Monthly Archives: November 2013

Zu Tzveta Sofronievas Band in der Edition Hanser: “Landschaften, Ufer”


“Im Meer bei Ithaka, in der Kühle der Wellen,
wo das durchsichtige Wasser jedes Geheimnis offenbart,
wie Blätterteig gefaltete, krustige Felsen,
eine Bibliothek von Epen,
ich esse sie mit den Augen.”

Gedichte (mit Ausnahme von Prosagedichten) sind erst einmal schlicht Texte, die mit abgestimmten und nicht von der Seite vorgegebenen Umbrüchen versehen sind – der Gegensatz zum Fließtext – um eine besondere Dynamik der Betonung und Erfahrung im Lesererlebnis zu ermöglichen. Jede Zeile trägt so genau das Gewicht, welches ihr zugedacht wurde; die Wirkung des ganzen Gedichts bezieht sich zum Teil aus der Art, wie man diese einzelnen Teile aufeinander abstimmt, wie sehr man die Botschaft aufsplittert und wie sehr sie dennoch mit jedem neuen Schritt zusammenwächst. Daraus resultierend ergibt sich erst die Magie und Schönheit von Lyrik; eine Art von unerschöpflicher Mitteilungskraft, mit Epiphanien der Sprache und Annäherungen an die bloßgelegten Stellen unserer Empfindungen.

Gedichte dagegen zu einem Spiel zu machen, einem Spiel aus Sinn und Eigenvorstellungen, Mythos und Systemen, ist eine heikle Sache. Nicht, weil sie künstlerisch nicht wertvoll ist. Sondern weil es die Lyrik in ihrem Erfahrungsraum einschränkt. Sie wird auf eine eher definierte Sprache und auf die Vorstellung ihrer/s Autors/in zurückgeworfen. Sie ist Ausdruck einer einzelnen Ansicht und nicht ein Hinüberlangen zum anderen, keine Suche nach der Gemeinsamkeit, sondern eine Enklave der persönlichen Ideen.

“Der Schnee läuft mir entgegen, stellt Fragen,
begegnet meinem Schweigen.
Der Atem des Schnees ist flüssiger Ich-Stoff
im Labor des Winters.
Die Kälte erwartet mich: Stich-Stoff
durchdringt Haut und Augen.”

Natürlich sollte man diesen Gedichtband nicht über diesen einen Kamm scheren. Schon das Zitat über diesem Abschnitt zeigt, dass Tzveta Sofronieva, geboren in Sofia in Bulgarien, wohnhaft in Berlin (sie schrieb diese Gedichte alle auf Deutsch oder hat sie zumindest selbst übertragen), eine allgemeine Idee sprachlich erschließen kann uns sie auch bildhaft-sinnlich zu verdichten weiß. Die Gefühle sind noch erkenntlich: das Wandern durch den starken, geradezu endlosen Schneefall; die Kälte, das Ich, zusammen, fest untern den Klamotten, mit festem Kern – und doch werden darin auch neue Ideen des Erlebnisses geschildert – oder besser: angewandt; das Gefühl hat sich in der Sprache gehalten und erweitert sich nun von diesem Punkt aus.

Es wäre also falsch zu behaupten, es gäbe diese Momente nicht. Ebenso wie ein paar persönliche Gedichte, welche mit einer einfach geführten Beschwingtheit – fast möchte man sagen Heiterkeit, wäre nicht alles leicht aus dem Licht gewandt und etwas undurchsichtig – daherkommen und ein paar individuell gelungene Momentaufnahmen, Ideen und Bilder enthalten, die letztlich den Band stellenweise zu einer gelungenen und erstaunlichen Erfahrung machen.

“Keiner weiß heute genau, wer wer ist
und ob SMS oder SOS notwendig sind.”

Auf der anderen Seite sind da auch noch die anderen Dichtungen: fast episch, mythologisch, tautologisch und gespickt mit vereinzelten Zitaten, die von altgriesch. Originalstellen bis zu Zeilen von Billy Joel (das es dabei kein Zitatverzeichnis gibt, hat mich sehr geärgert) eine große Bandbreite enthalten.

Diese Gedichte erscheinen wie riesige Parabeln – oft sind sie in Zyklen angeordnet und spielen mit Motiven aus der griech. Mythologie, aber auch mit Thematiken von Hemingway, Joseph Brodsky und Rilke. Wiederum sind diese Texte auch nicht direkt hermetisch oder Nonsens – sie entziehen sich lediglich meinem (vielleicht zu geringen) Verständnishorizont und wirken wie eine Neuerschaffung sprachlicher Perspektiven.

Es ist natürlich eine interessante Frage: Muss man Gedichte verstehen? Gedichte, diese ichstärkste Form der Literatur – hat sie auf diesem Gebiet Narrenfreiheit? Muss es vielleicht sogar eine Literaturgattung geben, in welcher das Eigene schlicht den Vorzug vor der passabelsten Wirkung hat, vor allen Zipfeln und Bannern an Verständnis?
Oder müssen Dichter auch komplex und abgewandt dichten, um gedruckt zu werden, um als neu zu gelten und fleißig interpretiert zu werden? Ist es letztlich nur eine Blende, in der Angst vor zu großer Konkurrenz bei zu leicht sichtbarer Intention? Ja… was ist überhaupt mit der Intention in solchen Dichtungen?
Diese Fragen habe ich mir wieder mal gestellt. Ich will nicht so vermessen sein, sie beantworten zu wollen, noch diesen Gedichtband hier zum Thema eines Widerstreits zu machen – ich räume auch ein, dass ich mich nicht mehr als ein paar Stunden mit ihm beschäftigt habe.
Aber ich frage mich doch, inwieweit persönliche Mythologie und weltliche Erschließung zusammenarbeiten können: bei Dichtern wie Nico Bleutge und Silke Scheuermann gelingt es ja schon irgendwie.

Man hat am Ende das Gefühl: die Autorin hat einmal alles durchprobiert. Ist ja auch gut so: “Wer nur das tut, was er kann, wird ewig nur das eine können”, hat Denis Diderot einst gesagt. Und Dichtung lebt von Vielfalt, von neuen Ideen und Herangehensweisen, von allem, was man selbst am Gedicht, und vor allem an der Form, leisten kann. Das Gefährliche bei einer solchen Breite ist lediglich, dass das Ganze nur als Abglanz auftritt – das überhaupt wenig zurück bleibt.

Höchstwahrscheinlich ist dies ein Band, in den man sich lange vertiefen muss. Eine zentrale Kombinatorik ist manchen Gedichten eigen, nur wenige sind wirklich missglückt. Wer sich gerne einfach ein paar Gedichte durchlesen will, dem würde ich abraten, aber wert tut das heute schon noch. Wer sich mit Dichtung beschäftigen will, wem sie Erfahrung und intellektuelle Herausforderung sind und wer darin auch neue Form der Vermittlung finden will, dem kann man jedoch kaum ein besseres Werk als dieses an Herz legen. Wie immer ist dies meine Sicht, die sich auch aufgrund meiner bisherigen Lektüre-Erfahrungen, auf eine spezielle Art verlagert haben könnte. Also möchte ich schließen mit ein paar Versen, die wirklich universell wunderbar sind und mein Urteil wieder ganz nichtig machen könnten:

“Im Fenster vorn rechts in meinem Abteil
spiegelt sich das linke hintere Bild.
Ich sehe im Kommenden das Entrinnende
völlig überlagert, und es ist als ob das Licht
dieses Spiel mag, unabhängig davon, wo
die Sonne steht und wohin der Zug reist.”

“Sommer vor den Mauern” von Nora Bossong


“Die Vögel in den Bäumen ich nenne sie Krähen
jemand sagt Drosseln sagt Spatzen unfassbar
wie weit man bisweilen mit Worten reicht.”

2012 ging der begehrte Peter-Huchel-Preis für Lyrik an die deutsche Dichterin Nora Bossong für ihren Gedichtband “Sommer vor den Mauern”. Dass der Band, als zweiter Gedichtband der Autorin, bereits in der Hanser Lyrik Edition erschien, war schon etwas Besonderes – der Preis, könnte man sagen, zeichnete ihn nun endgültig aus.
Der argentinischen Dichter und Essayist Jorge Luis Borges sagte einmal: “Die Europäer meinen, dass ein Buch, das einen Preis bekommen hat, gut sein muss. Der Argentinier gibt zu, dass es, trotz des Preises, nicht unbedingt schlecht sein muss.” Ein Zitat, dass auch die Europäer bedenken sollten.

