Monthly Archives: January 2014

“Ein Fischnetz aus teerigem Garn knüpfen” – Gedichte Robert Lowells


“An Trojas letztem Tag, o weh, ein Stürmen
Des Volkes zum Tempel: Welch ein Fest, die Kinder
Wanden Girlanden um das Pferd; so harren
Wir in des Löwen Rachen todgeweiht.”

Nicht umsonst ist Robert Lowell einer der sehr wenigen Dichter Amerikas, die es in die Weiße Reihe des DDR Verlages Volk und Welt geschafft haben: seine stets kritische Haltung seinem eigenen Heimatland USA gegenüber und sein unverbesserlicher Mahnungs- und Meinungsdrang von der linken Seite her, prädestinierten ihn für die Aufnahme, wenn diese Tatsache nicht sogar ausschlaggebend war – wie leider auch für die Auswahl der Gedichte dieses Bandes.

“Ihr Denkmal steckt wie eine Fischgräte
in der Kehle der Stadt.”

So schreibt er z.B. über ein Bürgerkriegsdenkmal.

Trotzdem war er in seiner Heimat sehr populär, auch gerade weil er anzuecken wusste und einen sehr eigenen Stil pflegte, der, mal persönlich, mal umfassender, die Probleme und Ränke des Landes einzufangen vermochte. Zweimal gewann er den Pulitzerpreis, beide Male für Gedichtbände.

“Seine Verzweiflung hat die Farbe
von Wischlappen und Wasser im verzinkten Eimer.”

Sprachlich gesehen ist er ein eher behäbiger, sängerischer, ausufernder Dichter, der meist auf strengen Formen besteht, bei denen der Reim mehr auferlegtes Stilmittel, den Klang ist. Immer wieder darin: kleine Kostproben wahrer poetischer Freistil-Bilder, aber immer nur ganz plötzlich, wie das Flimmern von Sonnenlicht auf trägen Ölschlieren.

Die Übersetzung ist eher mittelprächtig, aber immerhin versucht sie keine Nachdichtung, was bei Lowell auch schwer gelungen wäre, sondern begnügt sich mit einer ungereimten, an Takt und Metrum angelehnten Übersetzung. Das Nachwort ist aufschlussreich, aber natürlich in der DDR verfasst, weshalb politische Stellungnahmen unvermeidlich sind.

“Das Eis tickt mehrwärts wie eine Uhr.
Ein Neger röstet
Weizenkörner überm Koksfeuer
In einer durchlöcherten Tonne.
Chemische Luft
Streicht von New Jersey her
Und riecht nach Kaffee.

Jenseits des Flusses
Bräunen die Klippen von Vorstadtfabriken
In der schwefelgelben Sonne
Der unversöhnlichen Landschaft.”

Insgesamt ist Lowell mehr ein Dichter, mit dem man sich auseinandersetzen und den man studieren kann, als einer, der einem ein ungetrübtes Lesevergnügen beschert. Aber trotzdem lebt in seinen Gedichten etwas sehr Starkes, Natürliches, etwas ungewachst und ungeschöntes, eine Anwesenheit von Andacht und Werten, dass seine Verse trotz ihrer Rauheit und Schwere zu modernen Formen der Tradition des amerikanischen “Gesanges” macht, wie man sie ansonsten (und dann fröhlicher) von Walt Whitman oder Longfellow kennt.

Wer also eine Dichter sucht, dessen Belesenheit und Erhabenheit sich mit formaler Schwere und behäbiger Reverenz zusammentun, um kritische, wie forschende, wie betrachtende Gedichte zu schreiben, der sollte einen Blick auf Robert Lowell und seine Gedichtlegionen riskieren.

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Über das epische Erzählen, Weben, Singen des Jannis Ritsos, “Unter den Augen der Wächter”


“Ich weiß,
die Dichter beflecken nicht
mit ihren Tränen
die gläsernen Städte.
Sie wachen mit
ihrem reinen und ungetrübten Blick,
um das Frösteln des Lichts
und die Handflächen des Weltalls zu zählen.”

Jannis Ritsos gehörte, um es gleich im Voraus zu sagen, zu den epischsten und produktivsten Dichtern des zwanzigsten Jahrhunderts. Wo die Werke von Kavafis oder Odysseas Elytis nur eine vergleichsweise kleine Zahl von Gedichten umfassen, die in eine Einbandgesamtausgabe passen, würde das gesamte dichterische Werke von Ritsos gleich mehrere Bände füllen. Sie sind auch lange nicht so formidable wie die Werke seiner griechischen Zeitgenossen, dafür aber sehr natürlich-universell, ehrlich und kraftvoll.

