Monthly Archives: June 2014

Zu Schillers Johanna von Orleans


Brüder überm Himmelszelt/ muss ein lieber Vater wohnen!”
Ode an die Freude

Bis heute ist es eine dieser Szenen der Geschichte, die sich leicht von den vielen gewöhnlichen Episoden der Konflikte und Kriege abhebt und eine fast unbeugsame Glorie in sich trägt: Das bereits verlorene Frankreich wird durch ein Bauernmädchen gerettet, das mit der Hilfe Gottes die Engländer schlägt und den Dauphin, den rechtmäßigen Thronfolger, als König von Frankreich proklamiert.

So faszinierend ist die Geschichte, so einfach und gleichsam verworren, dass sie in vielen Künsten Anklang fand. Wer kennt nicht das berühmte Bild von Dominique Ingres; Shakespeare schilderte aus der Ferne ihre Geschichte in seinem Drama -Heinrich VI- mit einer ganz besondere Note der Begeisterung; neben Schiller haben auch der große irische Dramatiker George Bernhard Shaw (Die heilige Johanna) und der französische Dramatiker Jean Anouilh (Jeanne oder Die Lerche) die Geschichte und den Mythos Johannas beleuchtet; auch die Spielentwickler haben in dem Strategiehit Age of Empires 2 eine Kampagne nach ihrem Leben ausgerichtet.
Sie wurde selig und heilig gesprochen und der 30. Mai ist immer noch ihr Gedenktag.

Schiller hält sich eher leidlich an die historisch korrekten Abläufe, sucht dafür über all Glorie und Zerissenheit, doch trotzdem hat er es geschafft, das Wesen der Dramtatis Personae, vor allem das der Johanna, einzufangen. Sein Drama ist lebendig und farbenreich wie selten ein Stück, Emotionen fließen (vielleicht überschäumend von Zeit zu Zeit) durch jede Zeile – so in dieser, in der der Herzog von Burgund den Mördern seines Vaters vergibt:

“Ihr Todesgötter, rechnet mir’s nicht zu,
Dass ich mein schrecklich Rachgelübde breche.
Bei euch dort unten in der ew’gen Nacht,
Da schlägt kein Herz mehr, da ist alles ewig,
Steht alles unbeweglich fest – doch anders
Ist es hier oben in der Sonne Licht.
Der Mensch ist, der lebendig fühlende,
Der leichte Raub des mächt’gen Augenblicks.”

Der ganze Text ist gleich einem kunstvollen Hohelied, mit Wundern und Wandel, Verirrungen und großen Gesten. Keine Figur ist Frage und wenn Johanna zu einem anderen sagt: “Der Geist zeigt mir nur große Weltgeschicke/ DEIN Schicksal ruht in deiner eigenen Brust!” wirft sich eine Frage über das ganze Drama: galt (bzw. gilt) dies auch für Sie selbst?

An anderer Stelle sagt sie zu ihrem Jugendfreund:

“Du siehst nur das Natürliche der Dinge,
Denn deinen Blick umhüllt das ird’sche Band,
Ich habe das Unsterbliche mit Augen
Gesehen – ohne Götter fällt kein Haar
Vom Haupt des Menschen – Siehst du dort die Sonne
Am Himmel niedergehen – So gewiss
Sie morgen wiederkehrt in ihrer Klarheit,
So unausbleiblich ist der Tag der Wahrheit!”

Und obwohl es wohl hauptsächlich ein sprachliches Lesevergnügen ist, wer tiefer gehen will, der findet hier eine ein ums andere Mal durch Poesie und Klang getragene Dialektik vor, einen Zwiespalt, der das Problem des Göttlichen und Menschlichen, wie auch andere Gedanken sehr gut einfasst und streift.

Zuletzt sei noch gesagt: Goethe hielt das Stück für das beste Drama, das Schiller verfasste.

Über einen kleinen Meister der Sprache und des Humanismus: Alfred Polgar und den 1. Band seiner Werkausgabe: Musterung


“Was ist Erkenntnis? Doch zumeist nur der Trugschluss, dem man’s nicht anmerkt. Wahrheit? Der Irrtum, auf den noch keiner gekommen ist. Und welcher Beweis gilt? Jener, der schlauer geführt wird, als sein Gegenbeweis.”
Polgars viel zitiertes, amüsiertes Glaubensbekenntnis.

“Ich glaube an das Gute im Menschen, rate aber, sich auf das Schlechte in ihm zu verlassen.”

