Monthly Archives: December 2013

Über “Reisen in Ziegengeschwindigkeit” von Christian Hawkey, erschienen bei Kookbooks


“…but does ist matter, really/ what we’re called? Call me really. Really fine.”

“Ich merkte nicht, wie die Vögel verstummten. Ich leuchtete in den Wald.
Die zerschmetterte Frontscheibe eines alten Trucks
grinste zurück, mich an
dahinter

ein Netz aus Zweigen, Wirbel, gesponnen von Licht
– wie es immer entwirft, was schon da ist
Form gibt oder verformt:
Muster

hervorbringt, Relief, Amputationen des Hintergrunds –
bis die Lichter flackerten, erloschen
und unser Pfad im Dunkeln lag.”

Woraus besteht Dichtung? Zum einen natürlich aus Metrik, Ideen und deren Anordnung – dann aus den Bildern, die daraus beim Leser entstehen können, sowie Gedankenanstößen und zuletzt aus, wie ich es jetzt mal nenne, dem “Konzentrat”, was nur ein bestimmtes Gedicht in die eigene Vorstellung fließen lassen kann und das auf bestimmte Punkte darin drückt, was eine Flut von Eindrücken, Ausblicken und Erinnerungen hervorholen kann.

Um die Welt und ihre Assoziationen, ihre lebendige Mechanik, in den eigenen Gefühlskosmos einordnen zu können, sie darin wirklich ausgedrückt zu finden, muss man Gedichte lesen, das ist meine Überzeugung – und man muss sie auch verstehen. Aber wo endet das Lesen und wo beginnt das Verstehen? Was nennt man vielleicht manchmal Verstehen, dabei ist es nur Deuten, was hält man manchmal für Verstehen und dabei ist es nur Folgen? Ich denke, man hat ein gutes Gedicht dann “verstanden”, wenn man in ihm ausgedrückt sieht, was unsere sinnliche Vorstellung, unser ahnungsorientiertes Unterbewusstsein versteht, was unser Denken und Sprechen aber bisher nicht in Worte fassen konnte.

Einige Zeilen und ein, zwei vollständige Gedichte in diesem Band erfüllen für mich diese Bedingung, aber das Potential ist, denke ich, noch sehr viel größer für Leser, die des englischen mächtiger sind und allgemein eine feinere Konzentrationsspanne haben.

Christian Hawkey, geb. 1961, ist ein Virtuose, ein moderner. Er scheint alle Spielweisen zu beherrschen und auch wenn die richtigen, die “Memento Mori”- Gedichte, die für mich die Höhepunkte der Lyrik darstellen, ihren Zenit, hier wenig vorhanden sind, so hat Hawkey doch so viel Hintergründiges, Abstraktes, Intellektuelles, Spezifisches und Illuminiertes in seinen Gedichte gepackt und springt zwischen Formen und Genres hin und her, auch manchmal in ein und demselben Gedicht – sein Repertoire ist riesig und dürfte beinahe alle zufrieden stellen, die auch über einen gereimten Vers hinaus Interesse an Lyrik haben.

Und er ist gewiss auch kein reiner Kunstpoet, denn ein Gefühl für das Wunderbare, das noch nicht entdeckte, das noch nie in Worte gefasste, ist ein wesentlicher Antrieb seiner Wortgemische, immer wieder aufblitzend über die Seiten und Texte dieses Bandes hinweg.

Getroffen wurde die Auswahl aus den beiden Gedichtbänden, die Hawkey bereits in den USA veröffentlicht hat; John Ashbery lobte besonders das “Buch der Trichter/Book of Funnels” als das innovativste, was er in langer Zeit gelesen hätte.

“Und obwohl wir täglich elf Wimpern
verlieren, bringt Blinzeln allein
uns nicht in den Himmel”

Die moderne Poesie hat beim Leser einen schweren Stand. Was modern sei, könne nicht mehr schön sein, denken viele und wenden sich von Kunst und Lyrik dieses Zeitalters ab – als könnten Klassifizierungen Wahrheiten sein oder Worte wie schön nur eine Facette zulassen unter der sie ausgelegt werden! Grade die moderne Dichtung hat durch ihren Drang zum “Verwirklichbaren”, einige vollkommene Varianten der Schönheitserlangung/-darstellung geschaffen und gemeistert; durch Umwege, gewiss, aber gerade diese vermeintlich abstrakten Umwege bergen, wenn der Leser sie liest, eindrucksinterstellare Möglichkeiten. Einziger Unterschied ist, dass die moderne Poesie Sprache und Raum individuell und fein abstimmt, während sich die meisten Epochen davor den Reim als Ordnungsinstrument auferlegten.

Man kann “Reisen in Ziegengeschwindigkeit” empfehlen, weil es verblüffende und geniale Zeilen enthält und auch weil es sich auf gewisse Weise wie ein lyrisches Abenteuerbuch liest. Man reist auf Versen durch das eigene Ich, dann mal hinaus, dann vielleicht durch Welten voller abgekarteter Bilder, dann wieder hinein in eine Photographie der Welt, deren Winkel beunruhigend, suggestiv und trefflich zugleich wirkt. Reisen ohne Ziele gibt es bekanntlich nicht. Aber nicht immer führt nur ein einziger Weg zum Ziel – der Witz ist, dass wir in Gedichten unseren eigenen Wer gehen können, denn das Gedicht ist nicht die Straße, sondern das Gefährt.

“die Art, wie der Wind das Elefantengras
auf die Seite legt oder eine Stimme durchs offene Fenster
zu uns trägt…”

Link zum Buch

Zu Köhlmeiers “Der Liebhaber bald nach dem Frühstück”


“Drüben, am Schweizer Ufer des Rheins,
Saß eine Katze, frei und reich. Sie tauchte

Die Pfote ins Schweizer Wasser. Wir hätten es
Uns leicht machen können, wir beide,

Katze im schwarzweißen Fell, Mann in
Khakihosen und Lumberjack: Ein Spaziergang

Bis zur Eisenbrücke und dann über die Böschung
Hinauf und fünfzig Meter hin ich

Und fünfzig Meter her du, und in der Mitte
Hätten wir uns getroffen.”

Die deutsche Gegenwartslyrik ist nicht frei von Selbstbezüglichkeiten und Luftbauten, von einer kargen Verzierung von Sprache mit Wirklichkeit und manchmal auch einer Sprachlosigkeit, die keine Hintergründe, ja nicht mal Gründe kennt.

Doch da ist auch die andere Seite, abseits der Experimente, wo das Dichterische aus der Assoziation, aus der uneinholbaren Natürlichkeit und Persönlichkeit entspringen mag, aber aus dieser Tatsache und der Sprache eine kosmische Konstante webt, die uns verblüffen, erfreuen und auf den Ebenen der Wirklichkeit herum teleportieren kann und uns erfahren, erdenken und erkennen lässt.

