Die Passion des großen argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges war die Faszination; sie ist ein Gut, das die Menschen von jeher dazu angehalten hat, die Welt zu deuten, zu preisen, zu durchleuchten und zu bewundern. Und vielleicht liegen die größten (teilweise fiktiven, imaginierten, irrationalen, teilweise wissenschaftlichen) Errungenschaften des Menschen gerade in dieser seiner Fähigkeit der Faszination begründet. Es ist das Staunen und der darin schon angedeutete Zug des Liebenswerten und Schönen, des Wahrhaftigen, Begriffe, die wir als die höchsten Auszeichnungen des Herzens sehen.
Borges war einer der eifrigsten und erfolgreichsten Sammler von faszinierenden Geschichten, und Ideen, entnommen aus Religion, Philosophie, Literatur und Ereignissen der Geschichte und eigenen Gedanken. Sein Werk spiegelt es wieder und ist im Grunde ein einziger, langer, offenbarender Kommentar zu den Wundern des Geistes und der Welt, dem tief verborgenen Anliegen unseres Lebens, sich immer wieder neu zu entfalten, neu zu gestalten, neue Impulse zu erfinden und zu empfangen. Ich kenne kein Werk, das mich so zum Denken und Vorstellen inspiriert hätte und auf keinen Fall eines, dass sich so oft mit immer neuen Ideen und Eindrücken wieder lesen lässt.
Wie bereits schon erwähnt, war Borges ein großer Sammler – er hat einige Anthologien herausgebracht, (im Deutschen erschienen sind eine über die verschiedenen Vorstellungen von Himmel und Hölle in den Weltreligionen/-mythen, “Das Buch von Himmel und Hölle”, eine Sammlung imaginärer Wesen aus allen Weltkulturen, “Einhorn, Sphinx und Salamander”, und ein Buch voller berühmter Traumerwähnungen/-szenen aus der Weltliteratur, das “Buch der Träume”) schrieb über zahlreiche Werke seiner Zeit und unbekannte Schriftsteller der englischen und amerikanischen Literatur, führte eine Liste mit herausragenden Kriminalromanen, die er gelesen hatte und stand Pate für die Bibliothek von Babel in 30 Bänden, die die Meisterstücke phantastischer Erzählkunst beherbergen sollte.
Band 11, “Die Freunde der Freunde”, ist Henry James, gewidmet, einem mehr gesellschaftlichen als wirklich phantastischen Erzähler; zwar schrieb er auch die einzigartig mehrdeutige Erzählung “The Turn of the Screw”, die drei (oder mehr) mögliche Erklärungen für den Handlungsverlauf zulässt und somit als phantastisch bezeichnet werden kann, aber er ist doch bis heute mehr für seine akribisch-gesellschaftlichen Romane bekannt, der berühmteste natürlich das “Bildnis einer Dame”. Nach der Lektüre drei der vier enthaltenen Erzählungen muss man dieses Bild vielleicht etwas revidieren.
Henry James ist ein eleganter, umsichtiger und dennoch sehr unterkühlter Erzähler, dessen Stärke ganz klar in der Schilderung und nicht in der Lebendigkeit der Erzählung liegt. Somerset Maugham warf seinen Romanen eine starke Technisiertheit in Charakteren und Handlungsverläufen vor, Chesterton stellte die Lebendigkeit seiner Figuren in Frage. Was für die Romane gelten mag, ist in den Erzählungen nicht vorzufinden: James Figuren haben eine sehr präzise Art sie selbst zu sein und auch wenn man sie niemals mit den Adjektiven authentisch oder echt auszeichnen würde, ist ihr Gehalt und ihre Ausformung im erzählerischen Rahmen, ihre Position im narrativen Geflecht, stets tadellos und keineswegs belanglos. Auch hat James nie mit Stereotypen gearbeitet, viel mehr haben ihn immer wieder andere Menschen, andere Bedingungen für seine Figuren interessiert. Das macht jede Geschichte auf besondere Weise einzigartig, in der Wirkung wie auch in der Nachvollziehung der Handlung, da jede Figur eine einzigartige Variable darin darstellt.
Mit James Sprache ist es so eine Sache – der nicht gerade immer zielgerichtete, sondern sich mehr in die Thematik der Geschichte vertiefende (in extremen Fällen versteifende) und manchmal in (aus heutiger Sicht) etwas umständlichen Formulierungen verfallende Stil ist sowohl im Englischen als auch im Deutschen eine Herausforderung für den Leser, wobei die vorliegende deutsche Übersetzung weniger den Vorzug des Originals hat, in dieser altmodischen Syntax einer gewissen Eloquenz und Eleganz nicht zu entbehren (dieser Satz von mir auch direkt als Beispiel für die etwas umständliche Art der Formulierung von James).
Die Geschichten selbst sind Musterbeispiele jener Literatur, die verschiedene Menschen zusammenbringt, um die Konflikte des menschlichen Wesen und die Erkenntnisse über selbiges aus dem Umgang zu filtern. Übergreifend geht es dabei in allen vier Texten um die Art, wie Menschen wahrgenommen werden und in wie weit die Identität und das Verständnis eines Menschen von gesellschaftlichen Umständen abhängig sind. Das diese Erzählungen dabei ins Phantastische stechen, gibt ihnen den Zug des Geheimnisvollen und es ist James sehr gut ausgeloteter Balance zu verdanken, dass die Geschichten trotzdem nie irreal oder grotesk werden – vielmehr berühren sie die Ränder des Unheimlichen, der Ungewissheit, die stets in den abgelegenen Räumen des Lebens präsent zu sein scheint, sich manchmal aber auch am Rande unseres Dasein manifestiert, andeutet, ein Ansatz abnormaler Tendenz, welcher uns dann und wann voll durchdringt.
Wer gerne altmodische Erzählungen liest und dabei Freude an phantastischen Elementen & Wendungen und einer Anwandlung des Rätselhaften findet, der kann mit diesem Buch nichts falsch machen und wird es in dankbarer Erinnerung behalten. Es ist vollmundig und lässt kaum einen Wunsch beim Leser offen, dafür gibt es ihm, mit der Mehrdeutigkeit im Wesen der Erzählungen, hier und da etwas zum Nachdenken und auch wenn die Geschichten keine Parabeln an sich sind, haben sie diese spezielle Wirkung, die so etwas wie tiefer eingesetzte Erkenntnis in dem Geschehnisgerüst der Narration vermutet. Diese spezielle Wirkung, welche die Geschichten nie ganz als abgeschlossen sehen kann, lässt die Idee der Texte noch lange nachglimmen.
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