass die Geschichte ein notwendiges Übel ist, dem wir uns alle unterwerfen müssen, ist in den letzten Jahren voranmarschiert – das Schweigen hat an einigen Stellen aufgehört und hat sich (dadurch) an anderen Stellen vertieft.

Albert Camus war jemand, den man fast schon als grenzenlosen Humanisten beschreiben könnte – doch eher passt André Gide’s Ausdruck: Er war ein menschlicher Humanist. Und sein Mut und sein Engagement, sein Wille die Lage der Menschen zu verbessern und für eine Welt zu kämpfen, in der es keinen legitimen Mord gibt und sich Freiheit und Gerechtigkeit die Waage halten, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Gewiss, wir reden hier von Utopien, von Idealen. Aber sind nicht gerade diese beiden Ideen, trotz ihrer Wirkungslosigkeit im Angriff und in der Expansion, immer noch die besten Verteidigungsmittel, die ein einzelner Mensch gegen Welt und Übel haben kann, der Gedanken, auf dem sich alle Gute letztendlich aufgebaut hat?

Und wenn es eine Utopie ist… – “ich war immer der Ansicht, wenn ein Mensch, der auf menschliche Verhältnisse hofft, ein Verrückter sei, so sei jener, der an den Ereignissen verzweifle oder sie dulde, ein Feigling. Und von nun an wird es nur noch den Stolz geben, unbeirrbar jene großartige Wette mitzumachen, die schließlich darüber entscheiden wird, ob Worte stärker sind als Kugeln.”

 

 

Liste der in den Literaturzeitschriften besprochenen Autor*innen


 

“Die amerikanische Nacht” – der Roman des Jahres


Die meisten Romane beginnen schlicht und behutsam, wie ein neuer Tag oder ein Regenschauer; unspektakulär breiten sie ihr Umfeld aus und führen in die Figuren und Ebenen der Handlung ein. Doch schon der Anfang, der Prolog, von Marisha Pessls “Die amerikanische Nacht” ist wie die erste Einstellung eines mit Sog angereicherten Films – ein stummer, tiefer Paukenschlag – eine Reise quer durch Worte, Schatten und Nacht: Jemand spricht aus dem Off zu uns, eine Stimme, die uns etwas mitteilen will und uns direkt in ihren Bann zieht.

“Was auch immer Sie von Cordoba halten, egal wie besessen Sie von seinem Werk sind oder wie gleichgültig es Ihnen ist – man muss sich gegen ihn zur Wehr setzen. Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt.”

Darin: der erste Funken des Themas: Cordoba, die vielleicht gewagteste und gelungenste Erfindung diese Romanjahres, perfekt zwischen Fiktion und Realität angesiedelt, in Szene gesetzt durch ins Buch eingefügte Artikel, Blogeinträge, Anekdoten – und den Sog der Geschichte selbst. Eine Geschichte über Gewalt, Fiktionen, Lügen, Hexerei und Teufel, Wahn und Kunst; eine Geschichte auf der Suche, der Spur nach der Wahrheit und im Bann einer hypnotischen Idee von Leben als einem wandelbaren Blick auf die Wirklichkeit…

Konkret geht es in dem Buch um einen Selbstmord, der einen Journalisten dazu bringt, sich wieder mit dem Thema zu beschäftigen, dass ihn einst eine Viertelmillionen Dollar, seine Reputation und sein Ansehen kostet: Cordoba, zu dem er einst einen anonymen Tipp bekam, bevor der Tippgeber sich dann plötzlich in Luft auflöste. Zusammen mit zwei Zufallsbekanntschaften begibt er sich nun erneut auf die Suche nach dem Greifbaren im Phänomen Cordoba, dem Kult um ihn und all den Hinweisen, die darauf zu deuten scheinen, dass seine Kunst vielleicht eine schreckliche, bizarre Wurzel in seinem Leben hat und in seiner Umgebung unheimliche und übernatürliche Ereignisse geschehen…

Wer ist Cordoba? Ein Regisseur der Nacht und der menschlichen Abgründe, ein zurückgezogen lebendes Genie, das in seinem Werk über die Dunkelheit in uns allen meditiert; über diese Spule der Finsternis, die in uns abläuft und -läuft, die in uns ist, wie eine mit unheimlichen Melodien gefüllte CD in einem lange vergessenen Discman, den man sich eines Tages aufsetzt und von der Musik wie von einer berauschenden Erhebung, einem Schwimmen in traumtiefen Gewässern getroffen wird. Und bei der man sich fragt, ob sie eine reale Macht hat, auch, wenn man die Kopfhörer wieder abnimmt. (Wie) Verändert alles, was wir erleben, unser (Er)Leben?

“Denn jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das, nachdem wir trachten, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnte, würde uns das befreien?. Nein. Denn das wirklich ausbruchsichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.”

