Monthly Archives: February 2014

Impressionen zu Michael Krügers Gedichten, gesammelt in “Archive des Zweifels”


“Stimmenverluste, Tanz der Gesten,
wenn die Antwort sich nicht mehren
will”

Übersetzer, Romancier, Herausgeber, Lyriker, Anthologist – Michael Krüger hat in seinem Leben das erreicht, was mancher Literat wohl trotz breiten, tapferen Lächelns nicht mit dem kleinen fiesen Zahnschmerz des Neids betrachten kann.
“Mein Ziel ist es, den Menschen zu zeigen, dass ein Tag ohne die Lektüre eines Gedichts ein verlorener Tag ist”, sagte er einmal in der Zeitung “Welt” und wenn man sich die umfangreiche Arbeit, die der Carl-Hanser Verlag (bei dem er bis vor kurzem Leiter und Geschäftsführer war) auf dem Gebiet der Lyrik unter ihm geleistet hat, ansieht, kann man diesen Wunsch wohl als teilweise erfüllt betrachten.

“Das Auge der Sehnsucht vereiste,
ein Gedicht begann sich zu schreiben.”

Und dann sind da seine eigenen Gedichte. 1976 erschien der erste Band, “Reginapoly”, 2010 der neuste: “Ins Reine”. Der Umfang dieser Sammlung erstreckt sich von der Anfangszeit in den 1970er Jahren bis 2001.

Gleich zu Anfang kann (und muss) man sagen, dass es nicht leicht ist, sich den Gedichten Krügers wirklich anzunähern, da sie oftmals diese parabolische Note der Gegenwartslyrik haben, die den Sinn der eigenen Konstruktion nicht unmittelbar eingesteht, sondern dem Leser überlässt wie eine Entdeckung, die er selbst deuten muss, eine Aussage, deren Bezug er finden muss. Es gibt Dichter, die errichten mit jedem Wort, das sie schreiben, eine Art Halbblende zwischen sich und dem Leser; diese Dichter gehen zumeist in die Sprache hinein, bewegen sich lange auf möglichst engen Pfaden darin herum, bis die langsame Andeutung einer großen Zentrifugalkraft entsteht. Seltsamerweise ist Michael Krüger zwar in erster Instanz durchaus ein Dichter, der hier und da eine Halbblende errichtet, aber andererseits in der zweiten Instanz einer, der sich nicht in die Sprache hineinbegibt, sondern sich von ihr entfernt.

“Es ist wieder die Stunde des Abschieds
der Bilder: jetzt wollen wir sichtbar werden.”

Manche Gedichte sind kostbar wegen des Augenblicks, in dem einem bewusst wird, wie nah sie einer Wesenheit gekommen sind, ja das eigentlich nichts mehr zwischen ihnen und dem realen Abschein der Dinge steht. Ein Moment für den wir Gedichte lieben, Augenblicke, da sich zwischen das Eigene und das Andere das Gemeinsame schiebt, von der Erinnerung bis zum Bild.
Andere Gedichte sind kostbar, weil wir sie als zweiten Raum, als zweite Wirklichkeit betreten können. Sie blitzen nicht von der anderen Seite der Wirklichkeit herüber, sondern holen uns zu sich, in eine eigene, sprachgebaute Vorstellung einer Reflexion auf die Wirklichkeit.

Michael Krüger schreibt (größtenteils) Gedichte der zweiten Kategorie. Der Nachteil an dieser Art von Gedichte ist, dass sie uns nicht finden, sondern dass wir in ihnen suchen müssen, als wären wir selbst eine Art zweiter Autor, der die Zeilen absucht wie ein Dichter die Welt nach Material. Wir müssen nachempfinden, die Worte abschreiten, erreichen, was der Dichter uns zutraut zu verstehen, wie er es wahrscheinlich selber treppenstufenartig begriff, in der Niederschrift, und es dann noch so lange schliff, bis es nicht mehr bloß die Wiedergabe, sondern der vielfältige Ausdruck des Momentes wurde.

“Nichts hält den Tag besser zusammen
als dieser eine lange Blick aus dem Fenster.
Man lernt mit den Augen, wie Empfindungen
zu Worte kommen, wie die Wörter heilen
und wir mit den Wörtern.”

Das alles klingt jetzt vielleicht als wären Krügers Verse furchtbar kompliziert, was nicht zutrifft. Sie sind bezeichnend für eine bestimmte Art von Poesie, eine Poesie, die jemand zu schreiben scheint, der nicht schweigen kann und doch nur in eigenen Formel sprechen will, in Fugen vom Auseinanderdriften des Ichs in der Landschaft Leben. Und all das ist natürlich nicht einfach zu erfassen. Aber wenn man anfängt zu begreifen, dass die Schönheit nicht selten hinter den Spiegeln liegt, sondern darin, lernt man auch diese neue Art von Lyrik für sich zu entdecken.

“bis sich ein Wort ergibt, dem du vertrauen kannst.
Es bringt dich zurück in den Satz.”

Natur und die immense Intimität des Schweigens breiten sich in Krügers Gedichten aus. Thematisch kann man ihn letztlich jedoch nicht festlegen. Er schreibt Tiergedichte, die an die von Ted Hughes erinnern, kann impliziert schreiben oder sich ganz vom implizierten Schreiben abwenden, als wäre es im Sinn plötzlich windstill geworden. Hier und da ist seine Poesie sehr am Wesenhaften interessiert, z.B. wenn er schreibt:

“Nur das Gedächtnis
ist nicht zu erkennen. Schwer liegt es
hinter den Augen und zischt
wie heruntergebranntes Feuer,
wenn eine Träne hineinfällt.”

dann wieder ist da eine großes Desinteresse am Wesentlichen, das sich zerstreuen lässt durch die Sprache, was Krüger immer wieder gerne demonstriert. Und doch ist, vom Thematischen abgesehen, all das wie ein riesiges Manuskript der Gedankengänge, in dem wir nur hier und da auf eines der Zeichen stoßen, die sagen, dass alles ein Labyrinth ist – hier und da dann wiederum eine Ahnung, dass alles ein Ausgang ist und oft, gegen Ende, die Erfahrung, dass möglicherweise die Wände das Ende der Dinge sind, in ihrer ganzen frei verfügbaren Fläche.

“Resignative Theorien,
dachte ich, haben auch ihr Gutes:
Sie werfen lange Schatten, in denen
man sich ausruhen kann.”

Letztlich hat alles was Krüger schreibt etwas von einer Chronik, der Chronik einer (un)beherrschten Seele, die sich ihre Wege und Momente nicht aussuchen kann und doch in Worten eine Auswahl trifft, eine Perspektive, die ihr allein gehört. Innerlichkeiten, Historie, Wege, was wir waren & sind – aber darin findet sich trotzdem immer eine Frage, die weg von all dem weist, als wäre das Leben tatsächlich “immer anderswo”.

“wie schwer es ist,
seine Erfahrungen in Sicherheit zu bringen”

schreibt er. Vielleicht ist es unmöglich. Aber das Gedicht ist trotzdem ein Versuch die Hülle der Momente gegen ihr Innerstes zu tauschen. Und mehr als Versuche kann man nicht bieten – von diesem Punkt aus gesehen ist Michael Krüger einer der ehrlichsten Dichter, die ich je gelesen habe. Und auch wenn ich auch gerne die offensichtliche Schönheit manch anderer Dichter der etwas leerstehenden, filigranen Resignation vorziehe, die gegen das perfekte Doppelpassspiel der milden Verzweiflung so oft nicht ankommt, findet man sich nach der Lektüre dieser Gedichte doch irgendwie mit einer gewissen Wehmut an einem anderen Fleck in sich selbst wieder, einem Fleck großen Bewusstseins für viele kleine Eigenheiten des Denkens, Lebens, Fühlens, Sagens. Der große Fluss einer dunklen Poesie hat einen mitgezogen und alles blieb stehen, außer dem eigenen Atem, dem eigenen Blick und im Nachhinein hat diese ganze Erfahrung mehr etwas von einem Gewinn als von einem Verlust – wie ich finde, noch eines der besten Dinge, die man nach dem Lesen über Gedichte sagen kann.

“Nur langsam frisst sich die Zeit
durch die Bilder;
und wir kostbar.”

Alles in allem: Michael Krügers Gedichte mögen unter dem Titel “Archive des Zweifels” versammelt sein, aber wie er selber sagt:

“Das Puppengesicht der Zeit schreit
nach teilnahmsloser Beschreibung.
Und keiner da,
der ohne Wärme sprechen könnte.”

So sind auch seine Gedichte dem Zweifel zwar sehr zugetan, aber wohin führt der Zweifel schließlich: Entweder zu Resignation, Stillstand – oder zu einem neuen Glauben. Er ist schmal dieser Glaube, weitet sich aus unter den Ästen, Vögeln, Minuten und Stunden, die Krüger so verdammt gut beschreibt; den Wellen des Sees, den Ärgernissen und Kompromissen, dem Vergessenen und Betrachteten – aber verloren gehen kann er nicht. Das ist letztendlich die Essenz aller Krügergedichte, in eine Geste gebunden oder darüber gestreut oder sogar mit Witz oder Hermetik angegangen: Verloren gehen kann er nicht, der Glaube an das nächste Wort, die nächste lyrische Episode. Sie findet sich zwischen den Resten von dem, was bleibt, als etwas noch kleineres, aber nicht als etwas Ungreifbares.

“Nein,
du kannst dich nicht schützen, das Vergessen
ist unbegrenzt haltbar.”

“Irgendwie werden wir überleben, trotz aller
fertigen Sätze, die vor Ungeduld zittern.”

Großer, kunstvoller Resonanzboden, das ist Krügers Lyrik in Summe. Eine Riesenraum voller Ideen – was auch sonst? Vielleicht wollte Michael Krüger auch dieses “sonst” erreichen und es steckt wohl auch ein wenig darin. Ich habe aber, ehrlich gesagt, nicht danach gesucht. Es gibt genug anderes hier zu finden.

“Geh mit dem Wind, dem letzten
Erzähler, der dir nichts zu sagen hat.”

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Von der Schönheit so viel Ungesagtens: Gedichte von Johannes Kühn


“In Gesprächen wohn ich nicht gern.
An der Eiche lieber
meine Schulter,
allen Stämmen zugelehnt die Stirn.”

Wenig Freiheit und Wirkung liegt in dem Gedicht, das sich nicht zugesteht mit den Mitteln zu entstehen, die dem Dichter am natürlichsten und besten erscheinen. Dichtung mag ein Ereignis sein, aber ein Ereignis ist nicht unbedingt ein knallbuntes Spektakel, sondern kann auch eine sehr kleine, doch ständig präsente Stimmung sein, ein Strauch, ein Sommertag, ein Abend im Gasthaus, eine Stunde am Fenster. Ereignisse, so könnte man sagen, sind die Momente, in denen wir auftauchen – in denen wir nicht nur sind, sondern uns der Erfahrung des Seins auch ganz aussetzen können. Gedichte simulieren diese Auftauchen und sind gleichermaßen selbst ein Ereignis – so auch die Gedichte Johannes Kühns, der zusammen mit Rainer Malkowski und Peter Huchel zu den schlichten großen Dichtern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert gehört. Mit diesen beiden hat er dabei vor allem gemein, dass er alltägliche Aussichten und Vorkommnisse, karge Natur und tief liegende Gefühle, auf sehr eindrückliche Weise hervorzuholen versteht.