“Die Zeit, sage ich, ist nur ein anderer Lügner,
Sie spricht wie ein Knabe spricht
Mit dem gefühllosen Geiz eines Mannes.”

Michael Köhlmeier, ein sehr feinsinniger Romancier und ein bemerkenswerter Prosaist, schreibt Gedichte, die wie Leiter des Zufalls wirken, wie Eingebungen aus der Ferne. Lyrische Kurznotationen die einem plötzlich und kurz in Fleisch und Blut übergehen und dann in eben diesem Sog des Bluts wieder verschwinden – und doch einen Eindruck hinterlassen, der in seinem stillen Dasein unwillkürlich scheint, wie ein Bild, das man aus dem Fenster sah, aber nicht ganz wahrnahm: auf der Innenseite irgendeiner Erinnerungsmünze eingeprägt.

Zwischen Alltag und Metaphysik, Krumen und Planeten wachsen seine Verse wie Farnkraut, Tautropfen des Sinns auf ihren Blättern. Dabei fällt vor allem auf, wie neutral sie gehalten sind, mit Balance, genau in der Mitte und wie versöhnlich einen ihre Lektüre dennoch stimmt, mit all ihrer Lakonie. Denn da ist eine kleine Regung, die man selbst aus ihnen zieht, die einem selbst geschieht.

“Die Schönheit des Seins und der Dinge wird sich
Zeigen, wenn Sein und Ding
Frei von Metaphysik und Bedeutung

Und Metaphysik und Bedeutung
Als Zubereitung des Rohen erkannt
Sein werden.”

Dieser Ausschnitt kann sehr gut als Eingrenzung der Wirkung dienen, die Köhlmeier in der Lyrik zu erreichen sucht. Schönheit, die nicht als Schönheit auftritt, mit schönen Kleidern, Wortakrobatik, aushängender Metaphorik – nein, wenn überhaupt nur mit der kleinen Tätowierung “Gedicht” irgendwo am Körper und sonst ganz unscheinbar, aber eingebend.

Viele der Verse wirken zunächst unerreichbar, wie in Schneekugeln, Photos, entfernten Plakaten verloren, aber doch nicht wirklich distanziert, vielmehr ganz nah abgewandt, auf den zweiten Blick, als wäre es eine Täuschung gewesen – oder ist das jetzt die Täuschung?

“Bücher, sagte er, wiegen schwer,
Gedanke und Gedächtnis dagegen passen tausendfach
Auf eine Nadelspitze.”

Gedichte aber, wenn sie gut sind, imitieren diese tausendfache Präsenz auf einer Nadelspitze. Beeindruckend, das ist ein Wort, was man sicher sehr häufig bei Gedichten fallen lassen kann, aber hier passt es irgendwie besonders, auf eine stille Art und Weise. Vielleicht weil die Gedichte so einfach sind und doch in ihren Imitationen, Geschichten und Bildern das Einfache zu dem Erheben, was zählt, was zentral liegt, egal wo man lebt. In diesem Sinne sind sie wieder etwas Besonderes. Wieder einmal gebührt der Edition des Lyrik Kabinetts Dank für einen wirklich einzigartigen Gedichtband.

Link zum Band

Zu Les Murrays “Größer im Liegen”


“Der dornige Kajeputbaum,
jährlich Schnee-im-Sommer genannt,
ähnelt der duftenden Haartracht
einer Heerschar alter Damen,
er versammelt sich zu einem Berg,
weiß wie Graz, warm wie Blumenkohl.
Bleistiftlöcher in der warmen Erde
sind wo Zikaden aus ihrem jahrelangen
Fötusleben erwachten, um zwo
zwo hektischer Amethysttage willen.”

Der von J.M. Coetzee als “angry Genius” bezeichnete Les Murray, ist wohl der bedeutendste Vertreter der zeitgenössischen australischen Dichtung – zumindest er der bekannteste. Dank der hervorragenden Arbeit der Edition Rugerup wurden uns drei seiner dichterischen Werke (neben diesem Band auch noch: “Gedichte, groß wie Photos” und “Übersetzungen aus der Natur”) zugänglich gemacht – zum Einstieg am besten geeignete ist, meiner Meinung nach jedoch dieser Band: “Größer im Liegen”.

Die Moderne nach 1970 hat die Dichtung weitgehend der Diskussion entzogen, aber auch ihre Globalisierung in Gang gesetzt. Große zeitgenössische Dichter wie Tomas Tranströmer, Wislawa Szymborska, Joseph Brodskij, Zbigniew Herbert, Czeslaw Milosz oder Derek Walcott kommen aus den verschiedensten Ländern, kannten/kennen sich jedoch vielfach untereinander und alle haben sie ihre Poesie von Schulen und äußeren Ästhetiken gelöst und aus sich heraus eine Poesie des eigenen Sprachkonsens entwickelt, die versucht die individuelle Erfahrung mit dem Großen & Ganzen der Welt zu vereinen.

Les Murray – der ein wenig mit in diese Tradition gehört und doch ein ganz eigener Vertreter der Gattung jener “Individual Poets” ist – ihn würde ich als einen späten Anhänger von William Carlos Williams und seiner Poetik identifizieren. Zwar hat er die neuen sprachlichen Errungenschaften der Moderne, diesen Seilakt zwischen Oberflächenglanz, Tiefe und einfacher Geste, angenommen, aber treu geblieben ist er dem Credo, mit der Lyrik nicht nur darzustellen und nachzuempfinden, sondern auch zu fragen, anekdotisch zu sein oder zu erklären; mit dem Vers nicht nur weit hinaus zu fahren, sondern auch an den Steg zu schlagen.
Als Beispiel mag diese Betrachtung aus einem Gedicht gelten:

“Geld sieht man nie unverhüllt.
Kreditkarten, Goldbarren, nackte Zahlen,
elektronisch, in Buchführungskolonnen
sind nur Ausdrücke für Geld,
und wir sind seine Geschlechtsteile.”

Poesie, auch moderne, ist eine Form die Schönheit zu schauen und sich ihrer an den unerreichbarsten und ungewöhnlichsten Stellen zu versichern. Murrays große Stärke liegt in dieser ganz speziellen Art der zweischneidigen Schönheit, der man sich in den Versen annähert und sie doch allumfassend betrachten kann.

“Windgerührte Getreidefarben
zwischen begehbaren Dämmen,
meilenweit grasbegrenzte Ränder-
ernten von der Kuppe nach unten,
von Händen, die längst im Erdreich sind.”

Zwischen Verinnerlichung von Altbekanntem und neuen Ideen – von “Schön” bis “Klartext” ist bei Les Murray alles vertreten.