So weit zum düsteren Umhang und Inhalt dieses Romans, der geschickt subtile Spannung mit Ästhetik, vielen Ideen und einem ständigen Neubewerten der Perspektiven verbindet. Es ist eine Geschichte wie ein Abenteuer und doch ist auch eine lange, sich herauskristallisierende Botschaft über die Realität der Träume und die Träume der Realität, und das, was dahinter ist, wartet, unerreichbar, weil die Träume der Weg dahin, dieses Ding aber nicht das Ziel ist.

Ich habe mich, nach einer atemberaubenden Lektüre der 790 Seiten, schwer damit getan, das Buch aus den Händen zu legen. Das liegt zum einen an der wirklichen brillanten Erfindung, die Pessl ins Zentrum ihres Romans gestellt hat: dieses Symbol eines Künstler, in dessen Widerschein all die Fragen nach authentischer und vollendeter Kunst, in Verknüpfung mit Leben, Ethik und Wirklichkeitssinn, mit Sein und Darstellung, zu Tage treten und in der sich die allgemeine Verzerrung des Wirklichen durch Fiktion, Internet, Meinungen und Mythos so anschaulich zeigt, wie es nur selten umfassend gelingt, wenn man es nicht durch das vielschichtige Erleben einer gut erzählten Geschichte aufbereitet.

Wirklich gut erzählt, denn Marisha Pessl ist zugleich eine wunderbare Stilistin, die Spannung, Ruhe und Nähe, aber auch ein Aufleuchten vollendeter Bildschönheit im Vergleich, erreichen kann. Eine kleine Kostprobe:

“Der Morgen schien den Himmel müde mit einem Schwamm abzuwaschen, er tauchte die Straßenschilder und Frontscheiben in ein trübes Badewasserlicht, während der Rhythmus des Highways unter den Reifen pochte.”

Immer wieder hat sie einen impressionistischen Blick für die Umgebung, die Stimmung, und man fühlt sich im ganzen Buch jederzeit wie in einer gelungenen Kulisse, in der nie zu wenige und nie zu viele Details anwesend sind, in der die Lesevorstellung eine Anregung, einen Rahmen, aber keinen Käfig hat; manchmal erzählt sie ganz unverfänglich dahin – und dann ist es wieder so, als würde das Buch plötzlich unserem Herzschlag lauschen und ihn Stück für Stück mit neuen Impulsen füttern. Man würde nicht von einem hochgestochenen oder kunstvollen Werk reden, aber von einem sehr sprachbewussten Roman, der in jeder Szene genau weiß, was er will und was er kann, was er sagt und was besser ausdeutbar bleibt; wo also wir selbst entscheiden müssen welches Erleben der Augenblick in uns nachvollzieht.
Pessl hat ihren Roman und auch ihre Hauptfiguren etwas zwischen die Stühle gestellt. Bolano, Auster, Kafka – ein paar Namen fallen einem am Rande als Verwandtschaft zu diesem und jenem Augenblick, dieser oder jener Struktur ein, wenn man ihr Buch durchwandert. In seiner Konsequenz und seinen vielen Ebenen ist das Buch jedoch eine sehr eigenständige Schöpfung, auf gewisse Weise einfach und doch sehr innovativ in der Wirkung. Das Gespinst aus Figuren, Ansichten und Entdeckungen, hat dabei immer etwas von einer Balance aus Schein und Suggestion, in welchem sich sehr selten ein Moment ergibt, den man ganz real nennen kann, was wohl auch daran liegen mag, das der Roman aus einer Ich-Erzähler-Perspektive erzählt wird und alle anderen, auch die beiden anderen Hauptfiguren, nie ganz die Fülle eines durchschaubaren Charakters erreichen. Über das ganze Buch ist diese Stimmung der Nacht und ihrer fließenden Grenzen gelegt, als hätten wir den eindringlichen, somatischen Prolog, mit seinem fesselnden Eindruck, nie verlassen.

Bei all dem ist das Buch keine letzte Konsequenz, auch wenn man es atemlos liest und für die paar Stunden, in denen man dieses Buch liest, existiert auch wenig anderes. Aber es ist mehr wie ein guter, düstrer, eindringlicher Film, als ein Roman, der vorhat, sich am Ende selbst zu erfassen. Er bleibt ein ausdeutbares Spiel mit vielen, vielen Möglichkeiten – und es ist dieses Spiel der Möglichkeiten, das ihn so großartig macht und ihn uns immer wieder neu betrachten, einschätzen lässt. Man ist gefangen in der Lektüre (beinahe im wahrsten Sinne des Wortes) wie einem Labyrinth – doch es geht nicht darum, den Ausgang zu finden, sondern zu erkennen, das manche Phänomene, vielleicht sogar das Leben selbst, eben ein Labyrinth sind.

Das Leben hält uns immer wieder einen ganz anderen Herzschlag hin. Wir gehen durch Zeiten, Stimmungen und Tage und wir verändern uns und die Welt verändert sich. Immer wieder können wir Erfahrungen machen, außergewöhnliche Erfahrungen. Zu diesen gehört Marisha Pessl Roman “Die amerikanische Nacht”. Für mich ist es das Buch des Jahres.

Link zum Buch

*Diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.