“Sonderbar, dass die kleinen Nuancen des Lebens so viel Feindseligkeit unter den Menschen bewirken – und das allen gleiche “Sterben-Müssen” so wenig Solidarität.”

Es gibt wenige Schriftsteller, die es in der kleinen, kurzen Textform zu Ruhm brachten und bringen. Augusto Monterrosso fällt ein, überhaupt die spanischen Minimalisten. Im deutschen ist ein Triumvirat, deren Mitglieder alle etwa zur selben Zeit lebten und wirkten: Robert Walser mit seinen poetischen Nuancierungen, Träumereien und Spielen (siehe: Der Spaziergang), Franz Kafka mit seiner alles erschließenden und alles verklitternden Optik, und als ungekrönter Caesar: der Autor, Essayist und Aphoristiker Alfred Polgar.

Genremäßig gehört Polgar allerdings eher zu einer anderen Riege – zu den berühmtes Caféhausliteraten und Feuilletonisten, die sich in den 20er und 30er Jahren in der Weimarer Republik und Österreich hauptsächlich als Freelancer für Zeitungen und Zeitschriften, mit Theaterkritik, sowie dem Kabarett verdingten. Viel von dem, was hier in diesem ersten Band seiner Werkauswahl enthalten ist, hat die Länge eines Zeitungsartikels, vieles davon wurde auch in diesem Medium zuerst veröffentlicht.

Was die Art angeht, habe ich lange überlegt, mit wem Polgar zu vergleichen wäre. Er ist Oscar Wilde nicht unähnlich, allerdings nur, wenn es um seine Beobachtungsgabe und die Genialität und Knappheit seiner Bonmonts und Beobachtungen geht; anders als Wilde war er ein gemäßigter Dandy, lange nicht so monströs und geltungssüchtig, beflissener, wiederum aber wie Wilde von einer festen Größe, nur ohne die großen Gipfel und Abgründe. Scharfsinn und Zweifel sind immer Polgars vorrangige Waffen; mit ihnen geht er die unterschiedlichsten Themen an.

Dieser erste Band Musterung enthält hauptsächlich engagierte Essays/Prosa; im ersten Teil vor allem pazifistische und antifaschistische Glossen, Satiren, Berichte und Betrachtungen, im zweiten Teil allgemeine Zeitspiegel, wie etwas Strafprozesse, Wiener Lebensart, Anekdoten & politische Vorkommnisse. Wer sich an schöner, geschliffener Sprache erfreuen kann und subtilen Witz und Esprit schätzt wird hier immer wieder auf seine Kosten kommen und eine, vor allem stets sehr anregende, Kurzlektüre finden – wer allerdings mehr auf kleine Geschichten, denn auf Zeitgeschehen und Feuilleton setzt, sollte den Band 2: Kreislauf wählen. Irrlicht: BD 3 enthält Literaturkritiken und Szenen aus dem literarischen Leben.

Wer einen kleineren, beschaulicheren Überblick über Polgars Art und Ceuvre erhalten will, kann auch mit diesem schmalen Band beginnen: Im Lauf der Zeit

Es gibt ein Faustfragment von Lessing, in dem der Geist dem Faust auf die Frage: “Was ist das schnellste auf Erden?” die Antwort erteilt: “Der Übergang vom Guten zum Bösen.”

Um diesen schnellen Übergang weiß und gegen ihn kämpf Polgar mit aller aufgeboten Menschlichkeit und Bissigkeit. In seinem Engagement steht er dem etwas rauerem Tucholsky und auch Karl Kraus nah, auch Erich Kästner und seine weimarer Lyrik bieten sich als Vergleich an; Polgar stemmte sich gegen Gewalt, Willkür und falsche Objektivität, sowie überschüssige Subjektivität. Errare humanum est – jeder unterliegt dieser Bedingtheit und Alfred Polgar wieß die Menschen nur zu gerne süffisant auf ihre Fehler hin, ohne dabei das Augenzwinkern zu vergessen und dem großen Ideal seines lateinischen Credos mit der Besonnenheit eines Mark Aurel zu folgen, der in seinen Selbstbetrachtungen schrieb: “Die Menschen sind füreinander geboren, also belehre oder ertrage sie.”

Über Katherine Mansfield und ihren Erzählband “In einer deutschen Pension”.