Nachtrag: Der Band “Größer im Liegen” ist zweisprachig. Nach Stichproben kann ich die Übersetzung nur loben – sie ist akkurat und unverfälscht, selten linkisch, selten zu kühn.

Link zum Buch

Zu den frühen Gedichten von Marie Luise Kaschnitz


“Denn einer Masche gleich in den Geweben/ scheint unser Leben zwischen tausend Leben.”

“Gebt mir das Kästchen mit den goldnen Reifen
Den bunten Steinen und den kalten Ringen,
Ich kann das Leben anders nicht begreifen
Als in den Dingen.”

Marie Luise Kaschnitz ist wohl eine der eher unterschätzten Dichterinnen deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Trotzdem ist sie eine der wenigen, mit einem erhöhten Bekanntsgrad – auch wenn ihre Gedichte nicht unbedingt Besteller waren, erfreut sie sich bis heute doch einer großen, nur eben anonymen, Leserschaft. Im Januar des kommenden Jahres wäre sie 113 Jahre alt geworden.

“Wie lang und auch dein Haus gerät ins Wanken,
Wie lang und auch dein Werk erfährt Zerstörung,
Dann ist die Zeit, da Träume und Gedanken
Gereinigt stiegen aus den Fieberschauern.
Sei fest im Hoffen. Stark in der Beschwörung.
An Liebe reich. So wirst du überdauern.”

Die frühe Kaschnitz, das sind die Jahre von 1928 bis 1945/47. Genau wie im Fall von Peter Huchel wird diese erste Phase von gereimten Gedichten dominiert (die Gedichte aus den Kriegsjahren sind sogar fast ausnahmslos Sonette), bevor dann die Hauptschaffensphase beginnt, die viel von längeren und an die Form der Elegie angelehnten, moderner orientierten Gedichten geprägt ist. Mir haben diese frühen Gedichte, genau wie im Fall von Huchel, sehr gut gefallen, auch wenn sie gewiss keine übergroße metaphysische Tiefe aufweisen; dafür aber diese besondere Art der Einbeziehung des Lesers, mit Wortflächen herbeigeführte Berührungen auf einer bestimmten sinnlichen Ebene.

“O Ewigkeit der Sinne, denen Rose
Für immer Rose bleibt, ob auch indessen

Die Gärten schwinden und der Tag gewaltsam
Das freudige Haupt dir tief und tiefer zwinge.
Es wachsen neue Kräfte unaufhaltsam
Zum Herzen dir aus dem Bereich der Dinge.
Und schauernd, lauschend, ahnst du in der Zeit,
Der wandelbaren, die Beständigkeit.”

Marie Luis Kaschnitz ist keine Sängerin, sie ist keine Träumerin. Mit ihren Versen will sie, möglichst in einer vollendeten Geste, die Dinge einfangen, ihre Präsenz in Worten erfinden, ohne sie konkret zu nennen. Und wenn sie, wie im Vers, der dieser Rezension vorangestellt ist, eine Behauptung und Betrachtung macht, dann ist das, als würde sie einen Blick in den Spiegel werfen und schon der nächste Vers ist eine Erwiderung, eine Feinjustierung, eine Idee, die den Abschluss, die Vervollkommnung sucht.

Es ist eine Gefühlslyrik, die sich aber zurückzieht von jedem Hinausgehen über das Nahe, Fassbare. Kaschnitz versucht sozusagen nicht, in ihren Gedichten noch etwas in größere, ferner Verbindung zu setzten; lieber legt sie ihre Botschaft direkt in jede Zeile, die der Leser gerade liest, sodass sich das Bild mit jeder Zeile, Schritt für Schritt, erschließt, ohne dabei je im Unklaren über seine Räumlichkeit zu sein. Natürlich gibt es trotzdem auch Gedichte, die über sich hinausweisen. Aber im Prinzip herrscht bei ihr vor jedem Gedicht eine Art Dunkelheit und der letzte Satz ist die darin entstandene Kerzenflamme, jeder Satz davor ein Streichholz.

“Ach, vom Felsen, wo zum steilen Hange
Winde flügeln und die Welle bricht,
Irrt der Blick am weißen Säulenhange
Und er findet Licht und lauter Licht.”

In ihrer eher strengen Form erschaffen und entfalten diese frühen Gedichte trotzdem große Weisheit und Stabilität, wobei das letzte eine allgemeiner Wesenszug von Kaschnitz Lyrik ist, der mir so nur bei wenigen Dichtern begegnet ist; dieses Gefühl, dass nichts in der Dissonanz zwischen Metaphern oder Bildern verschwindet, dass das Gedicht quasi sich selbst bis zum Rand beim Lesen auffüllt, wie eine Schale mit Wasser, ohne überzulaufen, selbst wenn der Rand sehr niedrig ist.

Ich kann nur zum Schluss sagen, dass für jeden Freund der gereimten Lyrik diese ersten Gedichte sicherlich eine Fundgrube sind.
Die besten der Gedichte daraus finden sich natürlich auch in Sammelbänden, die beste davon: “Überallnie“.

Mit einer hauchdünnen, später hervorstechenden modernen Note, bewegte sich Kaschnitz stets zwischen Innerlichkeit, Impressionismus und Symbolismus. Feinsinn und ihre klare, gesetzte Art die Figuren ihrer Gedichte in ihre Verse einzuzeichnen, machen ihre Gedichte zwar unscheinbar, aber wertvoll. Sie sollte wieder gelesen werden.

“Was ist es, das an diesen Ort mich bannte
Und immer neu das Bild mich deuten ließ,
Da ich die Absicht nimmermehr erkannte,
Die solche Fülle schuf und leben ließ?
Ein Spiel der Schöpferkraft nur muss ich wähnen,
Ungleich gemischt aus Heiterkeit und Tränen,

So dünkt mich Schein und Finsternis verwirrend
Auch auf der Erde Angesicht gelegt
Und Menschen seh ich durch die Zeiten irrend
Von jedem Hauch getragen und bewegt.
Und doch erkenn ich Tag um Tag genauer:
Es wiegt die Freude schwerer als die Trauer.”

Ein menschlicher Dichter – zur neuen Ausgabe der Milosz Gedichte bei Hanser


“Es ist gewiss eigentlich nicht statthaft,” bemerkte Kipling, “einen Dichter zu lieben, weil er spricht, wie man selber gerne spräche. Es mag darin nämlich mancher eine Schwäche sehen, sich immer dem Vertrauten zuzuwenden, wenn er auch das Neue oder sogar das Konträre entdecken könnte. […] Dies geht von der falschen Vorstellung aus, nur das Neue, Andersartige könne uns bereichern […] obwohl ja auch eine gute Maschine nicht aus allen Teilen gebaut wird, die man bekommen kann, sondern nur mit den Teilen, die für die Funktion unerlässlich sind, wobei zusätzliche Teile entweder Zierde sind oder Hindernis – in jedem Falle überflüssig. […] Was dabei eben oft übersehen wird ist die Tatsache, dass man sich nicht nur erweitern, sondern auch vertiefen kann. […] Ich glaube, dass derjenige in der Welt am wenigsten Schaden anrichten wird, der weiß wer er ist und wo er steht.” (Kipling, Essay on Criticism)

“Keine Sprache genügt der Schönheit.”