Zu Anfang der Lektüre erscheinen die Gedichte Bossongs überraschend unscheinbar. Natürlich geht es nicht darum, immer sprachliches Konfetti zu werfen, sondern es tatsächlich lieber genau im richtigen Moment zu tun. Trotzdem: die Art, die Richtung, in welche sich die Texte formal bewegen, hat etwas Unverstelltes und ihre leicht gedämmte Filigranarbeit ist nicht das Problem. Nur geraten leider viele Gedichte (vor allem die in den ersten zwei Abschnitten) dank unscharfer Relationen und sprachlicher Bodenturnübungen, allzu leicht zu reinen Beobachtungscocktails – auch wenn sie noch so hehren Themen gewidmet sind. Möglicherweise hat diese Art der Darstellung eine Bezugstiefe, die mir entgangen ist und ich will nicht endgültig urteilen, aber die Wirkung bleibt bescheiden.

“Wache ich auf in diesem
Botanikerlicht, die Bilder
wachsen dichter um mich.
Ich habe mich ihnen ausgesetzt,
nur wer erklärt mir, wie was
und woran zu bestimmen ist?”

Wenig unwillkürliche Transparenz schafft Raum für tiefer gehende Ideen, für ein Geschehen unterhalb der funkelnden Hülle des Gedichts, ist aber auch keine Garantie für Tiefe.

Insgesamt kann man, sachlich, über den Gedichtband sagen, dass er sehr thematisch ausgelegt ist. Die Kapitel (Acht an der Zahl) reihen bestimmte Gruppen von Gedichten, die z.B. alle in Amerika entstanden sind. Ein Abschnitt, den ich für den gelungensten halte, beschäftigt sich mit den jüngsten 10 Päpsten (den amtierenden natürlich ausgeschlossen); in lyrischen Situationsaufnahmen, angefüllt mit historischen Einzelheiten und Eigenwilligkeiten der 10 Pontifexe, schafft Nora Bossang auf sehr elegante Weise eine Verknüpfung von Lebenswirklichkeit und -metaphorik, mit teilweise eigenwilligen Darstellungen. Diese Gedichte sind ehrlich, auch in ihren Bezügen (hinten im Band nachgewiesen) – und trotz der thematischen Grenzen ist die Freiheit in den Ausformungen und die sprachliche Auslegung so exakt und virtuos manifestiert, dass man wirklich eine Spur von Vollendung darin spürt.

“Auf einer Brücke stritten Kinder
um einen Schuhkarton, graue Pappe,
aus dessen Innerem ein Klirren drang,
als spielte die Dreieinigkeit mit ihren zarten Engeln
kegeln.”

Dagegen haben viele andere Gedichte diese, halbhaltlose, Suche in sich, zwischen Thema und Ausdruck. Auch dabei gelingen großartige Abbildungen, die innerlich eine nicht zu fassende Frequenz der Realität andeuten und bebildern und was durchscheint hat etwas ganz und gar Untransformiertes, Nahes. Aber zu oft scheint der reine Reiz der Texte in der Gedichtwerdung bestimmter Tatsachen, Orte oder Wesenheiten zu liegen und nicht in ihrem lyrischen Potential, das manchmal auch noch bewusst unterdrückt zu werden scheint, um die elitären Gewänder nicht zu verlieren. Dabei zeigt sich, wie ich finde, im Textausschnitt mit den Engeln, dass gerade eine kleine, kompromisslose Überwindung beeindruckend sein kann. Einfach, weil Gedichte auch etwas brauchen, was sie dimensional macht. Und da ist eigentlich nichts besser, als eine kleine sprachliche Erhöhung (die natürlich nicht plump einen Großteil oder das ganze Gedicht ausmachen sollte!)

“Beim Öffnen des Fensters
ein Windstoß aus Laub und vereister
Verkündigung, schnippe sie fort
aus diesem Gehege.[…]
Die Ewigkeit der Vororte.
Morgens wieder Sonnenaufgang, unwirklich,
einzustufen in die Kirchenfensterreihe,
rötliches Inkarnat. Wunsch, in die Höhe
zu fallen.”

Ich zweifle nicht an Nora Bossongs Talent und nach mehrmaligem Lesen ist mir natürlich auch der ein oder andere unbewusste Fehler meinerseits aufgefallen. Einige Gedichte sind einfach in sich selbst irgendwie bestechend, zum Beispiel das Gedicht über Mussolini und seine Geliebte, die von Partisanen tot an einer Tankstelle kopfüber zusammen aufgehängt wurden; es beschreibt diese Szenerie und unseren heutigen Blick darauf und endet dann mit dem furchtbar genialen Satz: “und wir, zwei dahergelaufene Zeugen,/ wissen wir denn, was Liebe war.”

Eine großartige, den Rahmen einer Erklärung sprengende, sprachliche Geste, unwillkürlich und genau zwischen allen Gesetzen der Ansicht, allein in der Wirklichkeit dieser Betrachtung liegend. Und es gibt natürlich noch mehr davon, vieles was Nora Bossong als große Lyrikerin auszeichnet. Und vielleicht ist letztlich jeder Vorbehalt ein Vorbehalt aus der Neigung heraus, kritisch zu sein, statt zu akzeptieren, dass man sich vielleicht die Idee jedes Gedichtes nicht ganz erschließen kann. So möchte ich denn am Ende sagen, dass ich Nora Bossong durchaus zutraue, dass in jedem ihrer Gedichte ein zu erfahrender Zusammenhang liegt. Und auch wenn ihre Betrachtungen allgemein etwas Verfremdetes haben, liegt gerade in dieser Verfremdung, wenn man aufpasst, ein ungeahnter Zusammenschluss verschiedener Formen von konzentrischer Wirklichkeit.

Zu den gesammelten Gedichten von Andreas Altmann: “Art der Betrachtung”, aus 20 Jahren


“um den sandsee schwimmen küstenspiegel.
die scherbenblätter wurzelloser bäume treiben
im steinfeld, das am ufer in den boden wächst.
der wind drängt leichtes licht durch ihre schatten.
festgeflogen hängen laute möwen in der luft.
die baumruinen zeichnen sich im himmel,
der das land berührt. an ihnen fließt die luft
in strömen.”

Wenn wir alte Wege entlanggehen, wenn uns irgendetwas erinnern lässt, wenn wir Geschichten aus unserer Kindheit oder von davor anhören, wenn wir Orte wieder sehen, meinen wir dort etwas verloren zu haben, können unseren Blick und unser Wesen nicht davon losreißen, weil wir meinen, auch etwas wieder finden zu können…

Die Gedichte des 1963 geborenen Dichters Andreas Altmann leben nicht selten in diesen Momenten, Sekunden, Nervenenden der Welt, wo sie sich von ihrer Verpflichtung den Raum mit der Zeit zu wandeln freizumachen scheint und ihre ganze Willkürlichkeit sich in etwas urzuständiges, klares verwandelt, das nicht mehr weiter wächst, sondern bloß älter wird, wie der Mensch.

“was bleiben wird, ist nie vergessen”

Gedichte mögen erfassen, aber sie können auch bei etwas verbleiben. Ihr Weg führt sie über Wörter und in die Dinge hinein, aber sie können den letzten Schritt auch lassen, wie auch mancher Ort das letzte uns vorenthält, wie auch eine Wahrheit uns das letzte letztendlich vorenthält. Wenn trotzdem die Schönheit und der Moment des Gedichtes nicht mehr zu leugnen sind, hat man sehr gute Gedichte vor sich. Andreas Altmann hat einige geschrieben.

“zeit ist ein verlassenes wort.
wir bewegen uns in ihr. sie schlägt uns
in bildern.”

Der Band ist nicht chronologisch, sondern thematisch sortiert. Es finden sich Gedichte aus 20 Jahren, die man unter den Überschriften: “Geschichten/ Dörfer/ Wege/ Schnee/ Liebe/ Räume/ Tod/ Bänder/ Grenzen und Spiegel” vorfindet. Unter den einzelnen Überschriften sind die versammelten Gedichte oft etwas ähnlich und möglicherweise wäre eine chronologische Abfolge doch besser gewesen. So ist es vielleicht zu empfehlen, das ganze wie ein Lesebuch querfeldein zu lesen.

“die nächtlichen worte des regens ziehen sich über
die straßen der vorstadt. und spiegeln ihr schweigen.”

Was Sprache eigentlich für die Dinge bedeutet, merkt man oft erst in Gedichten. Nicht nur, dass man sie damit erfassen kann – auch was sie zwischen einem selbst und den Dingen wirklich bedeutet, führt Andreas Altmann uns mit filigraner Geduld und Ruhe vor. Wo die Beziehungen der Dinge zu uns eine seltsam eindrückliche Note hat, setzt er an und führt uns noch tiefer hinein, manchmal bloß bis zur illuminierten Freiheit der Vorstellung, aber manchmal auch bis zu einem stillen, vergangenen Ort, in dem die Resonanzen des Lebens ihre Bedeutung und ihre Wirklichkeit erahnen können.