“Wer wirft gelesene Briefe aus dem Wolkenfenster?
Zerrißne Zettel,
von Bitten voll,
nun kehren sie zurück
als Flocken,
es war noch Sommer,
was verfasstet ihr da Klagen, als ein Feuer,
stand radgroß,
alle wärmend, oben.”

Dies Auswahl in diesem Band ist so etwas wie ein Lesebuch. Lange Zeit war Kühn nicht sehr bekannt und bis in die 90er Jahre hinein blieb ihm breite Anerkennung verwehrt und er hörte sogar eine Weile auf zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt wurde sein bis dato verfasstes Werk gesammelt und veröffentlicht.
In elf Kapiteln sind hier nun alte und neue Gedichte zusammengekommen, durch die einzelnen Kapitel vor allem umgebungsthematisch getrennt. Übergreifend sind fast alle Gedichte, außer einigen beeindruckenden Widmungen an Dichter wie Trakl oder Hölderlin, in sehr einfacher Form und Sprache gehalten, wobei die Schönheit der langsam aus Form und Worten aufsteigenden Imagination, oft über die Einfachheit der Darstellung hinauswächst und eine unnachahmliche Vorstellung ergibt. So werden Kühns Betrachtungen und Geschichten Stück für Stück zum Erscheinungsbild der Dinge.

“Die Nadelstiche der Libellen nähen
am blauen Tag ein blaues Kleid
der Wassernixe,
die am Abend kommt,
es fortnimmt,
so jeden Sommertag.”

“Dann kommt die Sonne
und malt zu Goldbuchstaben
Fenster und Fenster.
Der Himmelszug
der Habichtszeilen
drängt sich ins Herz,
gelungener Schulaufsatz
vom Glück.”

Er erschließt Stimmungen, als wären sie tatsächlich in den Worten anwesend – und in seinen Versen strahlt die Realität manchmal und urplötzlich wie etwas Verheißungsvolles, Schönes, Tieferes – zumindest wie etwas, dem nicht der Verstand, sondern nur das Gefühl ebenbürtig ist; auch etwas Trauriges, möglicherweise, weil es einem nicht gehört, was aber, wie Brodsky richtig meinte, “ein wesentlicher Zug des Schönen ist”.

Wahrscheinlich ist vieles, was man sonst über die Gedichte noch sagen kann, zu eng gegriffen, um alle Wege ihrer Sprache anzudeuten. Kühn lebt die Mythologien von Natur, Dorf, Wald und Wiesen aus, belebt sie wieder und verschmilzt sie mit dem Tagwerk, Leid und Trost der Menschen; aber er hat auch oft ein instinktives Gefühl dafür, wo ein Gedicht hin will und wie man es innerhalb seines Themas, ganz ungewohnt, aber vortrefflich, wendet oder vollendet.

“Wenn ein Geizhals am Ursprung der Wetter säße,
gäbe es nur einen Sonnenstrahl,
die anderen hielte er zurück
für sich.”

Der echte Dichter wird stets bemüht sein, eine eigene Stimme zu entwickeln. Und an den schönsten deutschen Dichtern kann man immer wieder sehen, dass man dafür keinen extravaganten Wortschatz zu kreieren braucht, sondern nur die Dinge lange genug mit den Augen der Sprache betrachten muss – eine Kunst, die Johannes Kühn so vortrefflich beherrscht.
Über eine Hochzeit schreibt er:

“Maiblüten
in die Straßen herein
werfen aus grünen Hoffnungsbäumen
sicheren Schein
in der Braut Gesicht
und die Seele leuchtet von Innen.”

Ein Bild wie für den Moment geschaffen, in dem es einst geschah, gemalt für die Vorstellung, welche immer und überall Wunder sehen kann, wenn sie nur will.

Ganz zuletzt sei nicht verhehlt, dass auch zahlreiche ernste und melancholische Töne auf diesen Seiten zu finden sind. In ihnen liegt die machtvolle Ruhe eines Dichters, der sich ganz auf die Dinge einlässt, beinahe verschwindet dahinter, ganz so als wären sie die, die schreiben und er nur das Objekt, das als lyrisches Ich passiert. Erfassungen von Wesenheiten, wie sie sonst nur das Unbewusste erreichen kann, in Form von breiten, einzigartigen, spezifischen Empfindungen, sind, allumfassend, Kühns großer lyrische Verdienst.

“Frühlingsschönes Denken an die Gärten der Kindheit!
Über mir der Schwalben Tintenflug
durch der Himmel Pergament
nahe mir die Buche,
die stand schauerlich gütig,
als hätte ihr eingeatmet
ein Greis eine Seele.”

Ganz zuletzt möchte ich noch aus dem Nachwort Ludwig Harigs zitieren, der sich sehr für die Anerkennung Kühns eingesetzt hat:
“Ihm, dem Dichter, offenbart sich – wenn man Peter Rühmkorf glauben darf – aus einem unvermuteten Augenaufschlag die Welt als eine Wundererscheinung. Doch mitten im Zauberglanz, rund umhüllt, der Wundererscheinung, bleibt er der realistische Dichter, der dem Geschauten zu einem zweiten Dasein verhilft.”

Ein Buch, randvoll mit dem zweiten Daseins vieler Dinge, die zurecht nicht in Vergessenheit geraten sollten, weil sie das Wesen unserer Welt auf einfache Weise zu präsentieren verstehen – so gut dargestellt, besser, als man selber oft hinsieht; fast durchweg eines der großen Leseereignisse in der deutschen Poesielandschaft. Eine rundum Erfahrung für alle der Welt verbundenen Leser, die auch ihre Schönheit immer wieder verheißen hören.

Zuletzt noch einige kleine Zitate:

Über einen Baum:
“O grüner Kopf, der mit den Vögeln denkt”

Über einen General:
“Orden wachsen ihm über die Brust
wie in reicher Wiese Margeriten im Frühjahr.”

Über den Fuchs:
“Sieh ihn,
gemalt als Fackel, Warnung vor sich selbst.
[…]
In Räuberein
hält er sich ritterlich schlank,
die Junker alter Zeit
in Gräbern modern. Er lebt.”

“Einen Weg geh ich, komme an, dort,
wo die Hecken wie Abenteuer leuchten.”

“Es schläft ein Igel leis
in mir: die Zuversicht.”

“Entzückt sitzt der Trinker
an seinem Glas,
und alle anderen Welten sinken.”

“Wer hat die Langweile,
den einhufigen Gaul,
meinem Lebenskarren vorgespannt.”

“Abends,
wie schnürt sich mein Atem.
Mit dem silbernen Mond
kommt mir die Erde
noch einmal entgegen”

Link zum Buch

Karl Krolow 1966-1970 – ein Ausschnitt


Wer sich mit Lyrik beschäftigt, stößt oft auf Extreme; er wird Einsichten erhalten in den Kern und gleichsam einen Ausblick auf die Grenzen der Sprache. Er wird viele Autoren treffen, die eine ganz neue Perspektive für die Wirklichkeit haben und andere, die einer alten Perspektive neue poetische Möglichkeiten einhauchen.
Nur wenige Werke haben sich dabei auf einem so breiten Terrain bewegt, wie das des Dichters Karl Krolow. Es ist eines der wichtigsten poetischen Werke der deutschen Moderne und eines der schönsten und zugleich wandelbarsten Erlebnisse in Sachen Dichtung.

Diese Zusammenfassung beleuchtet drei Gedichtbände Krolows aus den Jahren (1966-1970).

Teil 1: „Landschaften für mich“ (1966)

“Alles ist Augenschein.

Die Bäume haben
einen grünen Atem. ”

“Ein herabstürzender Ast
beginnt zu blühen. ”

Krolow durchmisst in diesem Band das Jahr. Er beginnt mit dem Licht, der zaghaften Helligkeit, die den Übergang zwischen Winter und Frühjahr weist. Dies Licht, das noch zu ermessen versucht, was hier beginnt, genau wie man selbst. Das Licht das aufbricht und das uns gleichzeitig erreicht.

Erste Anzeichen für Frühjahr. Eine zum Abheben bereite Sprache, tändelnd, schwebend. Ein Klopfen auf die Dinge, ohne das ein Herzschlag in der Natur schon deutlich antworten würde. Aber man spürt ihn schon.

“Es gibt noch kein Gras
zu besingen.
[…]
Nur in der Hand gesammelt:
Blau.

Weidenhaar einiger Mädchen.

Die Helligkeit ist frei
von Schatten.
Unruhige Freiheit
der Perspektive:

Frühjahr. ”

Ein Gedichtband der Elemente. Und so sind auch die Formen: knapp, elementhaltig, stellen sie die Erscheinung, die Wahrheit ihrer Überschriften, ihrer Jahreszeiten dar. Es sind Miniaturen, bedacht, fast unbewegt, nur ganz leicht im Ausdehnen.

“Aufplatzendes Laub –
tropische Ästhetik.

Die sinnliche Blätterrede
im haltlosen Regen.”

“Romanische Tugend des Lichtes:

Lotrecht fällt es auf den Scheitel
einer Laubpyramide.

Segmente blauen Wassers
zu ihren Füßen.

Über eine Baumleiter
in den Himmel steigen! ”

Es ist ein spürbares Paradies, das Krolow in den Naturimpressionen betritt. Ein Paradies in dem die Farben und die Eindrücke wie zärtliche Stärkungen der Wirklichkeit erscheinen. Sie alle beginnen wieder und wieder die Entzifferung des sachtgroßen Gefühls am Leben zu sein, mit den Dingen um sich herum – da zu sein.

Die Bewegung durch die verschienen Stufen der Naturzustände geschieht unbedacht und doch vollendet. Jedes Gedicht ist ein kleines Puzzlestück, egal ob es die Hitze in einem Garten, die innere Zusammensetzung einer sommerlichen Luft, die windige Seele von Meer gemischt mit frühem Herbst oder eine Prise vom Verfall und Aufbruch des Winters, wie einen nur knarrenden Sender im Radio, lauter gedreht, schildert.

“Azur: blaues Geräusch
des unerklärlichen
Horizonts.”

“Ermüdete Zeit
ruht sich aus
im Blühen von Gräsern. ”

“Ein gurrender Baum
fliegt als Taube davon. ”

Die Bilder sind so klein und doch so konzentriert, so folgerichtig und inhärent mit ihrem Wirkungsgemälde verschmolzen; egal, was die kleinen Impressionen schildern, sie bringen es nah heran, greifen es aus der Wirklichkeit, legen die Tektonik des Naturmomentes offen. Sehr gut zu sehen an diesem Stück aus dem Gedicht “Im Boot”:

“Die mit Weidenruten
geschlagene Windstille
seufzt:
Poesie
nachgiebiger Atmosphäre”

Es ist hier eine heile und bewegte Welt, die Krolow aufzieht, fernab der Problematiken des Lebens. Aber interessiert das die Jahreszeiten? Die gespiegelten Bäume, das teils dürre, teils strahlende, teils durch die Blätter tauchende Licht?

Landschaften ohne Aufmachung, dafür voller spielerischer Glanzleistungen und wahrhaftiger Augenblicksnotate erwarten den Leser. Keine Eindämmung der ankommenden Naturberührungen – nur eine Komprimierung durch Vergewisserung, durch das simple in Worte fassen; ein Klarwerden innerhalb der Begegnung, der Betrachtung, um das Auftreten all dieser Dinge noch fasslicher und unwillkürlicher zu machen – wie es ja auch im Auge, im Blut, geschieht.

“Alle Pflanzen wachsen
gotisch in den reglosen Himmel.