Ich wählte dieses Zitat von Kipling als Einstieg für diese Rezension, weil es (abseits der vielen Ansatzpunkte für Kritik und Diskussion) einen Gedanken enthält, den ich mit dem Werk von Milosz immer Zentral in Verbindung gebracht habe. Seit Jahren besitze ich die Auswahl seiner Gedichte aus der Bibliothek Suhrkamp, hatte bisher jedoch immer nur einzelne Gedichte und Passagen gelesen und mich nie ganz in ihn vertieft; er war für mich einer der wenigen Dichter, denen ich mich nicht mit Gedanken an das Gesamtwerk genähert habe, sondern die ich als Gesprächspartner aufsuchte, die ich als Möglichkeit betrachtete, die Stimme eines Dichters im Ton eines Freundes reden zu hören. Einem Freund, der keine Abstraktionen hinblättert, sondern mir Ideen eingibt, Ansichten, Bilder und Fragen, Meinungen und Streiflichter. Anders gesagt: In der Poesie von Czeslaw Milosz fühlt man sich wie ein werdender Mensch, der noch nicht fertig sein muss (ein Gefühl, was einem sehr wenige große Dichter geben). Ihm geht es um die eigene Bestimmung, den wirklich eigenen Blick und den Weg dorthin, der nie ein Ende findet.

Und er zelebriert nicht nur die Dinge für sich selbst – er lässt auch Dinge in seine Gedichte eintreten, gegen die er dann bis zum Schluss des Textes ankämpfen muss; Kämpfe, bei denen er die Regeln nicht bestimmen kann und in deren Verlauf er nur die Sprache hat, um zu agieren, zu widerstehen, und sich, die Poesie und das Glück zu verteidigen.

“Aus der Vorhölle für ungetaufte Jünglinge und Tierseelen

Soll ein toter Fuchs erscheinen und er soll Zeugnis

ablegen gegen die Sprache.”

Direkt zu Anfang möchte ich anmerken, dass Milosz nicht auf ein Zitat festgelegt werden kann und somit auch nicht auf eine einzelne Ausdrucksweise. Alle Beispiele hier sollen einen kleinen Eindruck der Vielfalt aufzeigen und keine repräsentativen Klarheiten schaffen.

Für repräsentative Klarheiten ist Milosz sowieso der falsche Dichter. Im Zusammenhang mit vielen Dichtern, die ich gelesen hatte, habe ich später in Besprechungen den Ausdruck “menschliche Poesie” verwendet, wenn ich eigentlich humanistische Prinzipien, eingebundene Anteilnahme oder subtile Nähe zum Leser meinte. Auf Miloszs Poesie passt diese Bezeichnung allerdings am besten; menschlich im Sinne von: unperfekt, stimmungsabhängig, ambivalent, bekennend, gefühlsbestätigend, nachdenklich, mit Gedächtnis und Gewissen operierend.

“Auf diesem selben Marktplatz

Verbrannte Giordano Bruno,

Das Feuer, geschürt vom Henker,

Wärmte die Neugier der Gaffer.”

1911-2004. Eine beachtliche Lebenspanne, in einem Jahrhundert voller Tod und vieler rapider Entwicklungen, die vor allem eins erhöhten: Die Undurchschaubarkeit der Welt und ihrer Systeme. Nachdem die Zeitalter davor das Ich stark in den Fokus gerückt hatten, war genau dieses Ich nun dabei, im Kampf der Ideologien und Zukunftsaussichten zu verschwinden.

Diese Unklarheit über den Wert des Ich, des Selbst, des Einzelnen: bei Schriftstellern, die nicht den Ideologien ihrer Zeit anhingen und sich trotzdem mit ihr befassen wollten, musste diese Problematik zwangsläufig (mit) zum Thema werden. Dabei ist, von sich selbst zu sprechen, in der Lyrik von jeher ein Risiko, wenngleich auch eine Chance.

“Der Vorteil der Poesie ist, dass sie uns daran erinnert,

wie schwer es ist, man selbst zu bleiben,

denn unser Haus steht offen, die Tür ist schlüssellos,

und unsichtbare Gäste gehen ein und aus.”

Ich bin der Ansicht (die manchen vielleicht seltsam erscheinen mag), dass das Leben eines Dichters zwar viel mit den Wesensinhalten seiner Gedichte zu tun hat, man aber von den Gedichten auf die Biographie schließen muss, und nicht umgekehrt. Anders gesagt: Man sollte Gedichte nicht nach Aspekten durchsuchen, die man zuvor in der Biographie gefunden hat, sondern lieber die Gedichte lesen und sich nachher über den biographischen Hintergrund des Gedichtes informieren. So wirkt das Gedicht als erstes, aus sich selbst heraus, und durch die zusätzlichen biographischen Daten wird dieser Eindruck eventuell noch klarer, evidenter – wenn man es umgekehrt handhabt, sieht man im Gedicht vielleicht nur die Bestätigung der Biographie und nicht den eigenen, tieferen, komplexeren Ausdruck.

Gerade bei Milosz, der in seine Gedichte seine Verzweiflung, ebenso wie seine Hoffnung legte (zwei Gefühle, so stark auf den Moment ihres Empfindens fokussiert, dass man sie in einer Biographie nicht wirklich auffinden oder nachvollziehen kann) ist diese Herangehensweise empfehlenswert.

Deswegen werde ich mich auch nicht weiter über seinen Lebenslauf auslassen (zumal Adam Zagajewski ein hervorragendes (zum Teil auch sehr biographisches) Nachwort zu diesem Band verfasst hat).

Zahlreiche frühe Gedichte von Milosz handeln vom Krieg, dem Warschauer Ghetto, seiner Verbindung zu und Sicht auf die Taten & Geschehnissen dieser Zeit. Die meisten Gedichte streifen jedoch in seiner persönlichen Geschichte; die natürlich, da er ein Dichter ist, sich oftmals mit den großen Geißelungen der Zeit konfrontiert oder vereint sieht.

“Wie soll ich leben in diesem Land,

Wo der Fuß über die Knochen

Der unbestatteten Nächsten stolpert?

[…]

War ich denn dafür geschaffen,

Klagelieder zu singen?