“im schnee erschienen die worte klarer,
als ließen sie farben in der stimme zurück […]
die augen
tränten im wind, konnten nur sehen, was sie blind machte”

Viele Wesenheiten – viel, was man durch Altmanns Verse erkennen, bewundern und erfahren kann. Gedichte sind es, die man nicht bloß einer schnellen Aufmerksamkeit unterziehen sollte – man muss schon ein-zwei Schritte in ihnen gehen. Doch es sind Wanderungen, die uns mehr betreffen als wir vielleicht anfangs und gegen Ende ahnen – wie bei so vielen Dingen, die das Leben beinhaltet.

“das meer schäumt an den spitzen. du hast ein herz
aus steinen in den sand gelegt, das in ihm schlägt”

Mir persönlich haben die Gedichte gut gefallen und die kleinen Tropfen ihrer Berührung haben großes Potential, wenn sie auf die innere Wasserfläche eines aufmerksamen Betrachters fallen. Ich hatte von Anfang an das Gefühl wenig mehr über sie sagen zu können und vielleicht habe ich auch nur Unwesentliches gesagt. Dann kann ich nur mit einem letzen Versuch schließen: Gedichte werden während des Lesens zu einer ewigen Geschichte zwischen dem Leser und dem Gefühl einer erweiternden Wirklichkeit, die sich auf ganz viele Spiegel und Bilder in den Weiten von Kunst und Welt verteilt, bis sie im einzelnen nur noch ein kleiner Moment ist. Die Geschichten die wir Andreas Altmann verdanken sind weder groß noch prachtvoll gerahmt – aber sie sind natürlich und in ihnen ist der Blick eines einzelnen, der es schafft etwas für einige andere zu vollbringen.

“fenster sortieren den wind
leere felder erröten am abend”

“ein zitternder
wind gleitet an jungen blättern ab”

Link zum Buch

Einzigartige Schatzinsel… kleine Erwähnung von Stevensons Roman


Es beginnt mit einer Geschichte. Alles beginnt mit einer Geschichte, ja, vielleicht begann das ganze Universum mit einer Geschichte und vielleicht haben wir uns deshalb einen Gott als Erzähler erdacht und vielleicht hat diese Erfindung schon allein deswegen ihre Berechtigung. Von allen Erfindungen der Menschheit ist die erzählte Geschichte wohl am erstaunlichsten –  zumindest ist es die einzige Erfindung, welche in sich Zeiten und Räume bergen kann, die sonst nicht existieren; und Geschehnisse, Möglichkeiten, unmögliche Wesen und erdachte Zukunft, etc, etc. Von dem einen kleinen Punkt ausgehend, der nur sagt, dass Geschichten möglich sind, hat der Mensch riesige Konstrukte und kleine Märchen, große Sammlungen und einzelne Visionen geschaffen. Und doch ist jede Geschichte wieder etwas Besonderes, Einzigartiges in sich.

Vielleicht wäre “Die Schatzinsel” eine der vielen erzählten Geschichten geblieben, die man sich ausdenkt, wenn man Kinder unterhalten und Spannung erzeugen will. Aber Robert Louis Stevenson war ein Schriftsteller und für ihn begann mit einer von ihm gemalten Karte und der daraus hervorgehenden Geschichte die Idee eines Romans, der, für Kinder und Jugendliche gleichermaßen geeignet, zu einem Sinnbild für Abenteuergeschichten, ambivalente Schurken und Helden und einen nie endenden Spannungsbogen werden sollte.

Was ist die Schatzinsel? Nur eine Geschichte oder tatsächlich ein Roman? Ist sie dazu geeignet, von Erwachsenen UND von Jugendlichen gelesen zu werden oder spricht sie doch mehr ein junges Publikum an?

Es ist schon oft betont worden, dass Jim Hawkins zu den Charakteren in der Weltliteratur gehört, mit denen man sich am einfachsten (wohlgemerkt nicht unbedingt am besten) identifizieren kann. Daher fühlen sich Kinder und Heranwachsende, die sich gerne in Identität eines Helden auf abenteuerlicher Reise hineinversetzen, um an besagter Spannung und Fiktion auch emotionalen Anteil zu haben, eher angesprochen als Erwachsene. Von der Struktur her ist die Schatzinsel aber tatsächlich für jede Altersklasse geeignet. Es gibt keine Liebesgeschichten, was das Buch erfrischen unproblematisch macht, dafür aber jede Menge Wendungen und Unklarheiten, die den Leser bei der Stange halten und das Schicksal jeder einzelnen vorgestellten Person zu etwas wichtigem machen. Es gibt kaum zentrale Schwerpunkte und die Erzählung richtet ihre Dynamik nach der jeweils vorherrschenden Lage, mal im Geschehen, dann wieder bloß beschreibend. Ohne sich je ganz festzulegen, bleibt nur eins immer präsent: die Nähe zur Erzählung selbst.

Warum die Schatzinsel lesen? Weil es eine gute Geschichte ist, rundherum. Und, wem das nicht genügt, den kann man vielleicht noch mit einer Andeutung dieses ganz bestimmten Gefühls umstimmen: diese Freude, einen Klassiker der Weltliteratur in der Hand zu halten und zu spüren, wie die Prosa einen führt. Wie eine der zentralsten Geschichten der Menschheit in einem selbst Gestalt annimmt, mit diesem und jenem Detail, und das auf so unaufdringliche und doch nachdrückliche Weise, dass man fast von Verzauberung sprechen möchte.

Ich würde nicht sagen, dass die Schatzinsel ein Meisterwerk ist. Aber man kann fast nichts anders, als ihrer Spannung, ihren Figuren und ihrer Art eine echte Sympathie entgegenzubringen. Sie nimmt sich Freiheiten und vermeidet hier und da stilistische Finessen und doch hat sie in ihrer Gänze ohne Schaden über 100 Jahre Literaturabenteuer überlebt, kein Werk hat ihr schmales Terrain angekratzt oder für überholt erklären können. Weiterhin kann man in ihr diese ganz eigene Art der klassischen Geschichte finden, wie man sie sich wehmütig als Kindheitserinnerung wünscht; als Erinnerung an Abende der Glückseligkeit inmitten einer abenteuerlichen Erzählung, deren Lebensgefühl so viel mit dem Glück am Leben zu sein, Geschichten zu hören, zu tun hatte…

“Vakante Glut” von André du Bouchet


“Die Luft, die sich der Fernen bemächtigt, lässt uns lebend hinter sich.”

“Der Berg
wie ein Spalt im Atem
der Leib des Gletschers.”

Französische Poeten der Moderne haben die Eigenart, elementare Dichter zu sein. Ihnen liegt selten das realistisch Imaginierte und noch seltener das thematisch Fixierte; vielmehr speist sich ihre ganze Kraft, das ganze Wesen ihrer Dichtung aus dem Element ihrer Sprache, aus einer Art Metakraft, die Worte und ihre Ideen in einem Raum mit unendlichen Reihen ausgräbt und auftürmt. Diese lange Tradition begann schon ansatzweise mit Rimbaud und gipfelte teilweise in ihm und etwas später, geradezu symbolisch, in Apollinaire und seinem schon sprichwörtlichen Gedichtband Alkohol; natürlich sind auch Namen wie Verlaine und Seghour auf eine gewisse Art dieser Kategorie zuzuordnen; jeder von ihnen hatte seinen eigenen Rahmen, in dem die Idee dieser Tradition fortgeführt wurde. Sie ist bis heute ungebrochen, Sprachkadenzen weiterhin sehr gebräuchlich. André du Bouchet, gefeierter Übersetzer der Werke Paul Celans ins Französische, ist auf seine Weise ein später Wahrer der Idee.

“Am Anfang der kalten und weißen Brust, in der mein
Satz sich unterbringt, über der Mauer, im wild-
wachsenden Licht.”

Obwohl der Gedichtband “Vakante Glut” in 7 Teile unterteilt ist und diese wiederum in viele Einzelgedichte, hat man nicht das Gefühl, dass das Gedicht, das auf der ersten Seite anfängt, jemals gänzlich aufhört. Eigentlich ist der ganze Band ein einziges, sich immer wieder auf sich zurückbesinnendes Gedicht. Es mag zwar manchmal, wie eine Flagge, in die eine oder die andere Richtung wehen, aber der Mast bleibt derselbe und wenn kein starker Wind weht, legt und lehnt sie sich wieder dagegen zurück, um wieder davon auszu(g/w)ehen.

“…der Lufthauch
der dem Feld entsteigt
das Licht
der Zügel.”