Die summenden Nerven
der Hochspannungsdrähte. ”

“Luftiger September,
wie bei Vivaldi
gebündelte Mandolinen.”

Es ist ein Buch über Frühjahr, Sommer, Hitze, Kühle, Spätsommer und schließlich den Herbst, den Winter. Ein Buch über den aufkommenden Rausch und das Schleichen der Jahreszyklen, -zeiten. Im Einzelnen fast schon wieder markant, aber immer irgendwie enthoben, in den kleinen, meist sehr weit geöffneten Bildern.

“Herbstlicher Kupferstich –
Walzerschritte eines Windes,
der Blätter von den Bäumen
reißt. ”

“Gefechte zwischen
Wind und Wind.”

“In den Medaillons
frieren die Verstorbenen
vor Liebeskälte. ”

Krolows ganze Stärke ist im ganzen Werk immer wieder das Ausrichten des ganzen Gedichts auf eine kleine Gewissheit, die daran bewegt wird, ruht oder wandert. Eine Gewissheit, die wohlweißlich unangetastet bleibt, aber eine Idee herausbildet, die verinnerlicht werden kann, um genauso tief zu wirken als wäre man selbst in ihr anwesend.

“Wie lange fällt
man noch durch weiße Kissen
Langsam tiefer
durch den Schnee mit
weißen Augen überall
die Luft entlang,
die Beine weiß, die Herzen
weiße Kissen. Immer mehr
schneit es die Hand entlang
und in den Mund und taut
ein bisschen nass auf Lippen”

Man kann wenig in diesen Gedichten suchen, wird aber einiges finden. Sie beherrschen die wahre Kunst des Gedichts: Augenblicke der Natur auf Pupillengröße zu verkleinern und doch nahezu unendlich weit zu fächern.

“Die begabte Jahreszeit
fällt mit Schnee und Birnen
durch Luftschlösser
zwischen Januar und Januar.
[…]
Ein verdutzter Mund
schweigt vor Gewissheit.”

Teil 2: „Alltägliche Gedichte“ (1968)

“Es regnet Leben
aus offenen Körpern.”

Und nun: Die Vergänglichkeit.

“Verstaubte Reisebilder –
gestern fuhren wir durch sie
ohne Atem. ”

Die alltäglichen Gedichte enthalten stärker als die “Landschaften” einen milden Fatalismus, sorgsam durch Poesie gekrümmt. Einige Zyklen über Liebe, Alter, die Stunden, alles im Zeitraffer der Worte, Zeilen, beginnen den Band, machen ein paar Pfeiler des Lebens aus und sammeln sorgsam einige Details, ohne etwas festzuhalten.

“In Wirklichkeit ist alles
ganz einfach: Gerüche,
Kastanien, Eicheln oder
ein Sack voller Obst. ”

Ein inhärenter Stopp, in jedem ausgeklapptem, ausgefahrenen Fernrohr aus Worten, gerichtet in die Dinge hinein, auf die in ihrem luftigen Raum kreisenden Mythologien, ihre Eigenschaften der Schönheit und Vergeblichkeit.

Immer mal wieder unnachahmliche kleine Gesten, so leicht, fast ein Witz, fast eine Idee.

“Zündhölzer stecken
die Köpfe zusammen.
[…]
Jedes Mal im Herbst
die Feuersnot
eines Blätterhauses.
Sturm warf die Lunte
nach ihm aus.”

Im späteren Verlauf, häufig: Die Natur. Natur als ein Auffangbecken für alle Eindrücklichkeit, jede Schönheit, die Sprache mit einer leichten Windung aufnehmen, einnehmen kann:

“Ausgelaufene Malkästen:
farbiges Idyll
vom Frühling.”

Alles in allem, erneut: Meditationen von Augenblicken, zurück in ihre Erscheinung geführt. Unsicher, aber nicht diffus, wie es lange Gedankengänge sind, in denen man sich gar nicht verlieren kann, weil sie eine eigene Form von Wirklichkeit abbilden, ja: die Wirklichkeit, in einer eigenen Fassung, sind.

“Ich gehe über die Straße.
Das macht die Gegend nicht anders,
ob ich meine Schritte zähle
oder nicht aufpasse und unterwegs
vergesse, wohin ich will.”

“Die Landschaft ist als Überzeugung
bequem zur Hand,
belaubt im Sommer, später kahl,
nur manchmal immergrün.”

Krolow war ein Poet. Seine Bücher sind Bücher in denen alles Poesie ist – beinahe wortwörtlich, jedoch nicht durch Typographie, sondern durch reine, komprimierte Leuchtkraft, die die Kürze und das schmale Timbre seiner Verse abgeben, wie volle, klare Kammermusik in einem spartanischen, winzigen Zimmer. Alle Gesten, alle Wörter – verdichtet zu sinngemäßen Eindrücken. Nichts geht hier heraus, alles geht hinein.

“Die Welt der Kunst besteht
aus zu schönen Augen. ”

Auch wieder Winter und Herbst, einfache Wahrheiten:

“Malergedanken
drücken den November
mit zwei oder drei Farben
aus.
[…]
Die eingesunkenen Straßen
erinnern sich
der Spiele im Freien. ”

“Die Kälte kommt aus der Luft,
die von keinem Blatt versteckt wird.
[…]
Jede Fläche wird größer,
wenn sie weiß wird. ”

Dann und wann hat es auch etwas von einer leichten Erotik der Natur, wenn Krolow nach einer komprimierten Ode auf Kirschen und den Kirschbaum schreibt:

“Der Tod kommt
Als Möbeltischler”

So klar in diesem Schlusssatz der Glanz des Tisches aus dem Baum, der einst rote, volle Kirschen trug, die der Wind noch näher heranbrachte, noch höher hinauf – das alles jetzt geerdet, auf vier Beine gestellt, glänzend, glatt, im Licht.

Die “Alltäglichen Gedicht” sind vielgestaltiger als viele von Krolows Bänden, eher unbestimmt und ein bisschen mit Lesebuchcharakter. Eine angenehme, zwischen Sachlage und Möglichkeit pendelnde Atmosphäre umgibt die Verse; ein von den Erfahrungen des Leben aufgeschwemmtes Gespür für die Dinge.

“Eine schlafende Möwe – die Luft. ”

Was bei Krolow auch hier wieder besticht, ist das landschaftliche, nun oftmals verknüpft mit dem Alteingessenen, Sehnsüchtigen, im Hintergrund, in den Objekten und Symbolen:

“Die grüne Hecke ist ein Zitat
aus einem unbekannten Dichter ”

Eine leichte Art nach Schatten (Schatten wie sie die Verschwiegenheit bei Kerzenschein wirft) liegt über dem Band, in dem es um viel geht – aber viel davon hat mit Gedanken und Betrachtungen, rückwärtsgewandt, zu tun. Mit flüchtigen Federungen der Gefühle, ohne festen Boden.

“Die vielen Namen im Fahrplan
verwirren mich.
Ich reise durch eine Landschaft
wie durch ein angefangenes
Bild.
Der bekannte Maler
verlor die Lust an ihm. ”

“Ich habe ein Abkommen
mit gestohlenen Tagen getroffen.
Dann füllen Sterbenswörtchen
das Papier. ”

Manchmal fliegen die Blicke über und durch diese Gedichte, als lese man eine Blindenschrift für die Augen. Oft nah an der Idylle, entschwinden sie ihr durch das Wesen des Flüchtigen, Alltäglichen.

“Gelegentlich habe ich
beschrieben gefunden,
wie es ist, wenn etwas
übrig bleibt –
von einem Nelkenstrauß
eine Nelke,
von einem mächtigen
ein toter Mann,
von einem Nachtessen
die Tagesordnung,
von der Liebe
ein Kind. ”

Am Ende ist es ein Band voller Bekenntnisse, die schon wieder vom abklingen der Klarheit sprechen, dem Ende der Gewissheit, dem Anfang neuer, bald alter, vielleicht letzter, Gelegenheiten, von Wegen & Bestimmungen. Hier fußt alles auf der gemessenen Tragweite von Krolows Idee der verdichteten Gedanken, verschmolzen mit dem, was an einem Punkt des Lebens zum anderen eine Verbindung aufbaut – nur durch Wörter, Poesie, wirklich abzubilden, wie darin etwas seine Abstände aufgibt und dich durchdringt.

“Ich bin da. Meine
rechte Hand fällt mir
nicht durch die Tasche.
Ich führe sie über Papier
um aufzuschreiben,
dass ich lebe. ”

Teil 3: „Nichts weiter als Leben“ (1970)

“Ohne Vorwurf vergeht
die Zeit.
Sie ist eine vollkommene
Geschichte ohne
Fluchtpunkt,
auf den man zugehen könnte,
um etwas zu finden. ”

Ein geruhsamerer, langsamerer Band erwartet den Leser in diesem 1970 erschienen Sammlung. Sie ist stark auf das Leben fixiert, das man im Umgang, im Handeln führt.

“Ich nehme mir,
was ich brauche,
als Indiz für den
Sinn der Dinge.”

Außerdem herrscht eine sehr reflexive, bedenkende Atmosphäre. Etwas zwischen Sachlichkeit und schmaler Bewunderung diktiert die zahlreichen Betrachtungen und Anmerkungen, die Krolow in seine Gedichte webt, die einem manchmal allzu unbeweglich vorkommen, trotz ihrer Weisheitsansprüche – vielleicht weil sie etwas zu verständig sprechen und etwas zu wenig mit der Krolow sonst innewohnenden leichten Verwunderung und Demut.

“Ich verschaffe mir Außenwelt
mit ein paar Sätzen –
Rundung des Blickfelds,
gleichmäßig verteilte Wärme
über der stilisierten Form
vegetativer Gebilde”

Eine andere Art von Demut hat die poetische abgelöst. Ein mehr erschließende Demut, die sich doch in einigem so sicher ist, dass sie wenig lebendige Worte findet.

“Die täglich schöne
Naturanschauung unterwegs,
wenn man zu gehen glaubt,
aber durch den stillen Fleiß
des Horizonts voran kommt,
der zurück weicht. ”

Alles wirkt etwas glatter, matter und mehr sorgfältig gezüchtet als unwillkürlich, lebendig. Dafür geschehen sehr einnehmende, tiefsinnige Momente, trist, aber nichtsdestotrotz nah an den Hügelhängen der Wirklichkeit.

“und im Westen
die Nacht kommt,
sehr einfach, mit Lichtern
überall, ein anschaulicher
Bienenkorb
und zwischen den Knieen
die verstaubte Flasche
langsam ihre Gegenständlichkeit
verliert, auf dem Tisch
zur anschaulichen Ewigkeit wird. ”

Natur spielt nur eine sehr kleine Rolle: Krolow bewegt sich nicht weit von dem weg, was er deutlicher als je im Auge hat: das Gewöhnliche mit einem unvergesslich-lyrischen Zug zu versehen. Das er es auf eher abgewendete Weise tut, bedächtig, nicht so explosiv, expressiv, schmälert gewiss nicht seine Bemühung, doch aber die Begeisterung des Lesers, der sich mit filigranen, aber etwas zu dichten und trostlosen Werk konfrontiert sieht.

“Frühjahr. Elemente
der Wiederholung.
Es gibt verschiedene
Szenen. Ein Vorhang
Wird zurückgezogen.
[…]
Das Publikum besteht
aus alten Leuten,
die aufatmen. ”

Noch mehr als in den “alltäglichen Gedichten” hat Krolow sich in diesem Buch den Betrachtungen alltäglicher Stimmungen gewidmet und so manchen sehr gewöhnlichen Moment eingefasst. Die Berührungen mit der Natur sind weniger fasslich, eher sporadisch-spontan. Dennoch: auch in diesen Gedichten ist viel an Wissen und Weisheit aufgebahrt, mancher poetische Moment und manche Brillanz.