[…]

Lasst doch

Den Dichtern den Augenblick der Freude,

Sonst geht eure Welt zugrunde”

Die schmerzliche Erkenntnis, nicht schreiben zu können, was man will, weil es Dinge gibt, die man beschreiben muss, die also mehr Realität haben, als ein Gedicht, das sich nicht mit ihnen beschäftigt, jemals haben könnte… Der Dichter: als Warner oder als Künstler? In Milosz Werk sieht man die Schwierigkeit, beides auf einen Nenner zu bringen: Das Abbilden der Gegenwart, also auch das Bekenntnis zur eigenen Geschichte, und gleichzeitig das Aufgreifen der ewigen Themen der Dichtung, der Versuch, Sprache zu einer Epiphanie und nicht nur zu einer Dokumentation werden zu lassen.

Die Geschichte ist eben nicht alles, aber manchmal schafft sie es, die Menschen für sich zu verpflichten. Und der Dichter weiß, dass er eine komplette Okkupation nur verhindern kann, wenn er sich mit ihr auseinandersetzt – er weiß, dass es Dinge gibt, die Vorrang haben, vor seinen Ideen von Idylle, Farben und Genie. Einfache Dinge, elegische, schwierige Dinge; Gedanken, Bedenken, Geständnisse; Ansagen, Wiederworte, Wünsche.

Milosz ist auch deswegen ein großer Dichter, weil er sich trotz seiner regen Beschäftigung mit Zeitgeschichte und Ethik, nie davon vereinnahmen ließ. Er fand einen Mittelweg, eine Möglichkeit Farben und Ideen anzurufen und dennoch zu bedenken und zu berichten. Seine Verse sind selbstbezügliche Studien – Ansichten, die dem eigenen Ich vorgetragen werden und aus seiner Gedankenwelt, zusammen mit den Worten, den Raum für ein Gedicht erschaffen.

“Was ist die Poesie, wenn sie weder Völker

Noch Menschen rettet?”

Ein sehr direkter Ausruf – eigentlich zu wage für einen Diskurs und zu groß für viele Lyriker, die um solche einwandfreien Fragen eher einen Bogen machen. Aber Milosz ging es darum, ob es in seinem eigenen derzeitigen Gemütszustand, in den Umständen seines derzeitigen Gedichtes, eine wichtige Frage war, eine Frage, die hineingehörte in die poetische “Aufregung” seiner Zeilen und zu dem Selbstverständnis seines Textes. Das macht seine Verse authentisch, ehrlich, manchmal auch etwas willkürlich. (eine unwillkürliche Willkür – und das ist nicht nur ein essayistischer Stilsalto.)

Überhaupt ist Milosz ein sehr unstrukturierter Autor, für einen Lyriker. Trotz Intelligenz und Gespür merkt man bei ihm wenig Formwillen – nur einen schlichten, der die Worte nach der Art zusammenbringt, dass sie die Form eines Gedichtes annehmen, dass sie eine poetische Wirksamkeit beziehen, aber keine Umbrüche, keine Formung, die das Gedicht schon deutet, seine Ausgestaltung mitdiktiert.

“Ich war ein Instrument, ich lauschte, traf eine Auswahl

der Stimmen aus dem stammelnden Chor und

übersetzte sie in klare Sätze mit Punkt und Komma.”

 […]”Wir suchen nämlich nicht das Vollkommene, wir suchen

das Resultat von unaufhörlichem Streben.”

Bei all dieser “Un”beschaffenheit, zu der seine Poesie tendiert, ist doch jedes Glied seiner Gedichte von vollendeter Klarheit – worunter nicht hoch hinaus gefaltete Schönheit oder sensationelle Aspekte zu verstehen sind, sondern eine schlichte Präzision, eine Poesie, die immer bei sich selber bleibt, auch in sich selbst träumt oder von ureignen Fehlern spricht; die sich nicht in andere Räume oder Welten, andere Perspektiven begibt oder begeben muss. Inmitten dieser Selbstvertiefungen entstehen immer wieder Verse und Zeilen, die die Dinge auf den Punkt bringen – vielleicht nur für einen Moment, in etwa wie es der eigene Gedanke, die eigenen Eingebung tut, die uns tagtäglich überraschen kann.

“Zwischen Augenblick und Augenblick habe ich viel erlebt im Traum,

So deutlich, dass ich das Schwinden der Zeit fühlte,

Als das, was ständig fern war, nicht da war.”

 

“Der Duft des frischen Klees hat die kriegerischen

Märsche wiedergutgemacht und im Licht der

Autoscheinwerfer glänzen die Wiesen für immer und

ewig.”

Träumerische Facetten und utopische bis verzweifelte Imaginationen geistern durch Miloszs Werk. Der Titel (der Begriff) Dichter/Lyriker wird heute in Deutschland eher an dem formschaffenden Aspekt festgemacht, gepaart mit einem enormen Innovationsdrang, dem Streben nach einem rein exklusiven Ausdruck.

Auf Milosz kann man diese Bewertungskriterien unmöglich anlegen. (Ja, wenn man Dichter wie Milosz liest, muss man diese Kriterien vielleicht sogar in Frage stellen.) Er ist auch kein Dichter, der, wie die klassischen Poeten, größtenteils an der Veranschaulichung oder Darstellung des Schönen interessiert ist; auch sein Harmoniebedürfnis ist geringer, aber es ist vorhanden, es hat sich bloß gewandelt: von einer freudigen Antwort zu einer rastlosen Frage. In Milosz Werk treffen der Wille, dieser Stoff, mit dem Dichter die Welt in Worten ausdrücken, und der Zweifel, der sie dazu bringt, ihre Darstellungen zu bedenken, in einer besonderen Mischung zusammen – was sicherlich auch mit der Zeit zu tun hatte, in der Milosz lebte: eine Zeit, die viel Zerwürfnis kannte und doch auch sehr viele Entwicklungen. Größere Entwicklung, tiefere Abgründe. Was stellt man dagegen: den Willen oder den Zweifel? – Dichter suchen bis heute auf diese Frage eine Antwort.

“Früh erreicht uns der Aufruf, aber er bleibt

unverständlich und erst langsam stellt sich heraus, wie

gehorsam wir waren.”

 

“Was trennt, das zerfällt. Und dennoch ist mein Schrei

>>nein, nein,<<, noch nicht verhallt, obwohl er im Winde

verbrannte.

Nur das, was nicht trennt, zerfällt nicht. Alles andere ist

jenseits der Dauer.”