Neben klassischen Gedichten und längeren Zyklen hat er auch für sich eine neue Art von Lyrik, in Verbindung mit der Dramatik, geschaffen, die in dieser Auswahl leider nur in sehr kleinen Auszügen zugänglich ist.

“Ein wirkliches Gedicht hält sich niemals in der Ecke der Träumerei auf.
Es ist stets zur erforderlichen Stunde da wie der bewusste, bereitwillige Arbeiter,
es ist ein entschlossener Soldat, der “hier” ruft beim ersten Appell seiner Zeit.”

Ritsos lebte in bewegten Zeiten (1909-1990). Seine Heimat Griechenland machte in schneller Folge sehr viele tief greifende Veränderungen durch, angefangen bei dem Einsturz des feudalen Systems vor und im ersten Weltkrieg, dann die Okkupation im Zweiten Weltkrieg durch die Achsenmächte, dann die Nachkriegswirren, Militärdiktatur und Wirtschaftskrisen.

Ritsos war sowohl im Krieg, als auch während der Militärdiktatur in Gefangenschaft und in Arbeits-/Verbannungslagern, weil er sich für eine sozialistischorientierte Demokratie stark machte.
In seiner Lyrik bewegt er sich gleichsam abseits und in den Erfahrungen seines Lebens. Er dichtet keine politischen Gedichte, aber einige seiner Gedichte sind nicht ganz unpolitisch. Er ist kein Gesellschaftskritiker, sondern ein lyrischer Erzähler und Antaster, aber trotzdem erzählt er eben auch von der Gesellschaft und dem Guten und dem Bösen darin.

“Schön waren jene Tage auf den Plätzen der Viertel,
und barfüßige Kinder in geflickten Kleidern
riefen Worte aus – sprachen über die Zukunft,
öffneten mit ihren erregten Fingern große Fenster in den Himmel.”

Vor allem ist Ritsos ein Dichter der Hoffnung und des Einklangs. In allem, was er schreibt ist das Sonnenuntergangsgefühl enthalten, mal offensichtlich, mal unterschwellig, mal melancholisch, mal beschwörend, mal nur gefühlt in Stil und Takt. Oft kann man geradezu sängerische Passagen in seinen Texten finden, die klassischen griechischen Volksliedformen oder epischen Gesängen ähneln (viele seiner Gedichte wurden später auch tatsächlich vertont, was ihn erst in seiner Heimat und darüber hinaus richtig bekannt machte). Doch zu schlichten Gedichten werden sie wieder durch ihre Natürlichkeit, ihren aufblitzenden, unpathetischen Streifungen.

“Freude, Freude, Freude –
Wir haben das große Unabsichtliche berührt,
das keine Absicht erfordert.
Gott selbst verwirklicht sich
in unserem Kuss.
Stolz erfüllen wir den Auftrag
des Unendlichen.”

Man sollte Ritsos lesen wenn man viel für die unwillkürliche und einfache Schönheit übrig hat, die eine Erzählung im Gewand von Dichtung und Darreichung bieten kann; dennoch sollte man auch ein bisschen Konzentration und Aufmerksamkeit mitbringen, denn wie immer zeigt sich die wahre Größe auch dieses Lyrikers in den beinahe wie unabsichtlich daherkommenden Zeilen, in denen er an uns selbst heranzutreten scheint und kurz für uns das Buch des Lebens auf einer uns bekannten Seite aufschlägt und uns aufzeigt, wie wir sie noch nie gelesen haben. Wir ahnten es und diese Ahnung erfährt in der Textzeile eine neue Form von Wirklichkeit.

“Viele Gedichte sind wie silberne Fäden,
an die Glöckchen der Sterne gebunden –
wenn man dran zieht, lässt ein silberheller Glockenschlag den Horizont erschüttern.”

“Der Tag brach an.
Eine Katze spielt auf dem Feld
mit den Zitronenbechern des Mondes.”

Gedichte sind da, um sich der Schönheit der Welt nicht nur zu vergewissern, sondern sie auch noch öfter zu erleben, als es gemeinhin vielleicht möglich wäre; also auch um sie anders zu erfahren. Viele von Ritsos Gedichten schaffen das, mit einfachen lyrischen Worten und schlichter, doch einfallsreicher Metaphorik, die im Ganzen über sich hinauswächst.

