“Drüben, am Schweizer Ufer des Rheins,
Saß eine Katze, frei und reich. Sie tauchte
Die Pfote ins Schweizer Wasser. Wir hätten es
Uns leicht machen können, wir beide,
Katze im schwarzweißen Fell, Mann in
Khakihosen und Lumberjack: Ein Spaziergang
Bis zur Eisenbrücke und dann über die Böschung
Hinauf und fünfzig Meter hin ich
Und fünfzig Meter her du, und in der Mitte
Hätten wir uns getroffen.”
Die deutsche Gegenwartslyrik ist nicht frei von Selbstbezüglichkeiten und Luftbauten, von einer kargen Verzierung von Sprache mit Wirklichkeit und manchmal auch einer Sprachlosigkeit, die keine Hintergründe, ja nicht mal Gründe kennt.
Doch da ist auch die andere Seite, abseits der Experimente, wo das Dichterische aus der Assoziation, aus der uneinholbaren Natürlichkeit und Persönlichkeit entspringen mag, aber aus dieser Tatsache und der Sprache eine kosmische Konstante webt, die uns verblüffen, erfreuen und auf den Ebenen der Wirklichkeit herum teleportieren kann und uns erfahren, erdenken und erkennen lässt.
“Die Zeit, sage ich, ist nur ein anderer Lügner,
Sie spricht wie ein Knabe spricht
Mit dem gefühllosen Geiz eines Mannes.”
Michael Köhlmeier, ein sehr feinsinniger Romancier und ein bemerkenswerter Prosaist, schreibt Gedichte, die wie Leiter des Zufalls wirken, wie Eingebungen aus der Ferne. Lyrische Kurznotationen die einem plötzlich und kurz in Fleisch und Blut übergehen und dann in eben diesem Sog des Bluts wieder verschwinden – und doch einen Eindruck hinterlassen, der in seinem stillen Dasein unwillkürlich scheint, wie ein Bild, das man aus dem Fenster sah, aber nicht ganz wahrnahm: auf der Innenseite irgendeiner Erinnerungsmünze eingeprägt.
Zwischen Alltag und Metaphysik, Krumen und Planeten wachsen seine Verse wie Farnkraut, Tautropfen des Sinns auf ihren Blättern. Dabei fällt vor allem auf, wie neutral sie gehalten sind, mit Balance, genau in der Mitte und wie versöhnlich einen ihre Lektüre dennoch stimmt, mit all ihrer Lakonie. Denn da ist eine kleine Regung, die man selbst aus ihnen zieht, die einem selbst geschieht.
“Die Schönheit des Seins und der Dinge wird sich
Zeigen, wenn Sein und Ding
Frei von Metaphysik und Bedeutung
Und Metaphysik und Bedeutung
Als Zubereitung des Rohen erkannt
Sein werden.”
Dieser Ausschnitt kann sehr gut als Eingrenzung der Wirkung dienen, die Köhlmeier in der Lyrik zu erreichen sucht. Schönheit, die nicht als Schönheit auftritt, mit schönen Kleidern, Wortakrobatik, aushängender Metaphorik – nein, wenn überhaupt nur mit der kleinen Tätowierung “Gedicht” irgendwo am Körper und sonst ganz unscheinbar, aber eingebend.
Viele der Verse wirken zunächst unerreichbar, wie in Schneekugeln, Photos, entfernten Plakaten verloren, aber doch nicht wirklich distanziert, vielmehr ganz nah abgewandt, auf den zweiten Blick, als wäre es eine Täuschung gewesen – oder ist das jetzt die Täuschung?
“Bücher, sagte er, wiegen schwer,
Gedanke und Gedächtnis dagegen passen tausendfach
Auf eine Nadelspitze.”
Gedichte aber, wenn sie gut sind, imitieren diese tausendfache Präsenz auf einer Nadelspitze. Beeindruckend, das ist ein Wort, was man sicher sehr häufig bei Gedichten fallen lassen kann, aber hier passt es irgendwie besonders, auf eine stille Art und Weise. Vielleicht weil die Gedichte so einfach sind und doch in ihren Imitationen, Geschichten und Bildern das Einfache zu dem Erheben, was zählt, was zentral liegt, egal wo man lebt. In diesem Sinne sind sie wieder etwas Besonderes. Wieder einmal gebührt der Edition des Lyrik Kabinetts Dank für einen wirklich einzigartigen Gedichtband.
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