“Verheiratet zu sein bedeutet für mich nicht treu zu sein, denn wozu hat man einen Körper mitbekommen, wenn man ihn wie eine kostbare Geige in einen Kasten schließen muss?”
Katherine Mansfield in einem Brief

Katherine Mansfield, eine wendige Persönlichkeit, bisexuell, eine freche Frau, mit einem bravourösen Intellekt und einer spitzen, in späteren Werken abgeschliffenen, Zunge, die nur 34 Jahre alt wurde. Mit ihrem beneidenswerten Spott, der sich um ihre Liebenswürdigkeit und Sprache legte wie eine zweite Haut, ihrer Beobachtungsgabe und der zeitlosen Hilflosigkeit ihrer Charaktere, gehört sie bis heute zu den lesenswertesten Autorinnen überhaupt.

Es ist traurig, dass sie in deutschen Gefilden so sehr in Vergessenheit geraten ist; dabei hat sie doch alles, was Literatur, was Lesen, im Kern ausmacht: Witz, Charme, Aufdeckung und eine unverwechselbare Lebensnähe in jeder einzelnen ihrer kleinen Geschichten.

“In einer deutschen Pension” ist ihr erster von drei zu ihren Lebzeiten erschienenen Erzählbänden, den sie größtenteils in der Zeit welche sie in einer deutschen Kur-Pension zubrachte schrieb, nachdem sie ihre erste Fehlgeburt erlitten hatte. Viel losgelassene Bitterkeit paart sich hier mit Menschenkenntnis, Zynismus schmiegt sich an subtilen Humor, lebendige Gesten fahren in fast schon karg anmutende, unter der Oberfläche lebende Gestalten.

Mansfield kann vermutlich als die wahre Erfinderin der nüchtern-zweischneidigen Short Story, die nachher durch Hemingway und Raymond Carver ihre Berühmtheit erlangte, gesehen werden. Natürlich ist deren Stil noch karger, noch mehr nach Hemingways Theorie vom Eisberg, bei dem nur ein 5tel oben schwimmt und der Rest stets unter der Oberfläche bleibt. Bei Katherine Mansfield wäre es, in diesen frühen Erzählungen – die zwar nicht untypisch, aber ab und zu noch etwas formlos sind – vielleicht 1/3 oben und 2/3 unter der Oberfläche.

Vor allem ist dieses Buch eine amüsante, kurze Lektüre; es geht viel ums Kinderkriegen, um die Rolle von Frauen und immer wieder um die kleinen spitzen Vorurteile, die wir alle unter unseren Mänteln von Rechtschaffenheit und Bewandtnis tragen und um das Gerede, das von jedem geschwungen wird und mit jedem Charakter so verwachsen scheint, als sei nicht der Charakter der Träger von jenem, sondern das Gerede sei der Träger des Charakters.

Mansfield erzählt subtil und mit bedacht eingestreuten Höhepunkten und Flauten; sie komponiert ihre Geschichten wie Klaviersonaten, wo natürlich auch ein “Scherzo” nicht fehlen darf, wie hier im Textausschnitt:
(Zur Einleitung dieses Ausschnittes: gerade hat eine kleine bunte Truppe von Leuten mit der Ich-Erzählerin einen 8 Kilometer langen Fußmarsch zu einem Dorf zurückgelegt und sich im Wirtshaus erholt-)

>>Elsa beugte sich plötzlich zu Fritz hinüber und flüsterte ihm etwas zu, und nachdem er sie bis zum Ende angehört und sie dann gefragt hat, ob sie ihn liebe, stand er auf und hielt eine kleine Ansprache.
“Wir… wir möchten unsre Verlobung mit einer Einladung an Sie alle feiern, mit uns im Wagen des Wirtes heimzufahren – falls – falls wir alle reinpassen.”
“Oh, was für ein wunderbarer, nobler Einfall”, rief Frau Kellermann und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der zwei ihrer Korsetthaken hörbar sprengte.<<

Ich kann diese süffisante Literatur nur jedem ans Herz legen, der lächeln, lernen, beobachten und lesen und das alles zugleich will.