Ihm selbst sei das letzte Wort gegeben:

“In diesen Tagen jagt uns der Wind.
Rings um jeden Blick der Stacheldraht,
um unser Herz der Stacheldraht,
rings um die Hoffnung Stacheldraht. Sehr kalt dies Jahr.
Näher. Noch näher. Kilometerweit Wasser um dich herum.”

“Die anderen werden lächelnd sagen: “solche Gedichte
schreiben wir allemal”. Das wollen wir auch.
Denn wir singen nicht Bruder, um die Welt zu unterscheiden,
wir singen, damit die Welt sich vereint.”

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Opera / Choral – Jean Cocteau, Gedichte zum Ersten


“Dass ich vom Zufall des Mysteriums profitier,
Von Himmelsfehlern auch, ich muss es eingestehen.
All meine Poesie liegt darin: Ich kopier
Das Unsichtbare bloß (nur könnt ihr es nicht sehen).”

Jean Cocteau – vielleicht der einzig wahre entfant terrible der frz. Literatur; exzessiver als Rimbaud in seinem Leben, konsequenter als Apollinaire in seinen Dichtungen, visionärer in seien Abgründen als Genet. Und doch hat er eines der schönsten, geheimnisvollsten und einzigartigsten Bücher aller Zeiten geschrieben: Kinder der Nacht. Hinter diesem Meisterwerk muss vieles zurückstehen, sowohl die griechisch-antik orientierten Anarchie-Dramen und auch die sonstigen Prosawerke, ebenso wie die Gedichte.

“Hier singt die Nachtigall wie unsre Welt verendet;
Gott kommt als Freund daher in ihrem Tränenschwall.
Ein Stoß trifft sie ins Herz, ein Kiesel, abgesendet
Von einer Schleuder, holt herab die Nachtigall.”
[…]
“Matrose, steh auf, die Geographie!
Auf Sternenzweigen wiegen sich die Vögel,
Judas, wieder erkannt auf der Photographie,
Der Engel hängt im Netzwerk seiner Segel.”

Französische Dichter haben den Hang elementare Dichter zu sein; in ihrem Land sind fast alle neuzeitlichen Schulen gegründet und jede Art von Avantgarde betrieben worden – und die wichtigsten Dichter Frankreichs sind bis in die heutige Zeit für ihre extravaganten Dichtungen bekannt, selbst der fast schon klassische Francois Villon (wobei Victor Hugo eine Ausnahme sein mag.)

“Was ich auch tue, ich errege Anstoß”, soll Jean Cocteau einmal gesagt haben. Sicherlich hat er damit nicht nur sein Leben, seine Affären mit Männern und Frauen (unter denen sich auch einige Adelige befanden), seine Opiumsucht und seine zeitweilige Sympathie für fragwürdige Systeme wie den Faschismus gemeint, sondern vielmehr sein vielfältiges künstlerisches Werk, dass sich vom Film über die Literatur bis hin zur Malerei erstreckte. Cocteau, der immer darauf bestand, nur Dichter zu sein und der sein gesamtes Werk “Poesie” nannte, wird heute in seiner Funktion als Universalgenie, viel zu oft übersehen. Sein dichteres Werk ist bei all dem noch am meisten klassischen Formen und persönlichen Themen verpflichtet.

“Der Schlaf ist eine Fontäne.
Versteinernd. Der Schläfer nickt ein,
Die ferne Hand wird ihm Lehne,
Er selber zum farbigen Stein.”

Die beiden hier enthaltenen Lyrikbände Cocteaus, “Opera” und “Choral”, sind die frühsten lyrischen Arbeiten. Das erste, Opera, ist ein ziemlich wüster Zusammenschnitt aus Gedichten, Prosaskizzen und 3-4 sehr kurzen Dialogen; es sind allesamt Farbengemische, Spielereien, unter dem Einfluss von Opium und surrealistischen Ästhetikansätzen entstanden. Ihre große Bilderkraft, ihre Spektraltiefe und ihre schwimmende Leichtigkeit, sind sehr konträr gesetzt zu den teilweise sehr bizarren Windungen, die vor allem die Prosaskizzen aufweisen. Vieles wird wild durcheinander geworfen, verfremdet und gleichzeitig assoziiert. Wer Opera lesen will, wird sich wahrscheinlich vorkommen, als hätte man ihn mit Poesie übergossen. Wiederum: einige wunderbare Bilderflecken wird man so leicht nicht mehr aus dem Mantel seines Gedächtnisses herausbekommen.