Gewissheiten hinter den Fragen – wie oben bereits angesprochen, war Milosz ein Suchender, ein Dichter, der sich selbst nicht als Teil des Jahrhunderts sehen, sondern das Menschliche in sich bewahren wollte und auch in seiner Poesie. Deswegen das “nein, nein” und die vielen tausend Wahrheiten und kleinen Wirklichkeiten, die man, über sein Werk verstreut, einzelnen Abschnitten entnehmen kann –  ewige Wirklichkeiten, Wahrheiten, im Bruchteil einer Sekunde geschehen, da man sie vollends wahrnimmt und spürt, bis sie vergehen – was sind diese Abschnitte anderes als das Leben?

Auf jeden Fall sind es solche Momente, Schweife, für die man in Milosz Lyrik immer wieder dankbar ist; denn sie sind jenseits von Rhetorik oder Beweis. Es sind Einsichten, einfach beeindruckend und bemerkenswert, in ihrer feinen, inneren Ausrichtung.

“Was auch immer damals in das verriegelte Haus der fünf

Sinne gelangte, ist im Brokat des Stils erstarrt.

Wer, Hohes Gericht, kennt nicht solche Einzelfälle.”

 

“In dem einen gemeinsamen menschlichen Traum

wohnen pelzige Tiere.”

 

“Bin ich hier, in der Hoffnung, man könne neu beginnen

und das eigene Leben heilen, wenn man fest daran denkt,

was man erfahren hat.”

Die Hoffnung ist, wie wir wissen, in Wahrheit eine launische Kraft (wobei sie, wie Borges klug bemerkte, eigentlich nicht uns enttäuscht, sondern wir stets sie). In der Poesie ist sie im besten Falle eine Ausdrucksform/-variante der Sehnsucht, in welcher sie eigentlich nur als Abglanz enthalten ist; doch es ist dieser Glanz der einem Gedicht eine besondere, kommunikative Form von Schönheit verleihen kann.

“Derweil ich in Gedanken weiter Fräulein Jadwiga rette,

Die kleine Bucklige, Bibliothekarin von Beruf,

Die im Bunker jenes Hauses ums Leben kam,

Das als sicher galt, doch ist es eingestürzt

Und niemand konnte durch die Mauerplatten dringen,

Obwohl man viele Tage Klopfen hörte, Stimmen.

Ein Name also, verloren für Jahrhunderte, für immer;

Ihre letzten Stunden bleiben unbekannt

[…]

Der wahre Feind des Menschen heißt Verallgemeinerung.

Der wahre Feind des Menschen, die sogenannte Geschichte,

wirbt und erschreckt mit ihrem Plural.”

Wie weit ist dann der Weg von diesem Zitat zu jenem:

“Dazu bin ich berufen:

Die Dinge zu preisen, weil es sie gibt.”

Oder ist er vielleicht die Entfernung zwischen diesen Abschnitten gar nicht so weit? Ich denke nicht. Und ich denke weiterhin, dass jener Aspekt, jene Idee, die diese beide Abschnitte trotz ihrer Unterschiede verbindet, könnte sie anders als durch solche Verse ausgedrückt werden, das wäre, worum es in Milosz Werk geht.

“Es gibt derart Beharrliche; gib ihnen ein paar Steine

Und essbare Wurzeln, und sie werden die Welt erbauen.” 

Inhalt:

Dieser Band enthält Gedichte aus allen Perioden von Milosz Schaffen, sogar einige der letzten. Angenehmerweise wurde ebenfalls keine Botschaft oder Richtung bevorzugt und der Band liest sich wie ein gut ausgesuchtes “Best of”, mit vielen Anliegen und Ideen, die in Milosz Werk als Ideen präsent sind. Das Nachwort tut, wie bereits gesagt, sein Übriges. Ein paar Anmerkungen wären schön gewesen, aber sie fehlen auch nicht wirklich.

Am Ende jeder Rezension kommen mir Zweifel, ob ich alles gesagt habe. Habe ich es richtig gesagt? Ich glaube, dieser Zustand lässt sich ein bisschen mit dem Lesen und Schreiben von Gedichten vergleichen. Ist denn jemals alles gesagt? Vielleicht das, was man sagen konnte. Vielleicht reicht das.

“Was bleibt vom Leben? Nur Licht,

Vor dem die Augen blinzeln an Sonnen-

Tagen. Man sagt: so ist es,

Und keine Fähigkeit, keine Gabe

Reicht hinaus über das, was ist.”

Link zum Buch

Ko Un und “Die Sterne über dem Land der Väter”


“Der Dichter muss viele Tage geweint haben, bevor er zum Dichter wird.”

“Ein Gedicht ist ein Gedicht. Doch was ihm an Eindruck, Empfindung, Gedanke und auch Inspiration zugrunde liegt, ist von Fall zu Fall ebenso verschieden, wie es das ausformulierte lyrische Korpus, das Sprachgewand und der Rhythmus sind, über den der Leser oder Hörer den Zugang zu suchen und, wenn er Glück hat, zu finden vermag. Danach beginnt die Interpretation. Und ein wahrhaftes Gedicht, das ist seine unbeendbar-unendliche Interpretation.”
Aus dem Nachwort

Ko Un, geboren 1933, ist Bürger und Dichter in einer der zerrissendsten Regionen im zwanzigsten Jahrhundert, der Halbinsel Korea. Nach einer Odyssee unter japanischer Zwangs-Herrschaft und einem Bürgerkrieg ist das Land seit 1953 geteilt in einen kommunistisch-faschistischen Norden und einen halbherzig-demokratischen Süden.

Ko Un selbst lebte nach dem Bürgerkrieg eine Weile in einem buddhistischen Kloster, dann begann er zu dichten, sehr schnell auch engagiert, musste bald Haftstrafen absitzen und wurde höchstwahrscheinlich mehrmals schwer gefoltert.

Wie viele Koreaner wünschte er sich vor allem eine Wiedervereinigung des Landes. Was uns in Deutschland nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks gelungen ist, ist in Korea noch in utopischer Ferne. Ein Volk, das kaum ethnische oder religiöse Unterschiede kennt, ist nach wie vor geteilt durch den 35. Breitengrad, auch 18 Jahre nachdem dieser Gedichtband bei Suhrkamp erschienen ist. Und die Kluft wird tiefer, wenn man den Dichtern des Landes glauben kann.

“Trauer ist keine Fiktion. Wer hätte in seinem Leben nie geweint.
Lange waren die Frauen in unserem Land buchstäblich die Tränen,
waren die Tränen, die sie weinten, sich selber zu trösten.”

“Das vergangene Jahrzehnt habe ich Freundschaften vertieft.
Nun soll mein Trachten, setz ich mir zum Ziel,
ganz dem Land unserer Väter gelten.”