Kurzer Versuch gemeinsam mit Philip Djian Faulkners “Als ich im Sterben lag” zu präsentieren


“Warum Als ich im Sterben lag und nicht Schall und Wahn, Licht im August oder Absalom, Absalom? Einfach, weil es die erste Tür war, die ich öffnete, um Faulkners Welt zu betreten. Sonst wüsste ich nicht wie ich mich entscheiden sollte. >>Was soll ich von Faulkner lesen? Womit soll ich anfangen?<< Wenn man mir diese Fragen stellt, legt sich eine schwere Last auf meine Schultern. Dann sage ich sehr bald unzusammenhängende Dinge und verwirre damit meinen Gesprächspartner. […] Denn immer, wenn ich jemanden an Faulkner verweise, möchte ich sicher sein, dass er sich nicht davon erholt. Dafür fühle ich mich verantwortlich.”
Philippe Djian in seinem Buch In der Kreide

William Faulkner, Nobelpreisträger, amerikanischer Kultschriftsteller und bis heute als Former eines universelle literarischen Werkes bekannt, gehört bis heute zu jenen großen Romanautoren, die jeder gelesen haben MUSS. Womit man anfängt, dass mag man unterschiedlich sehen – die meisten meinen Die Freistatt, Faulkner selbst empfahl Die Unbesiegten als geradlinigsten seiner Romane, Licht im August gilt als sein bestes Buch.

Doch genau wie Philippe Djian bin ich der Ansicht man sollte mit diesem Werk beginnen. Es ist gewiss nicht das leichteste, gewiss nicht das monumentalste, mehr ist es ein Tanz auf dünnem Eis.

In 59 inneren Monologen, gespickt mit mitgeteilten Dialogen, bewegt sich die Odyssee von Anse Bundren und seinen 4 Söhnen nebst Tochter durch Yoknapatawpha County (eine imaginäre Landschaft/Gemeinde, wo die meisten Romane Faulkners spielen). Sie versuchen den Sarg ihrer Frau/Mutter in ihr Heimatdorf zu bringen, um sie dort zu beerdigen. Alle haben, so scheint es, wahrlich auch viel dabei zu verlieren. Vielleicht ist dies, das Packenste an Faulkner.

“Bei Faulkner stößt man auf viel Schweiß, viel Brutalität, viel Licht. Seine Protagonisten sind einfältige Menschen, gefallene Mädchen, Schwärmer, Rohlinge, Heilige und Märtyrer. Daher kann man sich vorstellen, wie verdichtet diese berühmten Monologe sind, ihre düstre, von Blitzen erhellte Schönheit, ihre schwüle Atmosphäre, ihre schwindelerregenden Abgründe.”
Philippe Djian in In der Kreide

Eine Farce, ein Abenteuer, Charakterstudien über die individuelle Zerrissenheit der Menschen, all dies und noch viel mehr ist dieses Buch. Es ist wie ein Sog, eine Mischung aus Psychologie und Poetik; Trauer und Träume, Hass und Verzweiflung – das alles hält Faulkner gedrängt beieinander, wie unter der Oberfläche, es blitzt immer wieder auf aus der Tiefe und er sublimiert es in seine Betrachtungen, die dadurch unerhört lebendig sind, und beinah lyrisch werden:

“Es beginnt zu regnen. Die ersten vereinzelten, schweren, raschen Tropfen rascheln durch das Laub und fegen über dem Boden mit einem langen Aufseufzen, das wie Erlösung aus unerträglicher Spannung klingt. Sie sind groß wie Schrotkugeln, warm, als wären sie aus einem Gewehr abgefeuert; sie fahren mit bösartigem Zischen über die Laterne hin.”

Faulkner ist einfach ein großartiger Schriftsteller. Wenn alles andere verwirrt und entmutigt, gar verschreckt hat, den wird dieser letzte Satz hoffentlich trotzdem zu diesem Buch, zu diesem Autor greifen lassen. Ihn erwartet ein besonderes Erlebnis.

Werthers moderne Leiden von Plenzdorf


Durchweg könnte dieses Buch als eine Unverschämtheit gewertet werden; sein schnoddriger, auf schlechte Weise leicht an J.D. Salingers Der Fänger im Roggen erinnernde Ton, die aufgetragene Chuzpe und seine (doch etwas zu sehr) bemüht nihilistische Hauptfigur, reißen dem Fass nicht gerade den Boden aus – “bringt mich um”, wie Protagonist Edgar Wiebaeu sagen würde.

Doch da ist etwas, dass man nicht verhehlen kann: Obwohl Plenzdorfs Buch weder die Feinsinnigkeit von Goethes Roman besitzt, noch an Salingers kongenialen Roman heranreicht, hat Plenzdorf mit der DDR-Atmosphäre, einem vorlauten Hauptcharakter und fahrigen Erzählsträngen eine interessante Mischung komponiert, die streckenweise zu erhellen und dann wieder auf skurrile Art zu erheitern weiß. Zum Beispiel, wenn Edgar zu den (un)passendsten Gelegenheiten auswendig aus dem Werther zitiert und man langsam begreift, dass dieses Buch nirgendwo hin will.