Die Zusammenstellung für “Opera” entstand in einen Sommer, den Cocteau im Hotel Welcome an der Côte d’Azur verbrachte. Er schrieb sehr viele Gedichte und nur wenige, die gelungenen, wählte er dann für “Opera” aus, sodass dieser Band mehr eine Collage, ein Magazin, ein Lesebuch darstellt, eine Verbindung heterogener Ideen und Ansätze.

“Choral”, der zweite Band, geht in eine ganz andere Richtung. Er setzt sich aus homogenen, strengen Versen zusammen; in der Mitte wandelnd zwischen Tradition und seinen eigenen kreativen Heimsuchungen, hat er mit diesen Liebesgedichten an seinen Freund Raymond Radiguet eine tief zerrissene Poesie der Sehnsucht und der Vereinnahmung erschaffen, ein Sinnbild, das in Schwarz und Weiß, gleichsam Verlangen und Vergehen, Liebe und Tod, zeigt; das Buch erschien kurz vor Radiguets Tod an Typhus im Jahr 1922. Es ist ein Bekenntnis und ein zutiefst menschliches Werk.

“Wir müssen uns beeiln, die Zeit verrinnt ja bald,
Lass uns Enthaltsamkeit und Ruhedurst verneinen.
In ein paar Tagen, da wirst du noch jung erscheinen,
Ich jedoch nicht. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt.”

Cocteaus Gedichte sind eine Sache für sich, wie so oft bei französischen Dichtungen. Ihre Triebfeder und ihren Glanz, stellen nur die Gedichte selbst, mit ihrer nie endenden Suche in den Schatten. Einzigartig bildervoll und bilderscheu, dabei immer wieder unwillkürlich, in Farbengemischen zwischen Tiefschwarz und “Sonnenlichtdurchpiniennadelnmandelgelb” wandelnd, so bewegt sich Cocteaus Lyrik. Manche werden meinen, dass solche Dichtung uns nichts wirklich zu sagen hat; doch andere halten dagegen: Immer wieder aufs Neue hat sie uns etwas Neues zu sagen.

“Der Himmelsbaum war mein, Gewächs von Adernschlingen.
Wo Stille als Musik aus Bambusflöten dringt,
Wollen Chinas Henker mich gleichwohl zum Schweigen bringen
Und streicheln zart den Tod, damit es auch gelingt.”
[…]
Ich sang, die falsche Uhr der Zeiten zu betrügen,
Auf mannigfache Art.
Das hat vorm Drang der Gewohnheit Lob zu lügen
Und noblem Eis bewahrt.”

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Regen der Wörter trifft Wellblechdächer des Sinns, oder: “über die folgen sind wir uns nie im klaren gewesen”. Daniela Seels Debüt.


“ich wollte langsam

berührt werden

von dieser lilie vom pulsieren
aus möwe und licht frierend
im linken blinzelnden auge”

Es gibt Gedichte (man könnte sie klassisch nennen), die gehen aus den Sequenzen des Bewusstseins, die unser Dasein bestimmen, hinaus und erschaffen Zusammenhänge, bilden konzentrierte Harmonien, die uns das Gefühl geben, unser Bewusstsein innerhalb des Gedichts zu erweitern und einmal einen Raum, eine bestimmte Umgebung oder Begebenheit, zusammengenommen und vereint zu sehen, zu fühlen, die wir sonst nicht in dieser Fülle und Abgestimmtheit wahrnehmen können.

Und es gibt Gedichte, die gehen in die Sequenzen hinein, um sie als Poesie zu verwirklichen – eine Lyrik, die Sprache an ihrer Wurzel möglich machen will, statt mit ihr das große Gesamte nur möglichst wirksam zu beleuchten. Eine Lyrik, die lieber ein Messer mit vielen regelmäßigen Zacken ist, als einen glatte Klinge.

Und es ist schon interessant, dass sich aus dieser Verschiedenheit der Herangehensweisen an das Thema Gedicht immer wieder ergibt, dass es keine “geeignete” Form dieses Genres gibt, sondern die Botschaft und das Können des jeweiligen Dichters und die Ebenen, auf denen dieser sich bewegt, entscheiden, ob einen ein Gedicht etwas angeht oder nicht.