Ko Un ist kein klassischer Poet. Er ist ein engagierter Lyriker, bewusst und bodenständig. Der Feinsinn und die literarische Gestaltung mit der er die Welt einfängt, leben vor allem von Allegorien und Geschichten aus Landleben, Historie und Literatur. Was nicht heißt, dass es bei ihm keine starken Bilder gibt oder keine Magie. Vielmehr ist er, wenn man das so sagen kann, ein Sprachrohr für das Wesen Koreas und seiner Menschen. Am besten trifft es vielleicht Siegfried Schaarschmidt, einer der Übersetzer wenn er im Nachwort schreibt, “dass dieser Koreaner weltweit zu den großen Engagierten gehört, ist das eine; wichtiger erscheint mir seine Begabung, Botschaften völlig aus dem Persönlichen zu vermitteln.”
Seine Gedichte sind in der Tat sehr persönliche Betrachtungen – aus denen aber ein allgemeines Bewusstsein herausklingt, eine Sehnsucht, ein Glaube, eine Stimme, die nicht nur lamentiert, sondern berichtet, was nicht vergessen werden darf.

“Heimat ist weder ein Traum,
noch ist die verlassene Heimat Wirklichkeit.

Versehen mit einem guten Nachwort, allerlei Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten, ist dieses Buch eine gute Gelegenheit, Korea durch die Augen eines seiner mitteilsamen und klugen Bewohner zu betrachten und kennen zu lernen. In einer (nicht formalen, aber inhaltlichen) Symbiose aus Dichtung und Erzählung wurde hier erreicht, was Dichtung nicht immer, ja, nur selten gelingt: Nah am Menschlichen, Fassbaren zu bleiben, ohne die lyrischen Aspekte zu vernachlässigen. Für alle, die gerne eine Stimme Koreas hören wollen, eine Empfehlung.

“Die Geschichte läuft behäbiger als diejenigen an der Spitze.”

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Zu Jehuda Amichai


“…und der Mond, wie ein große Kanne, neigte sich und begoß meinen durstigen Schlaf…”

“Siehe, Gedanken und Träume spinnen über uns
ein Kreuz und Quer, ein Tarnungsnetz
und die Spähflugzeuge und Gott
werden niemals wissen,
was wir wirklich wollen
und wohin unser Weg geht.

Nur der Laut, der aufsteigt am Ende der Frage,
steigt weiter über die Dinge hinaus und bleibt oben,
auch wenn ihn Granaten auslösten,
wie eine zerrissene Fahne,
wie eine gespaltene Wolke.”

Das abstrakteste Wort für Heimat bleibt Heimat, hat Brecht einmal gesagt. Und bei vielen anderen Dingen ist es ebenso; tagtäglich begegnen wir ihnen, diesen Begirffen und sie heißen, wie sie heißen und benennen Liebe, Angst, Wut, Sehnsucht, oder auch Du und Ich und wir und alles, Leben und Sterben.

Gedichte öffnen eine Tür zu diesen Begriffen, die sich im Gebrauch schon abgenutzt haben und ihre Bedeutung oft nur durch Kombinationen und Verdeutlichungen wiedergewinnen können; Gedicht sind ein sich annähernder Umweg, der zu dem Ton, der Gewichtung, dem Bild, der Empfindung eines Gefühls oder einer Idee, einer Stimmung führen kann, welcher in seiner normalen Bezeichnung keinen Ausdruck mehr findet, weil Sprache im Grunde eben nur ein Bezeichnungsebene ist, die das Gedicht in größeren Zusammenhängen zu etwas Besonderem machen kann, etwas Spürbarem. Ich und wohl auch viele andere lesen deswegen Gedichte, wegen der Möglichkeit, diese Wege zu begehen und zu erfahren; nicht nur deswegen, aber auch deswegen.

“Nach Mitternacht, als unsere Worte begannen,
die Welt zu beeinflussen,
legte ich meine Hand auf deine Stirn:
deine Gedanken waren kleiner als ein Handteller.
Doch ich wusste, dass war ein Irrtum.
Wie der Irrtum des Handtellers,
der die Sonne verdeckt.”

Man muss nicht Gedichte analysieren, um sie zu verstehen. Und man muss Gedichte nicht verstehen, um sie zu analysieren. Ich persönlich habe immer nach Gedichten gesucht, die nicht interpretiert, sondern nachempfunden werden wollen als die Verdichtung einer Idee, die direkt von der Wirklichkeit abstammt. Ich habe viele Dichter gefunden, deren Gedichte dies können (wobei viele von ihnen sicherlich auch interpretiert und analysiert werden können.)

Jehuda Amichai, ein bedeutender Dichter Israel gehört bedingt auch zu dieser Sorte von Dichtern, wobei seine Dichtung zweischneidig ist. Sie hat klare, wortmalerisch-suchende Aspekte, aber auch eine zeitlose mystische Komponente, die ganz selten sogar kabbalistische der judäischen Religionsphilosophie innehat. Natürlich wartet seine Lyrik auch mit einigen charakteristischen israelischen Lebensrealitäten und -metaphoriken auf. Zwischen der europäischen “Tradition der wechselnden Traditionen” und deren schlussendlicher Liberalität und der bewussten Tradition östlicher und arabischer Lyriken, steht Jehudas Werk auf sehr eigenen und doch von beiden Seiten aus zu erreichenden Gründen.

“Der Abschied von einem Ort, an dem du
keine Liebe hattest, enthält den Schmerz
über all das, was nicht war. Und die Sehnsucht
nach dem, was hier sein wird, nach dir.”

Es ist eine zarte, sehr individuelle Lyrik – ein gutes Beispiel für eine Poesie, die einen klar verorteten Hintergrund und Ausgangspunkt hat und eine einfache, von dort aus wachsende Sprache, die sich nicht zu hoch reckt und nicht zu weit ausbreitet. Teilweise ist geerdete Art mit ihrer einfachen Bildersprache sehr lesenswert, teilweise schon wieder sehr in sich versunken. Es gibt 4-5 Gedichte die wunderschön und durchgängig stimulierend auf die lesenden Zellen des Körpers und des Geistes wirken. Und einige Gedichte, die für einen Leser, der gerne eher seichte und nebulöse Gedichte, mit ein bisschen abstrakter Begriffmalerei liest, auch das richtige sein dürften.

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Erwähnung zu Heine


“Sie saßen und tranken am Teetisch

und sprachen von Liebe viel.
Die Herren waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.

Die Liebe muß sein platonisch,
der dürre Hofrat sprach.
Die Hofrätin lächelt ironisch,
und dennoch seufzet sie: Ach!

Der Domherr öffnet den Mund weit:
Die Liebe sei nicht zu roh,
sie schadet sonst der Gesundheit.
Das Fräulein lispelt: Wie so?

Die Gräfin spricht wehmütig:
Die Liebe ist eine Passion!
und präsentieret gütig
die Tasse dem Herrn Baron.