Kein Wunder eigentlich: Die Hauptperson erzählt uns ja die ganze Geschichte aus dem Jenseits, jeweils schön untermalt von Gesprächversatzstücken zwischen dem Vater und den Leuten, mit denen Edgar in Berlin verkehrt hat, wohin er Hals über Kopf geflohen war.

Insgesamt ist dieses Buch sicherlich ein ordentlicher, knapper Roman, ein fragmentarisches Zeitdokument, eine passable, dünne Unterhaltung, mit einige Satzjuwelen und Gefühlbeispielen, die man sich rauspicken muss:

“Ich wollte zeitlebens nie den gleichen Weg zurück machen, den ich irgendwo hingegegangen war. Nicht aus Aberglauben uns so. Das nicht. Ich wollte es nicht. Es langweilte mich wahrscheinlich.”

Als Adaption misslungen, als ein netter Streich geglungen, irgendwo zwischen Anarchie, Kult und Belanglosigkeit.

Roman der obsessiven und doch besonderen Liebe: “Manon Lescaut” von Abbé Prévost


“Ein erfülltes Leben zu leben, ist eine Lebensaufgabe.
Es zu füllen, eine Obsession.”
Henry West

“Kein Mensch kann über die Grundsätze der Moral nachdenken, ohne sich zu wundern, dass sie gleichzeitig hochgeschätzt und doch vernachlässigt werden, und man forscht nach der Ursache dieser Eigenheit des Menschenherzens, das sich an den Ideen des Guten, Vollkommenen berauscht, sie aber nicht in die Tat umsetzt.”
Prévost im Vorwort

Tatsächlich deckte der Autor Prévost (1697-1763) damit einen urmenschlichen Konflikt auf, der sich bis heute nicht erschöpft hat. Die Mahnung an sich ist jedem von uns geläufih; auch die Geschichte und die Erfahrung gibt der Vorsicht eher Recht als dem Risiko, dem Traum von anderem. Doch stets ist der Mensch bereit alles zu opfern, alles leichfertig aufs Spiel zu setzten, alle Tugenden fahren zu lassen, um sein Leben zu erfüllen – mit Geld und Glück und natürlich: mit Liebe.

Der Chevalier des Grieux ist so eine Person. Nachdem er sich einmal in die schöne Manon Lescaut verliebt hat, ist er für immer von ihr gefangen genommen und kann, so meint er, ohne ihre Liebe nicht mehr leben. Nun ist Manon auch in ihn verliebt, doch ist sie einer dieser flüchtigen und wankelmütigen Geister, der naiv und risikofreudig zugleich, immer wieder beides will: Liebe und Luxus, Glück und Macht. In der steten Hoffnung eines Tages beides zu erreichen, schummeln sich die beiden durch die Welt, wobei Chevalier immer wieder unter Manons Leichtfertigkeit und ihren überschnellen Plänen zu leiden hat. Doch trotzdem können sie in ihrer innigen Liebe nicht voneinanderlassen …

Der Roman ist sehr doppeldeutig angelegt. Manon ist einerseits eine Frau, die jede Menge Aufmerksamkeit auf sich zieht und gleicht einer abgeschwächten Sirene, die Unglück für jeden verheißt, der sie erblickt; andererseits ist sie nicht böswillig und trotz ihrer vielen Vergehen kann man am Ende schwer an ihrer Liebe zu Chevalier zweifeln – obwohl viel Hinterlist in ihr zu stecken scheint, blitzt dann plötzlich wieder Zuneigung hervor. So gesehen hat Prévost es geschafft, das Bild einer Frau, die zwischen ihren Gefühlen und ihren Ansprüchen zerrissen ist, wunderbar ambivalent und ohne Scheuklappen darzustellen.

Von der Tragik, den starken Liebesschwüren und der Sprache hat mich der Text an viele Romane dieser Epoche erinnert; doch wohnt ihm dabei ein eigenwilliger, besonders durchdringender Effekt inne, eine Dichte, die ihn wieder besonder hervorhebt. Lesenwert auf jeden Fall; und wenn einem irgendwann das schiere Hin und Her darin, etwas übertrieben scheint – in dieser Übertrebung liegt eine menschliche Wahrheit, mon frère …

Die Kunst des Hungers und Amelie Nothomb. “Biographie des Hungers”


Wenn Literatur tiefenwirksam ist, gleichsam lacht und spielt, leicht obsessiv und rasant ist, dann ist nicht selten Amelie Nothomb am Werk!