Mit wenigen zentralen Worten steht und fällt das Buch; der Rest ist Wind, Dekorationsmaterial. Auch sind die Lyrismen sehr großzügig gedruckt, die Sätze immer etwas zersplittert und über die Seite verteilt und manchmal nehmen sie gar nur den oberen Rand einer Seite ein. Da es auch noch ein zweisprachiger Band ist, also nur eine Seite jeweils Deutsch, hätte der Inhalt auch auf wesentlich weniger Seiten Platz gefunden; was mich nicht stört, da es für mich die Atmosphäre des Bandes unterstreicht.

Diese Atmosphäre ist eine Symbiose aus dem Weiß der Seite und dem Schwarz der Buchstaben, der Symbiose aus Feuer und Eiseskälte, aus Wind und einer festen Mauer, aus Luft am Tag und Atem in der Nacht. Diese Worte und Wendungen und noch einige andere Schlagworte wie Feld, Stein, Berg, Himmel, Glut, Straße sind die Variablen in denen du Bouchets Lyrik ihre Spiegel und Ausfahrten findet. Es liegt noch einiges dazwischen, aber es sind diese wiederkehrenden Wörter, die seine Dichtung ausmachen – und man hat irgendwie das Gefühl, als würde die ganze Dichtung nur dazu dienen, diesen paar Wörtern auf den Grund zu kommen.

“Wenn die Nacht einfällt, ist die unnütze Straße mit schwarzen Ländern bedeckt, die sich vermehren.”

Wie dieser Satz zeigt entbehren du Bouchets Seiten jedoch nicht ein paar großartiger Innovationen und Formulierungen. Das ganze, den Band umfassende Gedicht ist sicherlich ein großes poetisches Räderwerk, mit dem man sich lange beschäftigen kann, aber es sind einzelne, meist ganz am Rand liegende Räder diese Komplexes, fast unnütz für das große Ganze, die wirklich tief gehen und ein Bild entstehen lassen. Für diese paar einzelnen Zeilen lohnt es sich schon, den Band zu lesen.

“Da ist noch Karosserie des Schaums, der aufklirrt als entspränge er mit zerbrochnen Nägeln in der Erde verkanterten Baum, dieser Kopf, der auftaucht und sich in die Ordnung fügt, und die Stille, die uns fordert wie ein großes Feld.
Der Heuschober des anderen Sommers funkelt.”

Sehr schade und bedauerlich ist es, dass dem Werk keine einzige Anmerkung, auch keine Erläuterung des Übersetzers Celan oder überhaupt irgendeine Art von Beitext mitgegeben wurde – vielleicht aus dem nicht ganz falschen Gedanken heraus, dass man ein Werk dieses Stils am besten selber Stück für Stück entschlüsseln möchte, bis man den Stein wie einen Kloß im Hals und die Kälte wie ein Mark in den Knochen spüren kann. Aber, so ganz wortlos diesen Dichter und seinen Band hinzustellen und den Leser so zu entlassen – es bleibt das Gefühl einer viel zu oberflächlichen Beschäftigung. Denn was der letzte Satz des Bandes sagt, ist nur zu wahr und bestimmt den ganzen Band rückblickend; vielleicht muss man ihn deswegen einfach noch mal von vorne lesen und noch mal und noch mal:

“Nichts stillt den Durst meines Schrittes.”

Kurz zu Swen Friedels Gedichten in “Draußen ist die Sonne”


“Rauch wühlt sich in das Tageslicht,
durch Baumgeäst, Fassaden hinauf,
warf wabbernde Schatten in Fenster
auf Teppiche, Buchseiten, Betten, Teller,
verdunkelte mit stechendem Geruch
den Nachmittag dieser Nebenstraße,
ließ in Stille Unglück ahnen.”

Am Beginn von Swen Friedels Gedichten steht oft ein Moment, in dem die Zeit sich dehnt oder gar stehen bleibt. Egal ob es Portraits, Betrachtungen oder klein-sortierte Geschichten sind, fast immer beginnen sie mit einem Bild, das durch Gedanken, Eindrücke, verlangsamt wird. Eine andere Rezensentin hat dafür eine sehr gelungene, präzise Wendung gefunden und ihre Aussage, dass viele der Gedichte (auch vom Entstehen in der Vorstellung des Lesers her) Gemälden von Hopper ähneln, kann man nur unterschreiben.

Manche seiner Gedichte haben aber auch noch eine andere Dimension. Da wäre z.B. das Gedicht “Schwimmer am Morgen”, das mit einer geradezu übermetaphorischen Geste beginnt:

“Der abgeschnittene Fingernagel Mond
und die Sumpfdottersonne gegenüber
umschleichen den alten, alten Mann am See,
wie er der Sommerlast auf Zeit entschlüpft.”

und dann, im weiteren Verlauf, in eine geradezu empfindungsreiche Nähe abgleitet, die den Abstand zum Anfang gleichsam verdeutlicht und verschwinden lässt. Auch das sind Friedels Gedichte: Räume, die in sekundenschnelle die Distanzen verändern, die Dimensionen verstellen. Im Leben, das spürt man nur allzu oft, sind Distanzen oft schwer zu greifen – im Sein, im Raum, sind sie exakt festzulegen. Zwischen diesen beiden Vorstellungen bewegen sich Gedichte, als ein Ventil für beide Ideen – hier können sie zusammenkommen oder sich deutlich voneinander abheben. Und erzeugen Bilder und Bilderfolgen, welche die Tiefe einer Erinnerung und die Klarheit eines Augenblicks haben.

“sie legt ihre Hand an die Scheibe, behutsam,
als wäre das, was war, nur hinter Glas,
als wäre das, was war, noch nah.”

In ihrer sehr ruhigen und doch nicht selten kräftig-lyrischen Art, sind diese Texte gleichsam unkompliziert und stets mehr, als es zu Anfang den Anschein hat. Schlechte Gedichte haben immer einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht – gute Gedichte erreichen diesen Punkt niemals. Und in dem Sinne gleichen sie der Schönheit, aber auch der Wahrheit (oder: sollten ihr gleichen), wenn diese simple Feststellung erlaubt ist. Denn auch diese beiden, erreichen ihre wahre Größe niemals, auch wenn sie sie uns jedes Mal als Möglichkeit vor Augen führen.

Link zum Buch

Eine Film-Noir-Szenerie in den flüchtigen Scheinwerfern von Gedichten – Albert Ostermaiers “Polar”


“sie hat keine miene verzogen
die reglosigkeit ihrer leicht
geöffneten geschwungenen lippen
als müsste jedes wort seine flügel
zwischen ihnen ausbreiten und
warte nur auf einen hauch
aus ihren lungen”

Albert Ostermaier gehört zu den wichtigsten und produktivsten deutschen Dichtern. Dabei hebt er sich mit seinen meist großformatigen Bänden auf äußert sympathische Weise von vielem anderen ab und auch thematisch sind seine Verdichtungen und Schwerpunkte oft eine willkommene Abwechslung.
In diesem Band z.B.: geht es gezielt um das frz. Kino der 60er und frühen 70er Jahre; Alain Delon, Louis Malle, Jean-Paul Bellmondo und ihre Krimis, Thriller, die Geschichten von Aussteigern und Verlorenen in der Spät- und Hochzeit des Film Noir. Eine Filmart, für die die Franzosen das zugleich gefühlsintensive und gefühlskalte (also perfekt geeignete) Wort “polar” prägten.

“ein vages gelände brachland
der festgefahrene schnee
die zugefrorenen spuren
die multiplizierte einsamkeit
der hochhausetagen die kälte
des betons gegen die kältes des
windes”

Was machen diese sprödklaren Filme mit uns? Wenn Ostermaier über Alain Delon in Der eiskalte Engel schreibt “die/ glühbirne vergeudet sich an die/ kälte seiner augen”, was entsteht da in uns?… Es ist die Essenz des Film Noir, diese halbfiktive, durch die Lammelen der Jalousie hereinfallende, unter die Haut fahrende Nacht, gemischt mit Laternenlicht und kleinen Zigarettenglühpunkten, wie ohne Ton, aber mit Gefühl, in dem Nieseln und der schwarzen Asphaltregenschwärze.

Dieses Gefühl versucht Ostermaier in seinen fließenden Gedichten, ohne Punkt und Komma, einzufangen, zu inhalieren und uns den Geschmack und das Verlorene dieser Augenblicke wieder erleben zu lassen. Als Überschriften und Anstöße zu seinen 43 auf und ab schwankenden, wie ein Filmband über den Projektor ablaufenden Nachspürungen in Lyrikform, dienen 43 Filmtitel, in denen die Männer hart und kalt und die Frauen blass und noch stummer als ihre Blicke sind.