“Man zählt sein Geld
für einen Ausflug
in den Schatten
und wünscht sich
leichten Wind.
der um die Ecke weht.

Ein stiller Dichter der Seelsorge : R.S. Thomas


“Sie sind weiße Nachtfalter
die Flügel
aufgeschlagen
über dunklem Wasser
als wollten sie fliegen,
doch aufgehalten
von ihren zarten Bildern
in seinen Mahagoni-Tiefen.”
-Aus dem Gedicht “Alpenveilchen”-

Der Titel dieser Werkauswahl von Gedichten des walisischen Dichters und anglikanischen Priesters R.S. Thomas – dessen Werk sich der Babel-Lyrik Verlag mit besonderem Aufwand angenommen hat (noch vier Gedichtbände sind dort bereits erschienen) – könnte nicht verfänglicher sein. Denn man könnte nun surreale, aber auch barocke, oder gar epische Psalmen\Gesänge\Insignien\ erwarten, doch nicht diese eher kurz gehaltene, sehr einfach inspirierte und doch tiefe Gedankenlyrik, die einem dann auf den wenigen Seiten entgegentritt. Nur ein einziges Gedicht ist (bei großem Druck) länger als eine Seite; meist sind es nur 8 oder 12 Zeilen. Zeilen in denen es auf sehr engem Raum um die Schönheit und das Sein geht und um ihrer beider Heimsuchungen.

“Ich sitze in der Vermittlung
der Fernmeldeämter der Menschen
aller Zeiten und empfange ihre Botschaften,
ob ich will oder nicht. Liebst
du mich?, schreien die Stimmen.
Und es gibt keine Antwort; es gibt
nur die Verträge und Machtübernahmen
und die Vision von verschränkten
Händen über dem unruhigen Blut.”

Fragen spielen eine zentrale Rolle in dieser kurzen Lyrik, existenzielle Fragen und doch auch die, die sich jeder stellt. Außerdem ständig anwesend: die Beschaffenheit des geistlichen Lebens und des Glaubens – Dinge bei denen Thomas wenig zu sagen hat, die er aber auf so schlichte und nachempfundene Weise schildert, dass sie kaum mehr etwas sakrales haben, sondern etwas ausgesprochen menschliches.

Insgesamt ist hier eine sehr gute Auswahl enthalten. Und manches Gedicht, ist, außerhalb von Form und Farbton, einfach anrührend aus dem Leben gegriffen. So jener 8zeiler, in dem ein alter Mann sich fragt, ob er mit einem jungen Mädchen tanzen soll und darf. Oder eine sehr entschiedene und menschliche Anteilnahme an dem Schicksal Gottes.

Es ist es die Kunst des Dichters, immer die richtigen Fragen zu stellen (wenn auch nur ganz still für sich allein) um dann Verse an die Antworten zu legen. Thomas nun stellt hauptsächlich die Fragen, auf das wir die Antworten selber finden. Und warnt uns gleichzeitig vor dem Verhängnis, dass eine zu einseitige Antwort hervorrufen kann. So bleibt seine Lyrik in der Schwebe, so wird sie zum Gruß an das Lyrische, das jeder Situation innewohnt und doch nur ein Spiel ist mit der Wirklichkeit, die sich nicht hinter, sondern vor der Welt befindet.

“Wohin sich wenden, ohne zu Stein
zu werden? Von der einen Seite
starrt die Medusa der Geschichte,
von der anderen die Liebe

an ihrem Kreuz. Während das Herz
sich füllt nicht mit dem Licht
aus dem Kopf, sondern mit den Schatten,
den zu viel solchen Lichts wirft.”

Link zum Buch

“Was ich begriffen hatte, sollte wirklich sein.” – Ursula Krechel und “Ungezürnt”


“Schienenstränge sind wir entlanggegangen,
die summten, pfiffen, zitterten
uns Fahrkartenlosen ohne Glück.
[…]
Und wieder reisen wir mit ausgeleierten Gefühlen
die Züge wollen nicht still stehen
eiserne Bänder winden sich um unsere Köpfe.
Du wirst nicht mehr reden wollen,
zwischen den Auskünften, ich will dich nicht mehr
anschauen wollen, stumm gemacht. Alles
geht irgendwie, die Fahrpläne überholen uns.”

Der Untertitel “Gedichte, Lichter, Lesezeichen”, der bei verschiedenen Plattformen für den Band “Ungezürnt” angegeben wird, ist etwas irreführend und lässt eine Art von Lesebuch mit Prosa, Aphorismen und Lyrik vermuten. Tatsächlich enthält der Band jedoch nur Gedichte (und drei Prosatexte über das Schreiben von Gedichten) und ist eine Zusammenstellung des dichterischen Werkes von Ursula Krechel aus den Jahren 1977 und 1997. Zusätzlich sind noch einige Anmerkungen und ein detaillierter Nachweis enthalten.

Ursula Krechel gehört zu der letzten älteren “Dichterinnen” der Bundesrepublik Deutschland. Ihre extravaganten und eigentümlich sprichwörtlichen Gedichte sind in der frühen (und der wie ich finde: besten) Phase des Werkes vor allem von Selbsterfahrungen und Landschaftsbildern geprägt, häufig verknüpft mit gesellschaftlichen Problemen und Tabus, die eine feine, rasiermesserdünne Gesellschaftskritik unter dem Mantel tragen – dass alles geschrieben mit einer verständigen Virtuosität, die prägend ist für Inhalt und Blickwinkel; so viel also zu den frühen Gedichten aus den Teilen I-III.

 

Teil Vier und Fünf nehmen sich der kryptischen und surrealistischen Gedichte an, die Krechels Werk später und noch heute ausmachen. Zwar ist der Surrealismus ein Zug, den Krechels Dichtungen stets ein wenig innehaben, der sich aber in den frühen Gedichten meistens in den Dienst des Verdeutlichens stellte, später oftmals die bloße Abstraktion sucht.

“Immer wieder das weiße Blatt
Schlinge für Schlinge Haken und Bögen
ein geordnetes Bild.
Die Lieder auf der Flucht:
zurückgeschickte Asylanten.
Ein Leben in den Grenzen von…”

Gedichte in den Grenzen von Versuch und Scheitern, von Leben und Gelebt haben. Viele von Krechels Gedichten bewegen sich auf mehreren Ebenen um komplexe Themen und Momente herum. Ihre Stärke liegt in der visuellen Vielschichtigkeit, die auch noch durch eine große Anzahl verschiedener Wortzusammenschlüsse und dem Einsatz von Sprichwörtern in sinnerweiterten Zusammenhängen forciert wird, aber auch in einer unglaublichen Stimmungsdichte, die in ihren besten Gedichten fast schon eine Art eigene Welt für das Gedichte entstehen lässt. Nachzuweisen ist diese Welt nicht; ihr Zugang liegt allein im Verfolgen, im Dranbleiben an den Zeilen.

“Die Welt heißt Wind und Weißdornhecken
wo Spinnen sitzen, bläst kein Wind
wer stört die Welt bleibt jetzt zu Haus
der Horizont hat ausgespielt
sein scharf gezackter Rand wird weich.”

Interessant sind auch die wenigen Prosatexte, in denen Ursula Krechel das Schreiben und das Verständnis von Gedichten analysiert; einer beschäftigt sich z.B. auf sehr aufschlussreiche Weise mit der Fähigkeit, ein Gedicht auch später noch selbst nachzuvollziehen. Ich habe selten so verwirrend-innerliche Prosaabrisse gelesen, die sich auf so detailliierte Weise mit diesem Thema beschäftigen. Das Zitat im Titel dieser Rezension stammt aus einem dieser Texte und könnte wohl auch als Credo für viele Dichter gelten.

“Ein gutes Kind gehorcht geschwind.
Heimlich lebte ich in einem Kartenhaus
und wartete auf den Wind.
Als der Wind dann kam
verlor ich meine Mütze und fror.”

Ursula Krechel ist eine exzellente Dichterin – was in diesem Fall auch bedeutet, dass sie eine Dichterin ist, die sich einem nicht so schnell vollkommen erschließt. Sie gehört zu jener Kategorie von Lyrikern, deren Texte mehr auf Assoziationen als auf Ergebnissen fußen und einer Konstruktion von Seiten des Lesers bedürfen, ja, darauf aufgebaut sind. Schön sind ihre Gedichte an manchen Stellen trotzdem, doch darin liegt nicht ihr großer Gewinn. Der findet sich in der langsam aus den Sätzen geschnürten Erkenntnis, wie bei einem Puzzle, wo die meisten einzelnen Teile scheinbar keine Chance auf etwas Gesamtes, Genaues haben und es doch am Ende, zusammen, ergeben. Dabei geht es nicht um Verstehen. Es geht ums Begreifen. “Es geht nicht um einen Stachel der gezogen wird, sondern um die Tiere mit Stacheln”.

“Und schon wirbelt meine Schreibmaschine Staub auf
die Bleistifte singen, und die Schere auf dem Tisch
mit ihren geöffneten Flügeln
ist ein Siegeszeichen für uns.
Kauf Solinger Metallwaren! Lest Gedichte!”

Ich empfehle diese Dichterin als eine der eigenständigsten Poetinnen in deutscher Sprache. Ihre Extravaganz mag nicht jedermanns Sache sein. Es wäre sowieso mal ganz wichtig, dass sich herumspricht: Man muss nicht jedes Gedicht verstehen. Aber die Gedichte, die (von einem) verstanden werden wollen, die wird man verstehen.

Am Ende noch einmal drei Zitatstellen:

 

“Hier nist ich mich ein
mit toten Sätzen voller Sehnsucht nach Leben

Ursula, was soll ich wählen,
fragtest du in unsere weiche Stille.
Da war sie zerrissen wie eine Haut und blutete.”

“Aber die Uhren ticken Versöhnung
als seien die Alten eine segnende Sterbehand,
als seien wir ihre blassen Verklärer.
Wer mit Dynamit fischt, fängt die abgerissene Hand.
Wer die abgerissene Hand fängt, verliert den Verstand.
Wer den Verstand verliert braucht keine Hand.”

“Alles von vorne und wieder zurück
in die selbstverständlichen Vorgärten
Gelegenheitskäufe und Betten
bekannte Gefühle schießen ins Kraut
Zäune, auf Papier erdachte Gespräche
Furcht, nach einer fremden Pfeife zu tanzen,
Schwindel, die Erfindung von Nähe”

Link zum Buch

“Der schöne 27. September” des eigenwilligen Elegikers Thomas Brasch (geb. 1945, gest. 2001)


“Auf einer Atombombe über dem Bahnhof Frankfurt, antworte ich,
wie still ist das hier im siebten Himmel.
Nur der Wind und der Gestank der Demokratie:
Lachend falle ich nieder auf das Gewimmel.
Auf einer Atombombe fallen in die Stadt Frankfurt am Main
zu Ehren der Bundestagswahl die Stimme abgeben,
einen Gruß überbringen den Volkspartein:
Das Parlament soll bis zum siebten Himmel hochleben.”
(Aus dem Gedicht: “Drei Wünsche, sagte der Golem”)

Deutsche Dichtung zwischen Tradition und Exodus, so könnte man die Pendelstrecke in Thomas Braschs Dichtung beschreiben. Stumpf, Karg, Launisch, Lakonisch – es fehlt nicht an graumelierten Adjektiven, um seine Sprache einzugrenzen, auch verwandte Dichter sind mit Nicolas Born und Enzensberger schnell gefunden. Doch da muss noch etwas anderes sein.