Nur wenige wissen es: Die Bewohner von Vanuatu kennen keinen Hunger. Regionaler Überfluss und fehlende Kolonisation haben für dieses Phänomen gesorgt. Doch das ist nur eine kleine subtile Einleitung, denn: “Was mich an Vanuatu fasziniert, ist, dass es in so hohem Maße die geographische Manifestation meines Gegenpols ist. Denn ich bin der Hunger.”

Die nachfolgende autobiographische Geschichte führt uns rasant um den Globus und in kindlich-lebendige Welten, die sich in Birma, New York, China und Japan austoben, in denen die kleine Amélie wegen der Botschaftertätigkeit ihres Vaters aufwächst. Eine Biographie des Hungers, das sind Farben, die nun gleichsam kosmologisch durch unsere Adern pochen, während wir außer Atem durch die Sprache der geistreichen, witzigen und launischen Erzählerin gleiten. Wohin? – “Weg von hier”, nach Kafkas Credo? An ein Ziel? Zu einem Lustgewinn? Eigentlich ist die ganze Geschichte wie ein einziger Atemzug, immer präsent und es kommt einem vor als sei manches davon genau zwischen Phantasie und Wahrhaftigkeit geborgen …

Man sagt Amélie Nothomb gelegentlich die vielschreiberische Dilletanz nach und spricht ihren Büchern literarische Größe ab (wenn man jenes mit den Werken von Georges Simenon täte, wäre es genauso Unrecht). Doch zum ersten Mal hat es mich nicht gestört, das einer meiner Lieblingsliteraten von einer solchen Schmähung betroffen ist.

Denn dieser Vorwurf, verblasst, ja, scheitert, an der Lesefreude, die mir jedes kleine biographische Buch dieser Autorin gegeben hat. Ihr Ausdruck hat ein wunderbares Gespür für das Natürliche, ihr treffsicherer Witz lebt von Slapstick ebenso wie von schlichter Sympathie und pflant eine schmale Verrücktheit direkt unter unter die Haut des Lebens; ihre Geschichten sind so genial in Szene gesetzt wie phantastische Erzählungen; immer wieder stolpert man über Mythen, Anspielungen und einen leichten Hang zur Übertreibung, der Hals über Kopf das Subjektive der Realität zu betonen weiß und alle kleinen Details ebenso herausstreicht, wie relativiert.

Bei solchen Qualität, kann mir Kritik gestohlen bleiben. Es war Heinrich Böll, der einmal richtig gesagt hat: Es kommt darauf an, was man einem Autor verzeihen, nicht, was man ihm vorwerfen kann. Ich verzeihe Amelie Nothomb die Kürze und literarische Nonchalance, denn ihre Romane passen meiner Leselust wie ein schönes Paar verrückter Engelsflügel; wenn mir die Schokolade am besten schmeckt, kümmere ich mich nicht darum, ob eine andere mehr Kakao enthält.

Mehr zu Amelie Nothomb bei meiner Rezension zu Quecksilber.

Zu dem Buch “Denken mit Blaise Pascal”


Blaise Pascal gehört sicherlich zu den wichtigsten Geistern des späten 17. Jahrhunderts, zumal er seinen Weg als Wissenschaftler und als Christ ging – eher ungewöhnlich für die damals zwischen Aufklärung, Erkenntnis und Agnostizimus tändelnden Geister der Zeit.

Sein philosophisches Hauptwerk ist sicherlich die berühmten Sammlung der Gedanken. Man kann dieses und seine übrigen Werke wahrscheinlich trotzdem verstehen, dennoch ist es wichtig zu wissen, dass Pascal fast die Hälfte seines Lebens von starken Schmerzen und Krankheiten geplagt wurde.

Wie denkt/dachte nun der vor 300 Jahren verstorbene Blaise Pascal?
In einer in 4 Stücke abgegrenzten Arbeit schreibt Pascal über den Menschen, seine Größe und seine Schwächen, seine Rolle und seine Nichtigkeit. Denn der Mensch ist nichtig, wie alles auf Erden, doch ist er sich, das macht seine wahre Größe aus, seiner Nichtigkeit durch Reflexion und Betrachtung sehr genau bewusst.
Nur die Macht der Gedanken macht den Mensch zum höheren Wesen (sie macht ihn quasi zu einer Art gefallenem Engel, der aber immernoch dessen Würde besitzt; auch wenn seine Körperlichkeit verdorben ist, hat er immer noch eine Ahnung, einen Wunsch, ein Streben nach dem Paradies) – “Ich kann nicht aus dem Raum meine Würde suchen, sondern aus der Zucht meines Gedankens.”