“die beiden männer wer sind sie
vielleicht in einem moment berühren
sie sich an ihren rändern und
das bild der nacht entwickelt sich
in ihrer dunkelkammer am ufer
des flusses vor dem ersten klaren
licht des morgens der es auslöschen
wird und in das leere album des tages
kleben mit einer träne auf dem
rücken des papiers”

“die
nacht ist eingebrochen in die
zuversicht der schwerelosen
stunden des nachmittags der
mond liegt wie eine mündung
auf die wand aus schwärze
gestützt die vögel schlafen in
ihren käfigen vor den fenstern
und verlieren unter ihren flügeln
die erinnerung an das fliegen”

Ostermaier ist ein beeindruckendes Experiment mit Sprache und Wahrnehmung geglückt. Es sind nur Momente, aber in diesen Momenten, wenn man 5-6 Zeilen lang durch das Geschehen fließt, wie ein Wassertropfen entlang des Eiszapfens, dann kann man nur von großer Dichtung sprechen, eine Dichtung, die ihrer Diktion gerecht wird und erreicht, was sie erreichen wollte. Man liest nicht nur vom Film Noir – man spürt die Idee des Film Noir, wie ein Gefühl von pladderndem Regen, fehlender Farbe in einem doch so ausdrucksstarken Bild.

“seine taschen sind leer
sein kopf voller bilder und drinks
ihre tränen wie eine laufmasche
im gesicht ihrer augen”

“dein bauchnabel ist das loch
in meinem herzen sonst liefe es
über ins leere und bliebe dort stehn
wie ein träumer den sein traum
vergessen hat”

“was
willst du glückliche liebe gibt
es nicht sie keimt aus den
leichenknöcheln und blüht in
der erinnerung des verlorenen du
trägst sie wie ein gift in dir das
nicht wirkt”

Ich kann diesen Band nur jedem Empfehlen der Dichtung gerne als “Erleben” betrachtet und der sich auch ungezügelt in das halbverschlossene Auge einer solchen Dichtung begeben kann. Die große Kunst eines Gedichts bleibt es letztendlich, die Grenzen wegzuräumen, zwischen sich und dem Leser und seinem Thema, sodass alles ineinander fließt und als eine neu Art von Vorstellung gerinnt. In “Polar” gelingt das zwar nur in einem Auf und Ab, aber auch das ist eine einzigartige, eindringliche Erfahrung. Chapeau, Herr Ostermaier!

“bis
die tür aufsprang und alles zu ihm
kam als träumte er noch immer
zusammengekrümmt wie ein embryo
auf seiner schlafcouch leichenblass
wie das mädchen im türrahmen das
vor ihm stand und zu glühen schien
im gegenlicht des treppenhauses
bis sie fiel”

P.S.: Außer den Gedichten sind auch noch zu jedem der vier Teile vier schwarz-weiß Fotos doppelseitig abgedruckt, die Szenen aus Filmen zeigen oder Kinokarten etc.

Link zum Buch

Zu “Apfel und Amsel” von Jürgen Nendza – So werden wir von Stille als Natur durchleuchtet…


“Wir betreten Regen,
öffnen sein Hemd, die Luft dahinter liegt
wie nackte Haut auf den Zweigen.”

“Moderne Gedichte sind”, klagte einst ein nicht unbedeutender Kritiker, “wie ein Segel ohne Schiff.” Man könnte diese Metapher weiterspinnen: Ist es überhaupt möglich ein solches Segel zu setzten? Und wenn das Gedicht es dennoch schafft – wäre das nicht gleichsam ein Wunder, das die inhärente Magie manches Gedichts sehr gut illustrieren würde? Diese schiere Unmöglichkeit einer Darstellung, die sprachlich dennoch gelingt, ein Umweg als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten

“Eine verirrte Stille, die ist
wie ein Mensch und kreist um die Liebe.”

Ich möchte mich nicht als Experte in Sachen Poesie aufschwingen, auch weil Ich glaube, dass es auf diesem Gebiet keine Experten geben kann. Das ist auch der Grund, warum ich glaube, dass beinahe jede Lyrik (wohlgemerkt jede, die zur Veröffentlichung gelangt oder bei der dies geschehen sollte) wertvoll ist und dass sie zu einem viel häufiger zur Hand genommenen Beispiel einer bewusstseinserweiternden Substanz werden sollte. Wie Joseph Brodsky sagte: “Das Lesen von Lyrik ist ein höchst ökonomische Form geistiger Beschleunigung.” Und ein hoher Anteil der Lyrik auf dem Markt ist nicht einmal wirklich kompliziert, sondern legt die Gewichtung nur viel stärker in die Worte selbst; wie der Raum, der die Zeit krümmt, soll Sprache hier die Vorstellung krümmen – und solange sie dabei nicht völlig egozentrischen Diktionen folgt, ist sie nicht nur lesbar, sondern auch erfahrbar. Man nehme z.B. die Gedichte von Jürgen Nendza.

“Das Licht
bedeutet wir sind wach. Wir stehen auf: Die Zeit ist

unerreichbar zwischen Atemzügen. Und dieses Tasten
nach der Hand, wenn die Sätze sich verlaufen.”

Das Licht, das gleichsam den Morgen, den Anbruch der Wärme ankündigt und doch auch auf alles kalte, leblose, allgemein auf alle Pfeiler der sinnlichen und physischen Welt fällt, ist der Katalysator und Erzähler in fast allen Gedichten von “Apfel und Amsel”. Es schleichen die Sommertage und das unverfänglich Freie von Momenten in lebensfreundlicher Natur darin herum, während im Vordergrund vor allem der ständig wechselnd Eindruck des lyrischen Ichs dominiert, das seine unbewegten Schatten auch auf Erinnertes und Assoziiertes zurückwirft (und trotzdem nie zu einer wirklich persönlichen Lyrik wird, sondern eher eine sehr grundideenhafte Komponente behält). Natürlich geschieht das nicht so profan, wie ich es hier schildere. Wenn man eins sagen kann, dann dass Jürgen Nendza für die oben beschriebene Spielweise genau den richtigen Wortschatz ausgetüftelt hat, der teilweise von der geradezu tautologischen Verwendung einiger weniger Stichworte wie “Stille” (und ihren sprachlichen Verwerfungen und ihrer Kombinatorik), “Licht”, “Luft”, “Reh” u.a. und teilweise von sehr filigranen, fast märchenhaften Bildern lebt, wie z.B.:

“Du kommst herein,
die Hände voller Seen, auf denen Blätter treiben.”

“Dein Lächeln, eine handvoll Reis.”

aber auch Bildentsprechungen, die wir alle kennen, von Waldspaziergängen und Momenten der plötzlichen Gewissheit einer Übereinstimmung mit den stillsten und gleichsam aus sich selbst seienden Teilen der Natur:

“ein Moorloch, in dem
das Sterben glänzt bei schönem Wetter.”

Diese Textauszüge sind hier natürlich dergestalt aus dem Zusammenhang gerissen, das Nendza sie oft als Gegengewicht, als ein quasi dem Gedicht innewohnendes Lächeln oder Zwinkern, Blinzeln etc. verwendet, das seine ansonsten sehr vagen und zirkulierenden, beinahe durchsichtigen Beobachtungen um eine physischere Note ergänzt. Poetisch ist aus diesem Zusammenspiel auf jeden Fall eine große Vielfalt assoziativen Potentials erwachsen, das Nendza fast schon zu oft bestätigt; eine unkognitive, aber sehr zärtliche Ungewissheit, die das Leben wie ein Xylophon mit kindlich geschulter Hand bespielt. Das Summa sumarum dieses Spiels, die lichtintensive Erfahrung einer Ich-Natur, die gleichsam dem Ich und der Natur (also das, was dem durch das Ich gefilterter Beobachtung entspricht, aber eben nicht nur das ist) angehört, ist sehr beeindruckend, wenn auch nicht sehr kontemplativ, sondern illuminativ und begrenzt.

“Wir sind Passanten
im Wort und du beklagst, dass Zeit
in deine Seele eindringt.”

Wenn man von Schönheit in der Poesie redet, dann scheint es meist unumgänglich, dass man beinahe jeder Zärtlichkeit in einem lyrischen Text eine gewisse Schönheit zugesteht. Doch Lyrik gewinnt ihre Schönheit auch elementar aus ihrer eigenen, nicht von 0 auf 100 zu erreichenden Art und Weise, mit Sprache Schritt für Schritt etwas zu erzeugen, wozu die Prosa auch auf tausenden von Seiten nicht in der Lage wäre. Robert Frosts Satz: “Happines makes up in height for what it lacks in length”, kann ebenso gut auf Poesie übertragen werden.

In diesem Sinne sind Jürgen Nendzas Gedichte fabelhafte Lyrik. Seine Gedichte beweisen Schönheit in subtilen Fresken und Augenblicken; sie festzuhalten, gleicht dem Versuch, das Licht reisen zu sehen, nachdem man es angestellt hat oder es versiegen zu sehen, wenn man es ausschaltet – wobei trotzdem noch ein paar der oben genannten Zitate bleiben. Schließlich müssen sich die Augen nach der Lektüre solcher Gedichte erstmal wieder an die Wirklichkeit gewöhnen; aber man bleibt ein wenig erleuchtet.