Wie kaum ein zweiter deutscher Dichter war Brasch ein Elegiker, der die Zärtlichkeit durch das Nadelöhr führte, der die Dunkelheit und die Lakonie wie einen Filzhut trug. Eigentlich dürfte man ihn gar nicht als Elegiker bezeichnen, wäre da nicht dieser stete, beschwörende Unterton, der zwischen Kritik und Verzweiflung, Agonie und Melancholie heraus scheint, ein Unterton jenseits von Konzertsaal & Co, mehr ein kammerspielartiger Unterton, ein Ton der eine angekratzte Schallplatte einzigartig unter all ihren Ebenbildern macht.

“Wolken gestern und Regen
Jetzt ist keiner mehr hier
Ich bin nicht dagegen
Singe und trinke mein Bier.

Tränen heute und Lieder
Bäume verdunkeln den Mond
Ich komme immer wieder
Dorthin wo keiner mehr wohnt

Blätter morgen und Winde
Bist du immer noch hier
Ich besinge die Rinde
Der Bäume und warte bei dir.”

In “der schöne 27. September” ergibt sich der Kosmos einer verlorenen Gesellschaft. Wie vielleicht nur mit dem beinahe Namensvetter Thomas Bernhard vergleichbar, haben die Texte von Brasch eine Kälte, Fremde, eine lebensfeindliche Umgebung (von mir oft mit den blassen Schwarzweißzeichnungen und -holzschnitten in alten Wälzern assoziiert), welche sich wiederum paart mit jener ganz speziellen, kritischen Hitze, einer kruden Genialität, einer namenlosen Gewaltigkeit und Revolte.

Handeln tun die Gedichte vor allem von der Rückständigkeit; der Rückständigkeit der Liebe, der Politik, der Sprache, der Erwartungen, der Welt ganz allgemein. Und aus dieser Rückständigkeit macht Brasch so etwas wie einen Kult, eine Perspektive des Lebens und versieht sie (ähnlich wie Born) mit einem Mixanstrich aus bleibender Fraglichkeit und vergehender Hoffnung, aus dem einige Funken Schönheit und Poesie geschlagen werden.

Letztlich ist Brasch ein Unikum, ein Dichter nach ganz eigenen Maßstäben und deswegen auch schwerlich als unwichtig oder schlicht einzuordnen. Egal ob er von sich spricht, eine Ballade auf die Außenseiter der Gesellschaft hält (was manchmal schon fast an Bukowski erinnert) oder einfach nur allgemeines Poesietreibgut stranden lässt: Da ist eine Nähe und eine Ferne in seinen Versen, so unspektakulär und beharrlich wie das Leben selbst.

“Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.”

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“Dank sei den Dingen” von Rutger Kopland


“Die Dichtkunst ausüben heißt
mit der größtmöglichen Sorgfalt
konstatieren, dass beispielsweise
am frühen Morgen
die Vogelbeeren tausend Tränen tragen
gleich einer Zeichnung aus der Kindheit
so rot und so viel.”

Die wenigen holländischen Dichter, die ich bisher lesen durfte (Cees Nooteboom und Lucebert) sind, trotz ihrer Themenvielfalt und ihrer Unterschiede, allesamt bedächtige Dichter. Vielleicht liegt das an der Sprache, dem Niederländischen selbst, oder an den Übertragungen; vielleicht suche ich auch nur das Verbindende und streiche es dabei zu stark heraus.

Feststeht: Es geht oft um Ruhe, ums In-sich-gehen, um den Tod (von Freuden, aber auch den eigenen) und um das, was bleibt, wenn man reflektiert, fragt, wenn man innehält und näher an die Dinge herangeht. Höchstwahrscheinlich hat die Niederlande in Sachen Dichtung ein genauso breites Spektrum, von glatt bis innovativ, wie auch die Deutschen, aber nur diese Art der Dichtung, die tiefe, feine Art ist bisher zur Übertragung gelangt.

“Morgens am Fluss, morgens, wenn
er noch abzuwägen scheint,
wohin er an diesem Tag
wieder gehen soll,

ob er dieselben heftigen Bewegungen
machen soll wie immer
oder nicht mehr,

oder ist dieses ewige Zögern
die leere Gebärde von jemandem,
der schon nicht mehr existiert
[…]
Morgen am Fluss,
morgen, wenn er endlich
nichts weiter sein wird
als der Fluss.”

Rutger Kopland ist, wie gesagt, ein sehr gesetzter Dichter. Ein bisschen in der Tradition von William Carlos Williams, schreibt er einfache, persönliche, spät einsetzende Verse. Keine Abstraktionen, wenige, nicht anschneidende, sondern aufgehende Metaphern, eine große Freude an der Melancholie, keine Scheu der Schönheit einen einfachen handgemachten Holzstuhl anzubieten, keine Angst von den ersten und letzten Dingen zu sprechen.
Keine Furcht davor, das Gelingen eines Gedichts vom Verständnis zwischen Dichter und Leser und nicht von der Kunstfertigkeit oder Heftigkeit der Darstellung abhängig zu machen.

“Der Körper wird wohl als ein Nest betrachtet
die befristete Bleibe eines unsichtbaren
Vogels – eines Abgesandten der Ewigkeit.

Wer gerne Gedichte liest, die ihre Wärme aus dem Inneren gewinnen, aus den Gefühlen, die sie nahe legen, statt aus den Bildern, die sie provozieren, der wird mit diesen schönen, beinahe schlichten Dichtungen eine sehr erfreuliche Erfahrung machen. Auch diejenigen, die nachdenkliche Lyrik schätzten, werden diesen Band auch nach der ersten Lektüre noch öfters zur Hand nehmen, denn einige von ihnen sind gleichsam klar und doch wandelbar wie Spiegel – jede Lektüre kann eine neue Dimension haben, eine neue Ebene freilegen.

Selten habe ich Gedichte gelesen, die so vollkommen zu sein scheinen, derweil sie eigentlich so einfach und schön sind wie eine Gartenbank im Abendlicht oder die glatte Oberfläche eines Sees. Vielleicht trifft dies letztlich nur auf 5-6 der Gedichte wirklich zu, aber die erste Lektüre des ganzen Buches wird von diesem Gefühl eingenommen.

P.S.: In diesem Band sind nur die deutschen Übertragungen enthalten, keines der niederländischen Originale; die Auswahl wurde aus Werken von 1966-2006 getroffen. Das Nachwort stammt vom Nobelpreisträger J.M. Coetzee. Übersetzt wurden die Texte von Mirko Bonne und Hendrik Rost.

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“Engel im Herbst mit Orangen” und “Die Sekunden vor Augenaufschlag”


Wer Titel wie “Die Dunkelheit knistert wie Kandis” oder “Engel im Herbst mit Orangen” verwendet, könnte von manchen als ein sehr blumiger und sehr banaler Dichter vorverurteilt werden. Dass Hellmuth Opitz in seiner sprachlich-vielfältigen Kombinatorik und seiner überbordenden Individualität beim Finden von Metaphern und Gesten, dennoch zu den schönsten und interessantesten Dichtern Deutschlands gezählt werden kann, möchte ich kurz anhand zweiter Gedichtbände andeuten.

Um ebenfalls seine feine Bewandertheit in Stimmungen und sprachlichen Gefühlseindrücken zu erfahren, empfehle ich die Lesung auf Youtoub von seinem Gedicht “Isarbrücken” http://www.youtube.com/watch?v=tvXQnmVbdj8

1. “Engel im Herbst mit Orangen”

“PSST! Es ist Herbst,
Madame.
Die Nacht spielt schon ein
kühles Saxophon.”

Hellmuth Opitz, Bielefelder Dichter und Autor, gehört zu der Art Poeten, die man sich in Lederjacke und mit Zigarette im Mund vorstellt; ein lockerer Spieler in seinem Metier, der das Leben + einen Sprung Fantasie in seinen Gedichten einfangen will. Seine Sprache, durchaus gezeichnet von der Havarie der modernen Poesie, ist größtenteils sehr eigenständig und aufrichtig gewählt und vor allem auf verdichtende Sprachbilder fixiert/ausgerichtet.

“Mit Blaulicht kommen die Tage,
zerschellen an der kühlen Küste
weißer Villen. Von dort tropft
Langeweile ins Warten, das bebildert
ist mit Palmen, Pools, Terrassen,
den blauen Scherben eines anderen Himmels.”

“Ich
war ein schlechter Vorname in diesen Tagen:
Zu groß. Hallte wie ein Treppenhaus, wenn man ihn
rief.”

Verschiedene Sammlungen von Gedichten wurden in diesem Buch zusammengefasst. Mit “Der 88. Januar”, einer sehr poetischen Sammlung beginnt es und es endet mit den melancholisch-verdrießlichen “Abenden aus dem Ärmel”. Fast alle Gedichte sind nicht länger als eine Seite. Besonders hervorzuheben ist noch der Abschnitt mit Gedichten über die Liebe, der besonders verspielte und deswegen in ihrer Betrachtung nicht weniger eindrückliche Zeilen enthält .

“Springtime sagen die Engländer
springt an und schon hängen der Stadt
hellblonde Strähnen in die Stirn aus frühem Licht.

Dann blüht ein Kaufrausch
und Farben trachten Frauen nach dem Leben.”

Opitz ist auf jeden Fall ein begnadeter Erfinder, einer, der sich in der Sprache wohl fühlt, wenn sie etwas mit all ihren ausdrücklichen Möglichkeiten erschließt. Seine Kombinatorik hat, mir zumindest, immer sehr viel Freude bereitet.

“sogar die Traurigkeit ist ganz aus
Schrott gemacht.”

“Auf den Schultern der Bäume saß ein großer
Sommer.”

Opitz ist ein wirklich lesenswerter Dichter. Ich empfehle ihn und hoffe, dass seine Leserschaft weiter wächst.

“Ein Kirchturm wirft eine Tonleiter herab
zu den keltischen Gräbern. Hier sind im Laufe
der Jahre der Trauer Kreuze gewachsen,
Hortensiengebüsch, zutiefst blaßblau
zu Sehnsucht verwilderter Tod.”

2. “Die Sekunden vor Augenaufschlag”

Hoffentlich zum Ausdruck bringend, wie bereichernd Lyrik doch sein kann, beginne ich:

“Auf einen Wink erhob sich der Wind,
sein Komplize, die Steppdecke der Wolken
weit von sich wirbelnd fuhr er in die
Fahnen. Alle Masten machten einen Knicks
vor ihm, als er sich den Himmel unter den
Nagel riss, den Mond, der wie ein Scheibchen
Zitrone in einem dunklen Drink versank.”

Sinnbildlich ist die Art wie Opitz nahezu alle seine Gedichte angeht. Mit visuellen Querschlägern, anschaulich-innovativen Metaphern, Vergleichen und Allegorien und einem stets halb prägnanten, halb sinnlichen Ton, schafft er es immer wieder einen in die Bilder seiner Gedichte hineinzuziehen – nicht nur einzuladen, sondern sie einem wirklich ins Blut gehen zu lassen, für einige Herzschläge.

“Wenn es stimmt
was geschrieben steht
dass wir den Frauen
die wir geliebt haben
nie wieder begegnen
können, weil sie nicht
im Raum gelebt haben
sondern in der Zeit,
was mach ich dann hier?”