Der Mensch ist also für Pascal per Definition ein höheres Wesen – doch entgegnet er auch sofort, dass er es eben nicht ist, denn er hat unzählige Fehler und flüchtet sich in abwegige Zerstreuungen. – Warum? Weil er, so meint Pascal, sich nicht damit konfrontiert sehen will, dass er, wenn er allein und nicht beschäftig wäre, an sich und über sich selbst (nach-)denken müsste – und dabei die schreckliche Gewissheit der Nichtigkeit aller Systeme und Einrichtungen der Gesellschaft sich ihm offenbaren könnte. Diesem will sich der Mensch nicht stellen – doch Pascal beschwört den Mut dieses Elend zu überwinden:

“Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erde und die Naturreiche zählen nicht so viel wie der kleinste der Geister; denn er weiß von alldem und von sich selbst, und der Körper von nichts. Und alle Körper und alle Geister zusammen und alle ihre Werke zählen nicht so viel wie die geringste Regung der Liebe; denn die Liebe gehört einer unvergleichlich erhabeneren Ordnung an. Aus allen Körpern zusammen könnte man nicht den kleinsten Gedanken bilden[…]”

Pascal hält viele Gedanken bereit; kluge Nebenbeiträge spicken seine Überlegungen (so zum Beispiel die, das jeder Mensch nur etwas wünscht, um sich am Leben zu erhalten, nicht um das Erwünschte zu bekommen), auch wenn manches trotz seiner immer noch akutellen Brisanz, auf wiederholte Art veraltet wirkt. Obwohl er auch als Humanist gelten kann, hat er auch Ansichten getroffen, mit denen Ich nicht einverstanden bin – manche Betrachtung so finde ich, ist zu radikal, auch wird die Vergeblichkeit hier und da etwas überstrapaziert.

Trotzdem ist Pascals Werk es dreimal wert, dass man sich damit auseinandersetzt und sich von ihm inspirieren lässt und von ihm lernt – denn: “Die Wissenschaften haben zwei Endpunkte, die sich berühren: die erste ist die klare, natürliche Unwissenheit, in der alle Menschen stehen, wenn sie geboren werden; am anderen Ende stehen die großen Menschen, die, nachdem sich durch alles, was die Menschen wissen, hindurchgeschritten sind, erkennen, dass sie nicht wissen und sich in jener Unwissenheit wieder begegnen, von der sie ausgegangen sind. Aber es ist eine wissende Unwissenheit, die sich durchschaut.”
Mag das nun ein Trost sein, oder nicht, es ist eine schöne Farce in sich.

“Die Versuchung des heiligen Antonius” in Szene gesetzt von Gustave Flaubert


Der heilige Antonius (besser bekannt als Antonius der Große) soll von ca. 251 bis 356 n.Chr. gelebt haben. Er war ein bekannter und sehr strenger Büßer und Eremit, der sich über lange Zeit (manche behaupten gar sein ganzes Leben) nicht aus seiner Wüste bewegt hat. Hier war er ganz auf die Abtötung seiner Bedürfnisse fixiert.

Was aber gab dem berühmten Literaten Flaubert, der mit seinem bekanntesten Werk Madame Bovary, einen großen, aber nichts desto trotz eher konventionell-realistischen Roman geschrieben hat, den Anlass, sich in eine religiöse Welt der Glaubensprüfung zu begeben? Hat es etwas mit dem Gedanken einer “Glaubensprüfung” an sich zu tun? Faszinierte Flaubert die Vorstellung eines solchen Aktes?

Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben, wenngleich Flaubert durchaus einige Affinitäten zum Mythischen und Heiligen wie auch Archaischen hatte, wie einige andere Texte, Salambo oder auch das schwirrend, schwüle November, nahelegen. Gewiss, auch in -Madame Bovary- erleben wir einige Diskussionen und Anmerkungen über Kirche und Philosophie, ihre Konflikte und Inhalte – doch ist dieser “Roman in Szenen”, der wie ein Theaterstück aufgebaut ist, in so tiefstem Maße, theologisch, bunt und mythenschwer, dass man ihn nicht mehr als bloße Parabel auf einen Gedankengang abtun kann. Es ist eine breitangelegte Metaphysik der Versuchung.