Link zum Buch

Zu Paul Muldoons Lyrik


“So, wie der größte Teil des Windes
Dort geschieht, wo es Bäume gibt,

Ist der größte Teil der Welt
Um uns selbst zentriert.

Oft wird, wo der Wind die Bäume
Versammelt hat,

Ein Baum den anderen
In seine Arme nehmen und halten.

Ihre Zweige, die wie wild
Zusammenschrammen,

Es ist kein echtes Feuer.
Sie brechen einander.

Oft denke ich, ich sollte wie der
Einzelne Baum sein, nirgends hingehen

Da mein eigener Arm den andern weder brechen
Könnte noch wollte. Doch mit meinen gebrochenen Knochen

Sage ich neues Wetter voraus.”

Die Lyrik spricht selten mit der gespaltenen Zunge der Lüge, aber nicht so selten mit der gespaltenen Zunge der Zweideutigkeit, die ein paar offensichtliche Bilder hinblättert und doch zugleich einen ganz anderen Verlauf, einen ganz anderen Wesenszug der Worte im Sinn hat. Solche Gedichte sind weder einfach zu lesen, noch zu verstehen, noch zu genießen; ihre Stärke liegt in ihrer sprachlichen Anatomie (und Autonomie), in ihrer beherrschten Kunsthaftigkeit, doch ihre Schwäche ist die zu geringe und gleichzeitig zu große Wurfweite zwischen Sinn und Bezug, in den Räumen der Wörter.

Oft wird darauf hingewiesen, dass solche Lyrik oft nur deshalb schwer zu erfassen ist, weil man sie von seinem Standpunkt aus liest und nicht von einem Standpunkt im ursprünglichen Kreis ihrer Entstehung. Es wird wohl ewig ein Streitpunkt bleiben, ob das Gedicht dem Leser oder sich selbst verpflichtet ist. Beide Varianten haben großartige Gedichte hervorgebracht.

“Obwohl wir an ihrer Seite liegen, werden wir nie verstehen,
Wie weit unsere Straßen nun eigentlich gehen,
Oder so hätten wir’s gerne. Sie enden wie wir –
Tot in den Betten, ihr Verlauf ein bisschen wirr,

Mitten im Satz an ihren Kais.”

Auch die oftmals sehr erzählerische Lyrik Paul Muldoons muss zur sich selbst verpflichteten Poesie gezählt werden, vor allem weil man nicht selten das Gefühl hat, er spreche vor allem MIT sich selbst. Da sind plötzlich Ereignisse, Geschichten, Historie und Mythologie, die auf der abgewandten Seite der Sprache tanzen, sich vermischen und doch etwas ungeheuer eigenes bleiben. Seine Gedichte haben etwas leicht entrücktes, dass sich um die Transformation herum, in den Vorfällen, Parabeln und Skizzen, um scharfsinnige Betrachtungen und lyrische Punktierungen bemüht. Wiederum wirkt trotzdem jeder der Texte authentisch und gelöst von einer einfachen, klassischen Gedicht-Ambition – wie ein kleiner Weg, der von der großen Straße abgeht und zu einem einzigartigen Abschnitt in einem unbekannten Wald führt, in dem eine alte Mühle, ein einsames Wirtshaus oder ein Wegweiser, der im Gestrüpp verwaist, steht.

“Der Igel verrät
Nichts, er behält sich für sich.
Wir fragen uns, was ein Igel
Zu verbergen hat, warum er so misstraut.

Wir vergessen den Gott
Unter dieser Dornenkrone.
Wir vergessen, dass nie wieder
Ein Gott der Welt vertrauen wird.”

Es ist eine Lyrik voller Anhängsel und einge”igelter” Momente, eine Lyrik, die nicht auf Räume, sondern vor allem auf Stimmungen, Fragen und Mythen setzt. Eine Lyrik, die nicht zu erforschen sucht, sondern sich zaghaft vergewissert und diesem Vergewissern noch einiges an die Seite stellt, um den Dimensionen von Erinnerung, Traum und Reflektion gerecht zu werden.

Wenig spektakulär ist das Ergebnis dieser Vorgehensweise; dafür finden sich viele Gedichte, die vom Papier aus eine sehr mächtige Stimme erheben, eine Stimme, die nicht Vernunft oder Farben beschwört, sondern vielschichtige Erinnerungsarbeit, Sagenstoffe mit Gefühl, Umstände, Beschwörungen des Alltags und noch speziellere Symbole und Ideen.

“Hingestreckt liege ich unterm Pultdach
Eines alten Tabakschuppens
Auf einer Farm in North Carolina.
Im Hornstrauch singt ein Kardinal
Aus Freude am Marihuana.
Sein Lied geht über meinen Verstand.
Es liegt ein solcher Glanz im Gras,
Fast bin ich ein Inbild des Glücks.
Doch wie sehr fehlen mir
Die niedrigen Hügel, der endlose Himmel,
Das Weideland, das Welle um Welle
Heranwogt und ebenso gewiss
Vor meinen blonden Füßen hält.
Was immer vorübergeht, übergeht mich.”

Man sollte sich eine Weile Zeit nehmen, um diese Lyrik zu lesen (unter Zuhilfenahme der Übersetzung, die zumindest sehr wortgetreu ist, kann man auch den englischen Text problemlos auf sich wirken lassen). Manches Gedicht wird man vielleicht erst in einem bestimmten Moment verstehen, manches ergibt sofort einen Sinn, deren Sinnzusammenhang trotzdem ungeklärt bleibt. Mir persönlich hat die große Ehrlichkeit gefallen, die in jeder Herangehensweise Muldoons liegt; die Fähigkeit, sich jedem Thema auf seine eigenen Art zu nähern.
Zum Schluss noch ein Gedicht, dessen ein wenig verschlüsselter Sinn zumindest mich auf eine Reise in meinen ganz persönliche Erinnerungsbrunnen schickte, weil er uns zeigt, dass auf der Welt doch etwas zusammenhält:

“Wie oft habe ich unser Familienwort
für die Wärmflasche
in ein fremdes Bett getragen,
[…]
ich habe es in so viele schöne Köpfe getragen
oder zwischen uns gelegt wie ein Schwert.”

Link zum Buch

Lyrics: 3. Bruce Springsteen


I

And I’m driving a stolen car
Down on Eldridge Avenue
Each night I wait to get caught
But I never do

Es gibt eine Folge der Fernsehkrimiserie “Cold Case” (Titel:„8 Years“. 11. Folge der 3. Staffel) dessen Handlung zum größten Teil mit Geschichten aus Springsteensongs montiert wurde. Manche mögen jetzt sagen: was hat das mit Lyrik zu tun? Ich kann ihnen nichts Konkretes antworten, kann keine Argumente finden, die für eine lyrische Komponente dieser Zusammenarbeit sprechen. Außer die Idee an sich und diese eine Szene, in der das Lied “Stolen Car” eingespielt wird, während der Protagonist der Folge genau ein solch gestohlenes Auto fährt, durch die Nacht. Da ist nur die Musik, die die Geschichte erzählt, nur dieses Gedicht über eine verlorene Liebe und gestohlene Autos.

She asked if I remembered the letters I wrote
When our love was young and bold
She said last night she read those letters
And they made her feel one hundred years old

And I’m driving a stolen car
On a pitch black night
And I’m telling myself
I’m gonna be alright

But I ride by night

and I travel in fear
That in this darkness

I will disappear

II

Einfache, ehrliche Worte sind das Markenzeichen und die Hintergrundmelodien von Bruce Springsteen, Singer-Songwriter, „Boss“ der E-Street Band, Stadionrocker und lonesome teller of american tragedys. In dem Film “Prozac Nation” gibt es eine Szene, in der die Protagonisten versucht einen Text über Springsteen zu schreiben: “Springsteen ist so etwas wie ein dichtender Automechaniker… wenn ich seine Lieder höre, habe ich Dunst in regennassen Gassen vor Augen… Liebende, die sich an den Händen halten… Dreck unter seinen Fingernägeln und Klarsicht in seinen Augen…er erzählt zwar Geschichten, seinen Gitarre und seine Stimme aber zielen direkt auf das Herz…” Sie wird fast wahnsinnig, weil sie den Text nicht fertigschreiben kann, nicht die korrekte Formulierung findet. Ähnliche Befürchtungen hatte ich, als ich mir vornahm, über Springsteen zu schreiben. Alle seine Alben befinden sich hier auf meinem PC und ich weiß nicht wirkliches, welches ich anhören soll, über welchen Song ich schreiben, welche Art der Darstellung ich bemühen soll. Deswegen muss man auch entschuldigen, dass mein Text über ihn (genauso wie die Idee seiner Musik in meinem Kopf) nicht linear von statten geht. Springsteen ist ein Idol, aber, in manchen Nächten, gehörte er auch mir ganz allein, jeder ultimative oder stille Ton seiner endlosen Alben, in denen die Entfernungen zwischen den Menschen, den Landschaften, den Welten so oft eine Rolle spielen. Und doch ist er kein bloßer Schnitzer von Sehnsuchtsphantasien – er hat auch sehr schwierige Lieder, schwierige Geschichten geschrieben.