Herzschläge, das ist auch, metaphorisch, die Hauptthematik in Opitz Lyrik und auch vielfach im Band “Sekunden vor Augenaufschlag”. Herzschläge der tiefen Empfindung, der Liebe, aber auch der Aufregung und der leisen Verzweiflung – ich glaube, er ist einer der wenigen heutigen Dichter, der so gekonnt und gefühlsecht alle Seiten des Liebens (das starre Lieben, das plötzlich, das tiefe, das tröstliche, das nagende, das unbeschwerte, das veruntreute etc.) darstellen kann und dabei die Konfrontation mit dem letztlich schon sehr oft beschriebenen Thema nicht scheut, mit der Überzeugung, dass jede wahrhaftige, präzise Beschreibung eines Glücks- oder Unglücksmomentes aus diesem Gebiet, zugleich einzigartig und sinnbildlich für das Phänomen in ganzen stehen kann. Zumindest erscheint dieses Buch im Ganzen immer wieder auch eine Art Querschnitt durch die verschiedenen Arten von Liebe zu sein, wie sie sich im Leben des Menschen bewegt, geht, kommt und wie sie sich anfühlen kann, in den verschiedensten Situationen und Stimmungen.

“Doch nichts hilft
[…]
Ja, nicht einmal die Kellnerin, die gerade
Kaffee serviert und mir mit den Augen
ein lächeln zusteckt, mir und dem Japaner
am Tisch nebenan. Ein Lächeln wie aus
dem Gesicht geschnitten, ihrem Gesicht,
der benutzerfreundlichen Oberfläche für
jeden hergelaufenen Blick.”

Nun soll keineswegs der Eindruck entstehen, Opitz schreibe nur Liebesgedichte (auch wenn ich diese oftmals für seine besten halte). Nein, es gibt auch hier kritische, spielerische Gedichte, Naturgedichte, Gedichte über das Schreiben; außerdem ein Kapitel dichter Kurzprosa.

Wer nach visueller, schlichter, naher Poesie sucht, der ist in diesem Band gut aufgehoben und wird sich von dem einen oder anderen Vers mitreißen lassen.

“Allein der Rest von Morgenlicht
heut morgen hätte ein Gedicht
gebraucht und nicht dies
Gebrauchtgedicht, das schon
erschrocken innehält und lauscht,
wenn ein Bikiniträger von
irgendeiner Schulter fällt und
durch die Brandung deiner
Blicke rauscht. Die Hitze tauscht
doch jeden deiner Sätze in
kräftigere Farben um.”

Klaus Merz: “Unerwarteter Verlauf”


“-Wechselkurs-
Vom helleren Licht
hinter den Scheinen
erzählt das Gedicht.”

Wenn man von filigraner Sprache spricht, ist mehr gemeint, als nur Präzision oder Sensibilität oder Ästhetik. Es ist die Kunst aus wenigen Worten ein mehrdimensionales Erleben zu schaffen, mit Sprache etwas zu erschließen, was über ihre normalen Zusammenhänge hinausgeht (nur, weil man über etwas nicht sprechen kann, ist es noch nicht, so weiß das Gedicht, von der Sprache ausgeschlossen). Insofern ist jedes Gedicht auch so etwas wie eine kleine Wette auf die ahnende Kraft der Sprache – gegen ihr bloßes Existieren in Begrifflichkeiten.

“Regen fällt und sickert
durch die Friedhöfe
der Welt.”

Je filigraner die Sprache ist, je knapper die Gesten, desto mehr wird ihr Erleben, ihre Aufnahme, zu einer sich ausbreitenden Wahrnehmung. Ein Gedicht findet nicht nur Zusammenhänge, sondern löst sie auch auf – damit wir sehen, was wirklich da ist, was hinter Austauschbarem und Verkopftem liegt, was wir nicht vergessen dürfen. Schon in einem sehr simplen Anfang, wie dem Dreizeiler über diesem Abschnitt, wird uns etwas bewusst – was ist es? Eigentlich ist diese Betrachtung ja bloß eine Tatsache, an die wir eben nur nicht immer denken. Aber ist es nicht noch mehr? Steckt darin nicht auch ein Sinnbild? Und ist es nicht auch einfach eine wunderbar stimmige Art, Gehirn und Schönheit zusammenzuführen, ein Sprachgemälde, das man im Kopf wenden kann, immer weiter, immer wieder, wie einen kleinen, heimlich-schönen Kunstgegenstand?

“Sie sei dem Vergessen
anheimgefallen, hör ich
dich leise sagen: Was
für ein zarter Satz und
voller Geborgenheit”

Klaus Merz, schon ein gestandener Dichter, hat mit diesem Band ein leises Werk abgelegt, das auf den ersten Eindruck zwischen allen Stühlen zu stehen scheint. Kurze, fast aphoristische, komprimierte Poesie, einige wenige längere Gedicht und ein Zyklus – letzterer hat eine besondere Schönheit inne: eine beeindruckende, ganz eigene, leichte Metamorphose aus eigenständigen Metaphernpatzellen und Empfindung, tief und fließend, sinnlich und subtil – das alles auf knappen 75 Seiten. Filigran (wie oben bereits ausgeführt) ist, glaube ich, das beste Wort, um die Intensität dieses Buches auf diesem knappen Raum, die Vorgänge innerhalb der Räume dieser kurzen Gedichte, halbwegs, zu beschreiben. Und mit filigran ist eben nicht nur die Sprache selbst, sondern auch ihre Wirkung, das Ausgedrückte gemeint.

Viele Dichter zögern heute, Zärtlichkeit oder Sinnlichkeit in ihren Gedichten auch nur einen Takt angeben zu lassen. Klaus Merz überwindet dies Problem auf seine Weise und graviert beides einfach mit in seine Sprache ein, sodass es nicht offensichtlich und zwingend daraus erwächst oder erwachsen muss, sondern einfach dazugehört, auf einer Grundebene, in den Pausen zwischen den einzelnen Abschnitten; im Langsamerwerden des Lesers, wenn er die kurzen Texte, wie auf einer Penrose-Treppe, immer wieder durchwandert.

Dies alles soll nicht die Subtilität unterschlagen, die Merz Gedichten ebenfalls unverkennbar innewohnt. Jeder Leser kann bei jeder Lektüre nun mal nur ein Gedicht in jedem Gedicht lesen, nur eine Ausdeutung der Zeilen komplett sehen. Dass er aber dahinter noch zwei, drei, zehn andere Gedichte ahnen kann, Bilder, Bedeutungen und Szenerien, weist den Verfasser meist als einen wirklichen Poeten aus. Bei Klaus Merz ist diese Ahnung manchmal geradezu übermächtig.

Wer Sprache nicht nur als schlichten, sondern als universellen Rezeptor erleben will, sollte Gedichte lesen und kann sehr gut mit den Gedichten von Klaus Merz beginnen. Sie sind sehr vielschichtig und doch auch unverstellt, ihre Komplexität verdanken sie keiner plumpen sprachlichen Verzerrung, sondern einer sehr feinen Chiffrierung; ihre Magie ist klein, aber keineswegs simpel und auf eine gewisse Weise ist sie verlässlicher als jede noch so große Genugtuung, die eine klare Aussage uns oft zu bescheren scheint – und das macht das Wesen großer Gedichte wirklich aus.

Link zum Buch

Schnittmenge Enzensberger – Seine Lyrik von 1957-1995


Dieser Betrachtung beschäftigt sich mit dem dichterischen Werk von Hans Magnus Enzensberger zwischen den Jahren 1957-1995, unterteilt in sechs Teile, was den publizierten Gedichtbänden in diesem Zeitraum entspricht. Dabei nicht berücksichtig wurden “Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts” und das Versepos “Der Untergang der Titanic”.

I – Die Verteidigung der Wölfe (1957)

“Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne:
sie sind genauer.”

Hans Magnus Enzensberger, heute eine Institution, ein literarisch stilisierter Halbgott, mit scharfer Zunge, eine lebende, wandelnde, später gemäßigte Kontroverse, ein brillanter Geist, ein fröhlicher Anarchist, eine Randerscheinung, die sich in abseitige Mittelpunkte spielt. Das und noch viel mehr könnte man (zu recht oder zu unrecht) über diese geradezu ultimative Figur deutscher Intelligenz sagen; alles stimmt irgendwann und irgendwo, trifft aber doch selten den Kern oder auch nur auf ein einzelnes Werk oder dessen Idee zu. Enzensberger ist nämlich weder wahrhaft radikal noch elitär. Er ist einfach Enzensberger, eine Figur, deren Substanz irgendwo zwischen echtem Genie und bloßer Auflehnung liegt.

“Alkibiades mein Spießgeselle
du bist lange fort
Ich muss dich, Lieber, wohl zu End vergessen.
Zuweilen schlaflos fällt noch ein vertropftes Wort
ein Streich ein Schlips ein Heisersein ein Essen
ein Angstruf mit von weißen Vögeln ein
Sonst bin ich alt und lächelnd wie ein Kieselstein
und warte gern auf die uns forttut
auf die sanfte Welle
Alkibiades
Alkibiades mein Spießgeselle”

Mittlerweile sind elf Gedichtbände von Enzensberger erschienen und neben dem Literatur- und Gesellschaftsfeuilleton/essay (Wunderbar übrigens zu diesem Thema der erst kürzlich erschiene Quartoband: “Scharmützel und Scholien” mit den gesammelten Schriften zur Literatur) ist die lyrische Gattung der zweitwichtigste Bestandteil seines facettenreichen Werkes und auch der, mit dem er zuerst hervorgetreten ist: im Band “Die Verteidigung der Wölfe”, den man auch den “Schreckschuss auf die Wölfe” hätte nennen können.

Es ist erstaunlich wie wenig dieser Band sprachlich gealtert ist;  man ihn in dieser Hinsicht fast als filigran und modern bezeichnen. Wohlgemerkt: Sprachlich. Thematisch ist es etwas komplizierter.

Der Band ist in drei Teile unterteilt: Freundliche Gedichte, Traurige Gedichte und Böse Gedichte.
Das Gro der freundlichen Gedichte besticht vor allem durch eine bildhafte Schönheit und Weichheit, die Stich auf Stich gesetzt ist, teils mit schauderhafter Klarheit:

“lass mich heute Nacht in der Gitarre schlafen
in der verwunderten Gitarre der Nacht
lass mich ruhn
im zerbrochenen Holz
lass meine Hände schlafen
auf ihren Saiten
meine verwunderten Hände”

“Wie ein unbewohnter Stern
riecht die Erde. Von den Bergen
strömt ein dickes, trübes Wasser
Kies und Distel blitzbeschienen
weißer Himmel.”

Enzensberger bemüht sich in diesen Gedichten wenig um Sprachakrobatik oder Metaphernrotation, was sehr nachvollziehbare und vertiefe Stimmungen entstehen lässt. Dieser Teil des Bandes enthält tiefste Poesie, und damit schon so etwas wie eine andere Seite von Enzensbergers Lyrik. Die meisten der Texte verhalten sich homogen zueinander in Form und Inhalt.
Ganz anders bei den traurigen und bösen Gedichten – hier hat Enzensberger eine Vielfalt von Nuancen, Anklange, Akzenten und Kalibern verwendet (auch wenn der sprachliche Ansatz nicht groß variiert). Nicht immer mit Erfolg. Es fallen so neben der starken Sprache und den brillanten Eigenheiten, auch allzu oft die lose Symbolik und Metaphorik auf, so wie eine hermetische Verspielung der Tatsachen zugunsten eines lyristischen Ausgrabungseifers und den wüterichen Schneeverwehungen, die er aufwirft und als Übel etikettiert.