Am Tische war noch ein Plätzchen;
mein Liebchen, da hast du gefehlt.
Du hättest so hübsch, mein Schätzchen,
von deiner Liebe erzählt.”

Heinrich Heine, Meister der Melodie, gehört zu den präsentesten und, trotz vieler Nörgler, auch zu den bedeutendsten Dichtern und Denkern Deutschlands. Nicht nur ist er, neben Goethe, der meistvertonte Dichter, nein, er gehört auch zu der Art von klassischem Dichter, die man sofort wieder erkennt, in jedem Gedicht.
Was mich persönlich an ihm, immer wieder, freut und ihn mich wiederlesen lässt ist sein sicheres Wandeln in der Balance zwischen Romantik und Polemik, Melancholie und Ironie, Lied und Satire, Leichtigkeit und Ernst.

“Nichts ist vollkommen hier auf dieser Welt.
Der Rose ist der Stachel beigesellt;
Ich glaube gar, die lieben holden Engel
im Himmel droben sind nicht ohne Mängel.
[…]
Du bist, verehrte Frau, du selbst sogar
nicht fehlerfrei, nicht aller Mängel bar.
Du schaust mich an – du fragst mich, was dir fehle?
ein Busen, und im Busen eine Seele.”

Heine schrieb ein paar der schönsten Liebesgedichte…:

“Am leuchtenden Sommermorgen
geh ich im Garten herum.
Es flüstern und sprechen die Blumen,
ich aber, ich wandle stumm.

Es flüstern und sprechen die Blumen,
und schaun mitleidig mich an:
“Sei unserer Schwester nicht böse,
du trauriger, blasser Mann!”

…und doch war er auch ein sehr weiser Dichter:

“Anfangs wollt ich fast verzagen,
und ich glaubt, ich trüg es nie;
und ich hab es doch getragen –
aber fragt mich nur nicht, wie?”

…und wenn er wollte, konnte geradezu genial sein:

“Zu Weimar, dem Musenwitwensitz,
da hört ich viel Klagen erheben,
man weinte und jammerte: Goethe sei tot,
und Eckermann sei noch am Leben!”

Kurz zu Gehard Meiers Gedichtwerk in “Einige Häuser nebenan”


“Der Acker hißt die Maisblattsegel
mittschiffs
einsamer Passagier
die
Vogelscheuche.”

Es ist mir immer sehr schwer gefallen über Lyrik als ein Spiel der Symbole zu schreiben. Wenn der Winter (pauschal) die Trauer, der halbe Mond über dem abgebrochenen Zweig die Liebe ist und die See das Ewige, was ist dann der Inhalt des Gedichts? Eine geometrische Figur der Fingerzeige?, ein Konstrukt, dessen Schönheit sich aus dem Folgen mit den Fingern entlang der eingeritzten Linen erweist.

Nein, zumindest für mich nicht. Denn die besten Gedichte treffen einen doch wie die anderen großartigen Erlebnisse und Ereignisse ganz plötzlich, ja die Kraft und Weite dieser Momente ist oft erst im Nachhinein voll erfassbar, weil man es währenddessen erstmal total genießt, total darin ist. Der Zauber eines Gedichts ist in etwa wie ein tiefenräumiges Bild: zuerst schaut man nur und dann erst fängt man an zwischen den Farben und dem Sinn und der Form zu differenzieren.

Gerhard Meier, geboren 1917, gestorben 2008, war ein Meister der Prosa. Seine Amrainer Tetralogie ist bis heute ein wichtiges Werk der knappen, deutschen Innerlichkeit. Bevor er diese Vollendung seines Werkes erreichte und bevor er seine ersten Romane schrieb, veröffentlichte er zwei Gedichtbände und einige Bände mit kurzen Prosacapriccios. Gerade auch die letzteren sind von großer poetischer Schönheit und können zum dichterischen Frühwerk gezählt werden.

“Am Kran
hängt der Mond
an Wänden der WCs
van Goghs vervielfältigte Zugbrücke
In Schneedünen liegen Häuser
An Cheminées spricht man
vom einfachen
Leben

Wind
Sanftmütiger
seit langem versuchst du
den Bäumen das Gehen beizubringen du
Unbelehrbarer”

Insgesamt ist das lyrische Werk Meiers leider sehr übersichtlich, obwohl sich seine Poesie, wie bereits erwähnt, in der Prosa fortsetzt. Hier und da ist auch etwas gereimt, aber am sichersten sitzen die einfachen, freien Verse, da muss Meier keine Abstriche bei seiner eigenwilligen Stilistik machen.

Die meisten der Gedichte sind Momentaufnahmen; kaum eines ist länger als eine Taschenbuchseite, viele nur halb so lang. Eingefangen wird jedoch sehr viel, von der Stimmung am Anfang und Ende der Jahreszeiten, über viele bezeichnende Nebenattitüden (“Gehirne müllern/wie immer/Geist” – “Alte tragen ihr Weltbild/ durch die Städte”) bis hin zu eindrucksvoll-melancholischen Rahmungen des Weltgefühls. Wirkliche Geschichten gibt es nicht, auch keine Meinungsgedichte. Es ist der leise und doch immer wieder mit wunderbaren Wendungen aufwartende Ton (“Im Panzerschrank des Zivilstandsbeamten/ blühen die Stammbäume”), der die meisten dieser Gedichte zu kleinen Perlen macht, und sei es auch nur um sie einmal mit viel Genuss zu lesen und im Geist zu spüren.

In der Art der Diktion und kargen, melancholischen Schönheit, haben mich diese Gedichte vielfach an den Dichter Rainer Malkowski erinnert, auch er ein wunderbarer Maler von Skizzen, denen man die Farben selbst zugibt. Ich empfehle ihre beiden Werke weil ich der Überzeugung bin, dass wir Gedichte brauchen, um uns selbst immer wieder einen Eindruck von der Schönheit der Sprache und den Zügen der Wirklichkeit zu geben. Dafür müssen wir, wenn wir wollen, nicht einmal abstrakte Worte im Kopf hin und her wenden oder unsere Zähne in die Lyrik ausländischer Autoren in schlechter Übersetzung schlagen (was hier nicht polemisch, sondern augenzwinkernd gemeint ist), denn es gibt so viele gute deutsche Dichter, bei denen es einfach reicht ihre Bücher in die Hand zu nehmen, sie aufzuschlagen und einfach nur zu lesen und zu staunen. Gerhard Meier gehört zu diesen Dichtern. Auch nicht jedes seiner Gedichte kann gut sein, aber wer suchet der findet. Wie Erich Fried schrieb:

“Wer von einem Gedicht seine Rettung erwartet,
der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen.
Wer von einem Gedicht keine Rettung erwartet,
der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen.”

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