At night I wake up with the sheets soaking wet
and a freight train running through the
middle of my head
Only you, can cool my desire
Ooh ooh ooh
I’m on fire

Was ist das Lied “I’m on fire”? Ein Liebesgedicht? Ein Gedicht über eine Obsession? Über schrecklichere Dinge sogar? Spricht hier jemand von natürlichen oder unnatürlichen Begierden? Was trennt sie? Welche Idee führt diese dunkle Stimmung des Liedes aus: tiefliegende Sehnsucht oder tiefliegender Trieb?

Borges schrieb einmal in seinen dantesken Essays von der Geschichte des Ugolinos. Dieser sollte angeblich seine Kinder gegessen haben, um im Kerker zu überleben. Dante legt ihm in einem Abschnitt der Hölle die Worte “Der Hunger vermochte mehr als der Schmerz” in den Mund. Eine bis heute umstrittene Aussage, die auf vieles hindeuten kann: auf die Tat Ugolinos oder auch nur auf die Möglichkeit der Tat, da ihm seine Söhne ihr Fleisch, das er zeugte, sogar angeblich angeboten haben, er es aber vielleicht auch zurückwies und bald darauf an Hunger starb (sodass der Hunger ihn tötete, nicht der Schmerz, ihn gestillt zu haben). Borges verneint, dass eine der beiden Deutungen richtig sei und schreibt: “In der realen Zeit, der Geschichte, entscheidet ein Mensch sich jedesmal, wenn er verschiedenen Alternativen gegenübersteht, für eine und eliminiert und vergeudet die anderen; nicht in jener zweideutigen Zeit der Kunst, die jener der Hoffnung und des Vergessens ähnelt. In dieser Zeit ist Hamlet sowohl vernünftig als auch verrückt.” Also ist jede Literatur ewig in der Schwebe und tausende Leser werden vor dem Zweifel und der bangen Ungewissheit der Ugolino-Frage stehen. Springsteen ist mit seinem Lied “I’m on fire” etwas Ähnliches gelungen: eine (musikalisch und textlich) zwielichtige Stimmung zu erschaffen, die sich, so oft man sie auch hört, nicht ausloten lässt, was eben auch eine Definition von Schönheit und Faszination sein kann.

I saw her standin’ on her front lawn just twirlin’ her baton
Me and her went for a ride sir and ten innocent people died

From the town of Lincoln, Nebraska with a sawed off .410 on my lap
Through to the badlands of Wyoming I killed everything in my path

I can’t say that I’m sorry for the things that we done
At least for a little while sir me and her we had us some fun

The jury brought in a guilty verdict and the judge he sentenced me to death
Midnight in a prison storeroom with leather straps across my chest

Sheriff when the man pulls that switch sir and snaps my poor head back
You make sure my pretty baby is sittin’ right there on my lap

They declared me unfit to live said into that great void my soul’d be hurled
They wanted to know why I did what I did
Well sir I guess there’s just a meanness in this world.

Ich weiß nicht, ob sich viele schon einmal den gesamten Text von Nebraska durchgelesen haben. Dieser erste Track von diesem düsteren Album, das nach dem noch sehr ausgewogenen “The River” erschien und das sehr nach Depression klingt und doch vielleicht das unverstellteste Album ist, das Springsteen je aufgenommen hat, ein Meisterwerk über die Banalität des Bösen und die Banalität des fehlenden Bösen. Eine Depression, eine stille Gewaltorgie, ein Abgesang auf den amerikanischen Traum. Es war eines der ersten Alben, das mich nicht nur zum schwelgen brachte – sondern auch zum Nachdenken. Noch heute kann ich Leute nicht verstehen, die Popmusik allein als Vergnügung betrachten. Unterhaltung mag ein wesentlicher und wichtiger Apsekt sein. Aber wer “Nebraska”, mit der ganzen Unabwendbarkeit seines Text auf sich wirken lässt oder sich “Johnny 99” und “Used Cars”, vom selben Album, angehört hat, der sollte sich eingestehen, das Springsteens-Musik mehr ist als manch andere: Es ist ein Sound und ein Soundtrack zur amerikanischen Wirklichkeit – ein gesammeltes Gedichtwerk, das das moderne Amerika auf eine andere Schiene schiebt. Eine Schiene, die nirgendwo hinführt.

Am Ende des Album wartet nur noch das Lied “Reason to believe”.

Seen a man standin’ over a dead dog lyin’ by the highway in a ditch
He’s lookin’ down kinda puzzled pokin’ that dog with a stick
Got his car door flung open he’s standin’ out on highway 31
Like if he stood there long enough that dog’d get up and run
Struck me kinda funny seem kinda funny sir to me
Still at the end of every hard day people find some reason to believe

Es sind vielleicht die tiefsten Wahrheiten, die wir nie verstehen werden. Die Reason to believe mag für manchen Biologen der reine Überlebensinstinkt sein. (Aber wie ein nicht unbedeutender deutscher Dichter einmal sardonisch bemerkte: „Niemand lebt um zu atmen, aber wie atmen alle, um zu leben“.) Doch selbst dieser Überlebensinstinkt, wenn man ihn als bloße Tatsache und Ursache akzeptiert, hat im Angesicht der Lebenswirklichkeit noch etwas Besonderes, über seinen ursprünglichen Wert hinaus – und schafft sogar neue Werte, die wiederum eine neue Bewertung unserer Handlungen nach sich ziehen. Werte und Bewertungen die sich fast unerkannt in den Zwischenräumen von Springsteens Song Reason to believe (und anderen) bewegen.

III

Einige Dinge, Gegenstände lieben wir und verteidigen sie mit geradezu unnachgiebiger Vehemenz. Was auch immer kommt, ich werde mich nie von dem 3CD Live Album “Live 1975-1985” trennen. Der einfache Grund: Track 1 auf CD 3, eine Livefassung von “The River”, aufgenommen im Los Angeles Coliseum am 30.9.1985.

Schon auf CD 1, vor dem Lied “Growin Up”, diesem sanften Zurückerinnern an das Aufwachsen, das “Leben lernen”, spricht Springsteen zum Publikum über seine eigene Vergangenheit, erzählt Episoden seiner eigenen Geschichte, nicht als wäre es einer seiner Songs und er ihr Erschaffer – nein, er spricht ganz und gar von sich selbst. Davon, wie seine Eltern, jedes Mal wenn er nach Hause kam, zu ihm sagten: “It’s not to late – you can still go back to college.” Er lacht dabei. Er lacht sie nicht aus, das weiß man sofort. Aber er weiß, was für ein Privileg es ist, glücklich zu sein. Man spürt es, in der Art und Weise, wie er erzählt. Hier steht jemand, er ist weder erleuchtet, noch redet er von Glücksrezepten und Therapien, Beweisen oder Anklagen und doch hat er sein Glück gefunden. Und er erzählt davon, was ihm alles im Weg stand und was er lernen musste.

Bei der Live-Version von “The River” geht er noch tiefer. Er erzählt von seiner Jugend, als er 18 war. Die Zeit von Rebellion gegen seinen Vater, seiner ersten Band, seiner ersten Freundin, seinem ersten Motorrad, und auch: Vietnam. Ich möchte diese Geschichte nicht vorwegnehmen, aber ich habe schon Tränen in den Augen, wenn ich nur an sie denke – es ist eine der ehrlichsten, wahrhaftigsten Geschichten, die ich je gehört habe. Sie ist nicht reißerisch und am Ende ist ihre Botschaft so nah an einen herangetreten, dass man sofort zu seinem Vater oder seinem Sohn rennen will um ihm zu sagen, wie wichtig es ist, das man einander etwas bedeuten kann. Man wünscht es sich, es so zeigen zu können, wie es in der Erzählung Springsteens geschieht – zum sanften Klang, jener fast 6 Minuten langen Untermalung, die am Ende der Geschichte nahtlos in den Mundharmonikaauftakt von “The River” übergeht, dieses Lied, das keiner vergessen kann, der es einmal gehört hat und das eine Geschichte erzählt, so eigen und doch so universell.