“Abschußrampen, Armeebischöfe, Security risks,
leider: Vokabeln ohne Aroma, keineswegs holzfrei,
kaum zum Goldschaum der Kantilene zu schlagen,
kaum für Trobadore geeignet.”

Gewiss, Enzensberger war schon immer und ist auch hier schon ein intelligibler Agiator seiner eigenen Sache; aber das Subtile schließt ja nicht das subtil Einfache oder subtil Bewanderte aus; diese gesetzte Subtilität fehlt dann doch an manch Ecken und Enden. Ich hätte mir mehr Stellen wie diese gewünscht:

“Freilich
versprechen dir viele, abschzuschaffen
den Mord. Gegen ihn zu Feld zu ziehn
fordern dich auf die Mörder.
Nicht die Untat wird die Partie
verlieren: du: sie wechselt nur
die Farben im Schminktopf:
das Blut der Opfer bleibt schwarz.”

oder diese:

“Die Weisheit, im Windschatten
sich eine Hütte errichtend, hinter
den Schultern der Täter verborgen,
ist wie diese mörderisch.”

Sprachlich hat dieser Band, wie bereits gesagt, immer noch viel zu bieten. Es reichen manchmal schon einzelne Zeilen, wie z.B. “Ein dunkles Riff wird in unseren Lungen gezüchtet”, um zu erkennen wie vortrefflich Enzensbergers Ausdrucksformen sein können, (ohne bereits eine lyrisch-leere Formalie zu werden). Vielleicht ist das große Spektrum, die auf viele Flächen verteilte Dynamik, das Problem – vielleicht ist gerade die Vielfalt der Fluch.
Doch trotz all dem: Auch heute noch kann man diesen ersten Gedichtband als vielschichtiges Präparat lesen und genießen, als Dokumentation von Geistesblitzen und Ansichten. Also lest nicht die Oden, liebe Leser, lest Enzensberger – er ist unfreundlicher; was nicht selten ein Prädikat zu “interessant” ist.

II – Landessprache (1960)

“Was habe ich hier verloren
in diesem Land,
dahin mich gebracht haben meine Älteren
durch Arglosigkeit?”

So fragt Hans Magnus Enzensberger am Anfang seines Gedichts “Landessprache” auf der ersten Seite des gleichnamigen Gedichtbandes. Es ist sein zweiter und nach dem virtuosen, vielschichtigen Start mit “Verteidigung der Wölfe” auch ein ungleich politischeres und auf gesellschaftliche Kritik fixiertes Werk, insbesondere im zweiten Teil “Gedichte für die, die Gedichte nicht lesen” und eben in diesem ersten Gedicht “Landessprache” in dem Enzensberger fortfährt:

“Was habe ich hier? Was habe ich hier zu suchen,
in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland,
wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts,
wo der Überdruss ins bestickte Hungertuch beißt,
wo in den Delikatessengeschäften die Armut, kreidebleich,
mit erstickter Stimme aus dem Schlagrahm röchelt und ruft:
es geht aufwärts!”

Heute, nach über 50 Jahren, ist ein Gedichtband, der so einsetzt und dessen Autor sich seither mehrmals, was seine politischen und künstlerischen Einstellungen betrifft, (letztere nur unwesentlich) neu orientiert hat, mit Vorsicht zu genießen. Enzensbergers Sprache steht noch immer modern und aktuell da, ihre Eigensinnigkeit und Direktheit konservieren ihre Falten und beugten Abnutzungen vor. Aber wie ist es mit den Themen?

Enzensberger war stets ein scharfäugiger Dichter – und, noch wichtiger, er wusste diesen Scharfblick auf seine Gedichte zu übertragen. So nehmen sich seine die Gesellschaft betreffenden Verse im Allgemeinen noch als nachdrücklich warnend und darstellerisch trefflich aus (was eben für Enzensberger spricht – oder gegen eine signifikante Veränderung des gesellschaftlichen Wesens). Die Aktualität gewährleistende Komponente des guten Durchblicks, die in Sachen dynamischer Ausarbeitung heute sicherlich etwas anders aussehen würde, aber im Kern noch sehr gut nachvollziehbar ist, bemerkt man schon am Anfang des Gedichts “Die Scheintoten”:

“Die Scheintoten warten vor den Kartellämtern,
sie warten, ohnmächtig, aus beiden Lungen rauchen,
vor den Eichämtern und vor den Arbeitsämtern.
Ihr bleicher, farbloser Jubel weht
wie eine riesige Zeitung im Wind
gegen die vielen vergitterten Schalter.”

Gewiss, heute könnten solche Gedichte wahrscheinlich nicht mehr geschrieben werden (vor allem wegen der heutigen Ästhetik der (politischen) Poesie), aber sind sie deshalb heute weniger zutreffend? Und ist nicht gerade dies Gedicht, sein Anfang, sogar mit den Jahren gewachsen, noch wahrer geworden mit dem Abstand, der keinen Wesensabstand erzeugte? 7 Regierungen sind über dieses Gedicht gegangen, politische Kurswechsel und 50 Jahre gesellschaftlicher Geschichte – und dennoch hat dies alles die innewohnenden Symbolik und Botschaft dieses Gedichts nicht eliminieren können.

In der Mitte des Bandes steht das längere, überbordende Gedicht “Schaum”. Es bildet die Brücke zwischen dem ersten engagierten und dem zweiten, nicht weniger kritischen, aber oft ungleich abstrakteren Teil “Oden an Niemand”. “Schaum” selbst ist eine Art intelligible Tirade; Namedropping und Analyse wechseln sich ab, Momente der stillen Offenheit, gehen über in Rundumschläge. Es ist ein bizarres Gedicht, bei dem man trotzdem das ungute Gefühl nicht losführt, es enthülle langsam aber sicher eine lange verstopfte Wahrheit, unter all dem Schaum.

“alle wunden Wäscher
in den kranken Kassen
ruhn mit blinden Hunden
in den toten Hemden.”

Bei manchen Dichtern hat man das Gefühl, dass sie mit uneinnehmbarem Ernst dichten, andere dichten allein mit ihrer Freude. Bei Enzensberger kann man die Stimmung, den Aggregatzustand seiner Ausrichtung nur aus den einzelnen Zeilen herauslesen und nicht aus dem Gedicht insgesamt. Sicherlich war er stets mit seinen Gedichten um Engagement und auch eine nebenbei ergatterte Schönheit bemüht, wie die wenigen, fast zärtlichen, bildhaften Gedichte beweisen, in denen er Szenen der Einsamkeit oder des Zusammenseins einfasst. Doch bei vielen anderen, eher abstrakten Gedichten, meint man doch den verspielten Narr im Ernst der Verse zu erblicken; doch das Schellen der Narrenkappe könnte eben auch das Quietschen eines Zugrades sein, das Waffen in eine Krisenregion transportiert.

Gealtert ist dieser Gedichtband, aber gut gealtert. Natürlich gibt es in der ganzen Breite des Bandes noch mehr zu entdecken, als ich hier offen gelegt habe. Enzensbergers Poesie lebt auch von einer gewissen Unberechenbarkeit, die gerade bei Dichtern deutscher Sprache immer noch eine gewisse Seltenheit hat und die jedes Gedicht im Übermaß zu einer eigenen Erscheinung macht. Das kann man auf die schlechte oder die gute Seite der Waage legen, wie es einem beliebt.

“Hier bin ich, ein Schiff aus Rauch,
hinter dem Mond zu Haus, ein Mann
unter den Wurzeln des Meeres, bewohnt
wie ein Totenacker, ein Totenstrauch

von Nattern und Tauben, zuhaus
im blühenden Sternsarg, allein
im Feuer der Windrosen wohnend
bei meinen Lidern, den Tauben im Wind.”

III – Blindenschrift (1964)

“Ich sage: Fast alles was ich sehe,
könnte anders sein. Aber um welchen Preis?
Die Spuren des Fortschritts sind blutig.
Sind es die Spuren des Fortschritts?
Meine Wünsche sind einfach.
Einfach unerfüllbar?”

Hans Magnus Enzensbergers Poesie tendierte von jeher zu einem Kurs zwischen subtilem Gedankengut und havarierenden sprachlichen Ausdrucksmechanismen, schwankend zwischen Abstraktion und Klarheit.
Nach dem kritisch verdüsterten Gemisch “Landessprache” ist Blindenschrift fast schon so etwas wie eine erstaunliche Kehrtwende, wirkend wie ein stiller Neuanfang. 1964, also vier Jahre nach “Landessprache” entstanden, hat dieses Werk die klecksende und gewaltige, Ehrfurcht gebietende Stimme jener Gedichte abgelegt und sich einer, manchmal schon fast resignierten, leicht labyrinthischen, Klarheit und Schlichtheit zugewandt, von lauter Oper auf stillere Sonaten umgeschaltet; dieser Wechsel führt seine Verse jedoch niemals auf rein sachliche oder nüchterne Gebiet; eher wirkt sie schneidend, lauernd – die enorm komprimierte Version eines entlarvenden Fotos, im Schatten vieler Fragen und Gedanken abgelegt.

Was thematisch am meisten auffällt sind die Symbole und Antagonismen der Vergänglichkeit. Im Ganzen ist der Band ein bisschen wie ein langes Selbstgespräch von Enzensberger mit sich selbst, von logistischen bis zu zentralen Betrachtungen – mit vielen Fragen, Fragen, Fragen.

“Was soll da auftauchen aus der Flut,
wenn wir darin untergehen?

Noch ein paar Fortschritte
und wir werden weitersehen.”

Bestechend ist mal wieder die bleibende Aktualität seiner Dichtung. Nach dem dritten Gedichtband kann man schon absehen, dass die besten seiner engagierten oder kritischen Gedichte und Zeilen noch eine Weile lesenswert bleiben werden. Dies gilt für den Band “Blindenschrift” im besonderen Maße.
Gedichte sind belebend für das Verständnis von Schönheit und Wahrheit und ebenfalls für die Selbstreflexion. Beides können sie stärken und beides können sie auch in sich tragen.

Enzensbergers Gedichte sind keine klar gestaffelten Bekenntnisse oder schlichte Ansagen; ebenso wenig sind sie unzugänglich oder kryptisch. Jedes von ihnen hat so etwas wie einen inneren Schlüssel, eine eigene innere Logik, die man sich seinerseits mit einer Betrachtung erschließen kann. Trotzdem, wiederum: die Gedichte in diesem Band weisen eine besondere Zugänglichkeit auf, vielleicht weil sie ein bisschen persönlicher sind, einen Zustand, den wir ja alle kennen.

“Als wäre nichts geschehen
erscheint täglich neu
unser rührender schmutziger
knallharter frommer Roman.
Fortsetzung folgt, und kein Ende.”

Blindenschrift ist sicherlich kein besonders schöner und auch kein frappierend-beeindruckender Gedichtband. Aber er hat eine besondere Essenz, deren Botschaft man sich anhören sollte, auch weil sie sich nicht einfach so von einem Rezensenten wie mir festmachen lässt auf schöne oder präzise Worte. Ich persönlich finde, dass dieser Band auf seine Art sehr stimmungsvoll und weise ist und das mancher Text sehr zum Nachdenken anregt: Über das Können, das Wollen, das Denken – wie schrieb Enzensberger: “Nimm die Binde ab/ König Mensch und lies/ unter der Blindenschrift/ deinen eigenen Namen.” Ich kann bezeugen, dass das in manchem Text gut funktioniert.