“wir blättern einander bilder zu wir dichten
räume uns darin zu bewohnen wir werfen
unsere schatten ins lot wir schnüren blicke”

Daniela Seel, der wir einen der wenigen sehr lyrikorientierten Verlage Deutschlands zu verdanken haben, hat mit diesem schmalen Buch ihren ersten Gedichtband vorgelegt. Was erstaunlich ist, denn er hat so wenig von einem Debüt. Man könnte jetzt von Reife anfangen, hässliche, wohlfeile Wortfratzen mit Wörtern wie “ausgeklügelt” oder “Wortschatz” schreiben, loben, himmelhoch und genauso tief in stotternder oder fachlicher Erklärung fallen. So ist es der Versuch, schlicht und doch wahrhaftig zu sein, wenn ich sage, dass ihre Gedichte und ihre besten Zeilen tatsächlich unabwendbar scheinen und es wohl auch sind.

“raschelndes räumen, das läuten des laubs
unterm zur erde gebogenen blau.”

Aufmerksamkeit und Unscheinbarkeit müssen zusammenfinden, will man Seels Gedichten nahe kommen. Das “läuten des laubs/ unterm zur erde gebogenen blau” ist gut versteckt in einem Labyrinth der Reflektionen, verdunkelten Streiflichter und abgesperrten Zonen, an denen die Worte sich die Begriffe ausbeißen.

Gedichte lesen heißt oft auch aus den eigenen Gedanken in andere zu verschwinden; meist nur kurz und nur um sich nach der geistigen Erfüllung in vollkommenen Wahrheiten zu strecken, die das Gedicht – blitzlichtstark – offenbart, hier und da und oft erst gegen Ende.

In Daniela Seels Gedichten hat man das Gefühl in jedem Satz von Rand zu Rand mitdenken zu müssen, darin verschwinden zu müssen – als wäre das ganze Gedicht eine Flucht, die man bis ganz zuletzt miterleben muss und in jedem Moment; als gäbe es kein Gedicht, sondern die Sprache als Form, den Inhalt als Muster, den diese Form offenbart.

Und die wahre Kostbarkeit der Texte liegt weder in den dichten, schräg gestellten Objektiven der Sprache und ihrer Versuche, noch in den sinn-zersetzenden Momenten, in denen Verstehen und Vermitteln sich gegenseitig in die Karten gucken, um zu sehen, was für ein Spiel der jeweils andere spielt, sondern meisterlich in beidem zugleich, wie bei einem Schachbrett, wo die jeweils dominierende Farbe die ist, die man nicht mit dem Blick fixiert.

“wir schliefen uns wund
an den umrissen früherer abwesenheit,

wir glaubten an die rückversicherungen
einer stockastik, bei jedem ich-liebe-dich”

Wen ich bisher abgeschreckt habe mit meinen Erläuterungen, dem möchte ich noch einmal kurz und knapp sagen: Diese Debüt ist zwar kurz, aber an Dichte kaum zu übertreffen. Es ist sicherlich nicht einfach zu lesen, eigentlich ist man sogar gezwungen, jedes Gedicht mindestens zweimal zu lesen, auch weil man es oft aus Gewohnheit übereilt und zu sehr auf das offenkundige Filmerlebnis der Schlagwörter vertraut und zu wenig auf die Linie der unauffälligen Informationsketten und sinnerweiternden Begriffsabfolgen . Aber Einsammeln ist die Devise. Die Sätze einsammeln, die Worte sehen – Stück für Stück. Dann ist der ganze Band eine bemerkenswerte, wenn auch immer leicht entzogene Erfahrung.

“beide hände dicht vor stirnen schlagend
beäugten wir das liniennetz”

“wiederholte testreihen”, so heißt einer der Abschnitte des Bandes. Es ist eine sehr gute mechanische und formale Beschreibung der meisten Gedichte. Wörter und Zustände, aneinandergereiht wie Testreihen, wieder und wieder. Das dahinter mehr steckt, wie bei Brodsky hinterm dem behäbigen Ton seiner Elegien oder bei Grünbein hinter der Formulierung “Grauzone Morgens” ist die Kunst – die Kunst gute, lesenswerte Gedichte zu schreiben, die ihre Wirklichkeiten mit einer flüchtigen Präsenz von Idee übertreffen.

“wir schrieben uns als aktenzeichen in die Laufmappe
eines allgegenwärtigen Protokolls”

“schuld scham was tun wir
einander lächelnd an ich frage noch einmal was tun wir
einander gutes und wann”

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