Me and Mary we met in high school
when she was just seventeen
We’d ride out of this valley down to where the fields were green

That night we went down to the river
And into the river we’d dive
Oh down to the river we did ride

Then I got Mary pregnant
and man that was all she wrote
And for my nineteenth birthday I got a union card and a wedding coat
We went down to the courthouse
and the judge put it all to rest
No wedding day smiles no walk down the aisle
No flowers no wedding dress

(Refrain)

I got a job working construction for the Johnstown Company
But lately there ain’t been much work on account of the economy
Now all them things that seemed so important
Well mister they vanished right into the air
Now I just act like I don’t remember
Mary acts like she don’t care

But I remember us riding in my brother’s car
Her body tan and wet down at the reservoir
At night on them banks I’d lie awake
And pull her close just to feel each breath she’d take
Now those memories come back to haunt me
they haunt me like a curse
Is a dream a lie if it don’t come true
Or is it something worse

Ich glaube, manchmal liebe ich Springsteens Songs allein dafür, dass sie in ihren einfachen Geschichten auch Fragen stellen, die nur in dieser einfachen Umgebung gestellt werden können, aber doch essentiell sind: “Is a dream a lie/ if it don’t come true/ or is it something worse.” Oder für die diese Fassungen von Wirklichkeit, die keine sprachlichen Höhenflüge brauchen: “Then I got Marry pregnant/ and, man, that was all she wrote.”

Und die Erinnerungen an das Glück, seine Leichtigkeit, die einen später, immer schwerer, verfolgen. Nie ist diese Idee so anschleichend und doch intensiv, so schlicht formuliert worden, wie in diesem Lied, in dieser Geschichte, die in der letzten Strophe ihre eigene Erinnerungsdimension erschafft, ein Gefühl innerhalb des Gefühls, eine Reflexion, ein Rückblick im Rückblick. Eine Geschichte, die die Erinnerung als eine Art stillstehende Sehnsucht entlarvt, die sich nie bewegt, in einem selbst, und doch immer weitergeht, mit allem was wir noch erleben.

IV 

I was raised out of steel here in the swamps of Jersey, some misty years ago
Through the mud and the beer,

and the blood and the cheers,

I’ve seen champions come and go
So if you got the guts mister, yeah if you’ve got the balls
If you think it’s your time, then step to the line, and bring on your wrecking ball

2012 war Springsteen nach 3 Jahren wieder zurück, mit dem neuen Album “Wrecking Ball” (der Titelsong wurde für ein Stadion in New Yersey geschrieben, das abgerissen wurde). Ein Album das wieder an die schmerzlichen Punkte der amerikanischen Lebenswirklichkeit ansetzte – überbordend, still, bärbeißig. Auch der Kapitalismus ging nicht leer aus:

There’s nothing to it mister, you won’t hear a sound
When your whole world comes tumbling down
And all them fat cats they just think it’s funny
I’m going on the town now looking for easy

Es war ein langer Weg von “Nebraska” bis zu diesem “Wrecking Ball”, 30 Jahre genau. Dazwischen lag “Born in the USA”, das Stadionrockalbum, mit dem bis heute missverstandene Lied (das Ronald Reagan sogar für seinen Wahlkampf nehmen wollte) und dessen Sound Springsteen auf seinem Sammelalbum “18 Tracks” korrigierte (ursprünglich sollte es bereits auf “Nebraska” in dieser Interpretation erscheinen).

Dann die Zeit ohne die E-Street Band (mit dem genialen Album “Tunnel of Love”), das erste Greatest Hits Album (nach über 20 Jahren aktiver Karriere!), die 90er Jahre mit ihren geradezu quälend stillen Alben und den Seeger-Sessions (die sich bis heute in Springsteens Musik niederschlagen) und einem Oscar für “Streets of Philadelphia”. Und im neuen Jahrtausend dann “The Rising”, teilweise entstanden unter dem Schock von 9/11.

Lange danach erschien Magic, ein teilweise an den Leitplanken der Schmerzgrenze entlangschabender Volltonrock, dessen Texte meist von Träumen und Verlorenheit handelten. “Working on a dream” das letzte Album vor “Wrecking Ball” wird die Zeit noch beurteilen müssen.

Springsteen, so sagen manche, ist mit der Zeit etwas gemächlicher geworden, nachgiebiger. Das Gegenteil scheint er auszustrahlen: Mit über 60 steht er noch kerzengerade und voller Energie auf der Bühne und man würde kaum glauben, dass er älter ist als 50. Und mit “Wrecking Ball” hat Springsteen seinen politischen Kritikern auch erstmal wieder einen Dämpfer verpasst. Und der Rolling Stone wählte die Tour mit diesem Album dann gleich auch zum Platz 1 auf der Liste der „Greatest live acts now“.

V

Zögernd kehre ich nach diesem guten Abschluss doch noch einmal um. Zu dem Album “Tunnel of Love”, einem der lyrischsten Alben überhaupt. Ehrlich, mit Tiefe, wunderbar taktverliebter Musik und dieser ganz speziellen emotionalen Verbundenheit, die einen in den Liedern für die Dauer des Hörens verschwinden lässt, wie aus der Zeit herausgenommen.

Billy met a young girl in the early days of May
It was there in her arms he let his cautiousness slip away
In their lovers twilight as the evening sky grew dim
He’d lay back in her arms and laugh at what had happened to him

On his right hand Billy’d tattooed the word love and on his left hand was the word fear
And in which hand he held his fate was never clear

Diese beiden Händen, hier love, here fear, werde ich mein Lebtag wohl nicht vergessen können. Ich zögere. Erscheinen sie nur mir als ein so vollkommenes Sinnbild…

Ich bin immer wieder wie zärtlich und doch unbeugsam ehrlich dieses Album doch ist. Das fast schon matchomäßige “Tougher than the rest”, das fast schon fadenscheinige Spare Parts. Dann die feinfühlige Erinnerungselegie „Walk like a man“, nachdem man gar nicht mehr glauben kann, dass Springsteen sich noch steigern könnte – dann folgt das Synthesizerstück „Tunnel of Love“, das die ganze Bangnis eines Liebesabenteuers einzufangen versteht.

Fat man sitting on a little stool
Takes the money from my hand while his eyes take a walk all over you
Hands me the ticket smiles and whispers good luck
Cuddle up angel cuddle up my little dove
We’ll ride down baby into this tunnel of love

I can feel the soft silk of your blouse
And them soft thrills in our little fun house
Then the lights go out and it’s just the three of us
You me and all that stuff we’re so scared of
Gotta ride down baby into this tunnel of love

There’s a crazy mirror showing us both in 5-D
I’m laughing at you you’re laughing at me
There’s a room of shadows that gets so dark brother
It’s easy for two people to lose each other in this tunnel of love

Es sind eigentlich immer wieder dieselben Geschichten und doch haben sie alle Nuancen in eine Richtung, die sie wieder zu etwas besonderem machen. Und wahrscheinlich lässt sich endlos aus den einfachen Ideen der Springsteensongs zitieren. Was aber entscheidet ist, ist, dass sie selbst eine Idee sind. Nicht nur eine Idee von Musik, sondern Musik und Erzählung. Vielleicht war ich nicht dazu geeignet, diese Idee hier zu offenbaren. Und vielleicht kennt sie schon jeder, der je ein Springsteenalbum gehört hat, im tiefsten Innern schon selbst und wem es reicht seine Seele allein an dem Klang seiner Worte zu kühlen, muss er dann auch genau wissen, was sie bedeuten? Ich weiß es nicht. Für mich ist Springsteen Erzähler und Musiker in einem. So sehe ich ihn immer vor mir: Gitarre, Klangbilder; seine Augen in den Pausen der Geschichte gesenkt. Seine Stimme durch das Mikro, fest – die Musik als Ersatz für die Bilder und die Welt, die sich dreht. Im Guten wie im schlechten – wer weiß das, am Ende des Tages, schon so ganz genau zu sagen…

 Woke up this morning my house was cold
Checked out the furnace she wasn’t burnin’
Went out and hoped in my old Ford
Hit the engine but she ain’t turnin’
We’ve given each other some hard lessons lately
But we ain’t learnin’
We’re the same sad story that’s a fact
One step up and two steps back

Bird on a wire outside my motel room
But he ain’t singin’
Girl in white outside a church in June
But the church bells they ain’t ringing
I’m sittin’ here in this bar tonight
But all I’m thinkin’ is
I’m the same old story same old act
One step up and two steps back

It’s the same thing night on night
Who’s wrong baby who’s right
Another fight and I slam the door on
Another battle in our dirty little war
When I look at myself I don’t see
The man I wanted to be
Somewhere along the line I slipped off track
I’m caught movin’ one step up and two steps back

There’s a girl across the bar
I get the message she’s sendin’
Mmm she ain’t lookin’ to married
And me well honey I’m pretending
Last night I dreamed I held you in my arms
The music was never-ending
We danced as the evening sky faded to black
One step up and two steps back