Zuletzt noch ein paar Zeilen über die Apokalypse.

“Denkbar immerhin,
wenn auch nicht glaublich:
Die Katastrophe wäre da,
wenn über uns käme die Nachricht:
dass sie ausbleiben wird
für immer

Verloren wären wir:
Wir stünden am Anfang”

 IV – Die Furie des Verschwindens (1980)

“Meine Wörter bücken sich nicht. Sie sind
nicht dazu da, etwas aufzuheben. Sie sind da,
eine Weile lang. Es kann sie ein jeder sagen.”

16 Jahre liegen zwischen “Blindenschrift” und der Furie des Verschwindens, also die halben sechziger und die ganzen siebziger Jahre (an letzteres Jahrzehnt schrieb Enzensberger ein Gedicht, dass das erste des Bandes ist; es beginnt: “Also was die siebziger Jahre betrifft,/ kann ich mich kurz fassen./ Die Auskunft war immer besetzt.”).

Es ist eine lange Zeit, um an einem Gedichtband zu arbeiten (oder keine Gedichte zu schreiben). War “Blindenschrift” ein dichterischer Neubeginn, das mögliche Startsignal zu einer gesetzteren, ruhigeren Lyrik, so setzt “Die Furie des Verschwindens” eher wieder bei den ersten beiden Gedichtbänden an, obwohl auch noch ein Stück Erfahrung von “Blindenschrift” geblieben ist.

Dies offenbart sich vor allem in dem letzten Abschnitt des dreigeteilten Werks, dem Teil der wie der Gedichtband selbst -Die Furie des Verschwindens- heißt. Hier finden sich überwiegend geradlinige, nachdenkliche, manchmal sinnende Gedichte, vielfach um Vergänglichkeit, Vergangenheit, Sinn und Substanz kreisend.

Dem Gegenüber steht der erste Teil “Tränen der Dankbarkeit”. Er ist nicht grundverschieden, zeichnet sich aber durch ein Schwanken zwischen Präzision und freilaufender poetischer Schlagkraft aus. Hier zwei Textproben, um zu erklären, was ich in etwa damit meine:

“Tiraden, angeschnallt und erbittert, über Ledersitze,
Alumotoren, Flüche beim Überholen, Erkenntnisse
über Prämien, Ersatzteilprobleme, endlich
der nächtliche Stau, das Blaulicht, die Bahre.”

“Ding dang dong. Mischmasch. Durchsagen auf Japanisch.
Im Kerosinduft zerfließen die dumpfen Panzer
hinter dem Glas, auf dem heißen Vorfeld. Schlieren
im Auge, Münzen in der schweißnassen Faust.
Immer besetzt. Dann wieder lässt du es läuten
und läuten. Überall Koffer. Erbittert wähle ich”

Gleichsam: Es ist auch der kürzeste Gedichtband den Enzensberger je herausgegeben hat; ein Drittel füllt auch noch das etwas versumpfende Langgedichte, dessen Titel sehr viel mehr verspricht als er dann hält: “Die Frösche von Bikini” (Das Bikini-Atoll war eines der “beliebtesten” Atombombentestgelände der US-Amerikaner; quasi als “Wiedergutmachung”, wurde dann ein Badeanzug nach der heute noch verseuchten Inselgruppe benannt.)

Auch in diesem Gedichtband gibt es sehr starke Gedichte. Am Anfang, im ersten Teil, zum Beispiel, gibt es 3-4 Gedichte in denen Enzensberger minutiös in ein paar Gesellschaftsszenerien die Wesenhaftigkeit einiger Menschen nachzeichnet; “Die Dreißigjährige” oder “Die Scheidung” heißen dieses Gedichte und sie gehören zu dem besten, was Enzensberger im Poetischen verfasst hat. Es gelingt ihm die kleinen und doch letztlich großen Versprechen, die in diesen kurzen Titeln stecken, mit einem eleganten, in jedem Ausdruck klug gewählten Wortgemälde zu erfüllen, ja: zu verwirklichen. Große Kunst, konnte ich bei diesen Gedichten nur denken, weil alles so deutlich zueinander passte und exakt abbildete, was im Innersten der Vorgänge ans Sprache präsent sein kann. Gewiss, dass ist nicht die alleinige Aufgabe eines Gedichts, aber es ist eindeutig ein Vorzug entgegen aller Wortklauberei.

“siehe, das Leben liegt vor euch wie ein Dauerauftrag
und ihr könnt durchwählen
sogar nach Brisbane und Osnabrück.”

Vielleicht ist dieser Gedichtband ideal, um Enzensberger kennen zu lernen und zu entscheiden, ob man ihn mag oder nicht. Von hieraus kann man sowohl in die eine Richtung, zu den gesetzten, stimmigen Gedichten aus “Blindenschrift”, als auch in die andere, zu den rabiat-kritisch-totaleren frühen Gedichten gehen, in beidem liegt hier ein gewisser Konsens. Was wieder nicht heißen soll, dass Enzensberger sich nicht entwickelt hat oder dieser Gedichtband nicht wieder auf gewisse Weise sehr neu wäre. Aber ein Dichter kann schwerlich seine Wurzeln verleugnen, ebenso wenig wie der Leser Empathie oder Verwirrung leugnen kann.

“Wenn man den eigenen Worten
eine zeitlang zuhört,
wie sie dröhnen im eigenen Kopf –
man möchte die Augen zudrücken,
wie ein kleines Kind,
sich die Ohren zuhalten
und am liebsten gar nichts mehr sagen.
Aber das wäre falsch.”

Vielleicht, zuletzt, findet sich in diesen paar Zeilen ein kleines Credo, von dem, was Enzensberger wieder nach 16 Jahren zum Dichten führte.

V – Zukunftsmusik (1991)

“Ich sehe was, was du nichts siehst.
Alles außer dir haben recht,
aber das siehst du nicht ein.”

Und so kommen wir zum schwächsten Gedichtband von Enzensberger; was er hier abgeliefert hat, ist auf weite Strecken platt, platter als platt, und definitiv weder Poesie noch sonst irgendwas Konstruktives. Ich meine, es gibt ja Dichtungen, die sind komplex, andere sind kryptisch, manche kann man sogar noch mit dem Wort “hermetisch” ins Feld der großen Poesie schieben. Aber nicht eine Entschuldigung greift bei den Gedichten aus “Zukunftsmusik”. Sie sind einfach schlichterdings und schlechterdings misstönig, teilweise grobfahrlässig, ohne Sensibilität ausgetüftelt und ja, auch dann und wann dadurch ein wenig lächerlich, in ihrer Leierkastenversuchserhöhung.

“Es geht weiter, es kommt, kommt mir,
es raucht, es sind Farben da, Falten,
Narben, es wiederholt sich, selbst,
immer wieder, da hinten, tot
ist es nicht, ach, es sagt, ach,
röchelt, wunderbar, ach, ich habe,
ich habe etwas davon, habe es,
habe es nicht gewollt, Habenichts, ich,
es ist so gekommen, es macht nichts.”

Ich wünschte, es gäbe auch noch einiges Positives zu sagen. Gewiss, es gibt noch ein paar halbwegs attraktive Gedichte, sogar ein-zwei bestechende. Ich glaube, was mich wirklich stört ist die scheinbare Belanglosigkeit, mit der die Schlechten aufs Papier geworfen sind. Sie scheinen wie nebenbei erdichtete Farcen und Fresken, ohne eigentliche Bezüge. Und ich habe wirklich versucht, durch mehrfaches Lesen, dem Verharren bei Symbolsystemen, Anschluss zu finden, aber vergeblich – und das lässt den Gesamteindruck schief hängen, unverrückbar, nicht erschließbar.

Wer aber eine verquere Herausforderung will, nun ja, kann es ja mal versuchen.

“Reine Kunst, die keinen Künstler brauch,
unaufhaltsam beweglich bewegt,
neu und unfruchtbar,
reine Zeichnung, die niemand sieht,
die sich einzeichnet
in sich selber, schön,
öde, Unterhaltung für Götter.”

Auch diese Zeilen stammen aus diesem Band, von Enzensberger selbst verfasst und vielleicht ein kleines Eingeständnisses, eine poetologische Rechtfertigung.

Im Ganzen ist der Band eine ziemliche Enttäuschung. Er mag einige gute Zeilen haben (“z.B.: Kleider machen blind, Gelegenheit macht Liebe”), aber ansonsten ist er voller abgegeigter Allgemeinplätze, sprachlich verwirrender Phrasenerfindungen, in denen nur noch die Sprache selbst, ohne Stimme, zu reden scheint und voller floskeliger Themen. Er ist einfach nicht gut. So muss man es sagen.

VI – Kiosk (1995)

“Enzensberger: Der Meister der eigenwilligen Pointe,
des virtuossichtigen Seilakts, der kreativen Blende
und der verlässlichen Dissonanz.”

Würde man diesen Band mit all seinen 5 Vorgängern vergleichen, fällt die sublime, schlichte Stärke der Gedichte auf, die “Kiosk” mit keinem anderen Werk aus Enzensbergers bis dato geschriebenem Fundus gemein hat (die er aber in “Moralische Gedichte” fortsetzte). Der Band ist ungleich umfangreicher, politischer und auch in seinen (gesellschaftlichen) Subtext hier und da geradezu aggressiv. So gibt es ein Gedicht, dass beginnt mit den Zeilen:

“Es ist verboten Personen in Brand zu stecken”

endet jedoch:

“Es darf niemandem zum Vorwurf gemacht werden, wenn
er es unterlässt Personen in Brand zu stecken.
Jedermann genießt ein Grundrecht auf Verweigerung.”

Der geschickte Drahtseilakt, mit dem Enzensberger hier aus Tätern Opfer macht, die abwesende Scheu vor dem konkreten Austausch zwischen gesellschaftlicher Realität und Gedicht, ist nicht gerade poetisch, aber brillant in der Ausformulierung. Insgesamt ist dieser Band, noch mehr als alle anderen Gedichtbände Enzensbergers, eine intellektuelle Freude, eine verdichtete Form von Essay, nebst poetischer Insignien.

Das Fehlen einer eindeutigen Wendung zum Poetischen stört wenig, ist doch jedes Gedicht eine Analyse, eine geistreiche Betrachtung für sich und sprachlich immer sehr gekonnt. Ich möchte Enzensberger keineswegs poetische Ästhetik absprechen – nur liegt sich bei ihm in Form, Spiel und Dynamik, nicht in der Poesie innovativer oder einnehmender Bilder. Seinen Zeilen muss man wie einem Gedankengang folgen; seine Metaphorik ist Symbolik und besteht aus gegensätzlichem oder seltsamen Vergleichen, Fundsachen und scharf gestellten Betrachtungen; die Gedichte sind Okular und Objekt gleichermaßen.

Kiosk ist vielleicht der beste Band von Enzensberger – mit Sicherheit aber ein sehr vielfältig-skizzierendes Erlebnis, noch immer nicht unaktuell. Viele ausgesprochen gelungene Gedichte finden sich hier, auch ein paar überragende. Besonders beeindruckt hat mich mal wieder die Fähigkeit Enzensbergers, die Perspektive nach Belieben zu verändern und ihre Bedeutung stets zu unterstreichen – ein roter Faden, der sich durch sein ganzes lyrisches Werk zieht und ihm eine eigene, beständige Botschaft gibt. Das ist vielleicht kein Muss für einen Dichter, aber sicher ein großes Plus.