Drei Mal schrieb Flaubert den Text um; über 25 Jahre arbeitet er immer wieder an dem Manuskript und konnte kurz vor seinem Tod noch die endgültige Version vorlegen; sein ganzes Leben hat ihn dieses Projekt begleitet.

Antonius steht in der Wüste vor seiner Hütte; es ist Nacht und er fühlt sich ausgeleert und zweifelt leis’ an seinem entrückten Dasein; wehmütig spielt er mögliche andere Existenzen durch. Doch bald schon plagen ihn Heimsuchungen (oder Visionen?) in denen der Teufel im Reichtum anbietet und ihn mit Gewissheiten und Widersprüchen konfrontiert.

Der eigentliche Romantext ist in 7 Kapitel aufgeteilt. Kapitel Eins ist eine Art Einführung, worauf in den folgenden Kapiteln allerhand mythische Motive aufgegriffen werden und sich verschiedene Themen herauskristallisieren.
In Kapitel II ist es die Versuchung des Überflusses, in Kapitel 6 schwingt der Teufel Antonius in die Lüfte und zeigt ihm die Lächerlichkeit seines Gottglaubens auf; in Kapitel 4 und 5 dagegen, sieht sich Antonius mit den unterschiedlichsten Auslegungen seiner Religion konfrontiert, mit Kulten und auch mit vielen fremden Göttern – stets ist Antonius entsetzt:

“ANTONIUS: Ich denke an all die Seelen, die durch die falschen Götter verloren sind.

HILARION: Findest du nicht, dass sie … manchmal… dem wahren gleichen?

ANTONIUS: Das ist eine List des Teufels, um die Gläubigen leichter zu verführen! Die Starken versucht er mit den Mitteln des Geistes, die Schwachen mit denen des Fleisches.

HILARION: Aber im Rasen der Wollust ist etwas von der Selbstaufopferung der Buße. Die wahnsinnige Liebe des Körpers treibt seine Zerstörung voran – und offenbart in ihrer Schwachheit die Größe des Unmöglichen.”
(Textausschnitt)

Ist alles nur eine Versuchung des Teufels? Es scheint so. Dabei will Antonius doch nur, was viele, vielleicht alle Gläubigen wollen: Ein Zeichen, dass ihnen den Zweifel nimmt. Am Ende wird es gerade die große Versuchung sein, die Antonius in seinem Glaubens bestärkt – wo soll man auch glauben, wo man nicht zweifelt? …

Der Reichtum, die Fülle, von Flauberts Werk ist Vorteil wie Nachteil zugleich. Selbst der erfahrenste Leser könnte sich in diesem mystisch-mythischen Spiel, das Bilder entwirft wie atemlose Monologe und Monologe wie atemlose Bilder – und in Teilen an die plastische Seligkeit der Märchentexte von Oscar Wilde, in anderen Momenten an barocke und antike Bombastik erinnert – verloren fühlen. Namen, Figuren, Personen tauchen zu Hauf auf und verschwinden schnell wieder, oft nur kurz erwähnt, und mir persönlich war nicht einmal die Hälfte von ihnen geläufig.

Die Schönheit der Darstellung und die kleinen wahren Zeilen im Sturm der Dramatik, erfüllen allerdings (und ist es im Theater anders? – 98% Show, 2% genau auf den stillen Punkt gebrachte Wahrheit) den Bedarf an Lesegenuss und Erkenntnis; man muss sich nur in einem Bilderrausch sanft an die Ufer jener wenigen Erkenntnisse tragen lassen … Eine Erkundung dieser alten und doch so neuen Welt, lohnt sich daher allemal.

Übrigens: Das zwar eher fachliche, trotzdessen interessante Nachwort lieferte Michael Foucault!

Das Leben ist anderswo …


“Das Leben ist anderswo”, der berühmte Ausspruch Rimbauds, ein Traumruf, der wohl nie verhallen wird, Bestandteil von André Bretons Surrealismus-Manifest und auch Titel von Milan Kunderas Roman über Dichtung und Jugend.

Jaromil ist ein sensibler Junge mit einer dominanten Mutter. Er wächst in den Wirren des zweiten Weltkriegs auf und seine Jugend und Berufung zum Dichter ereignen sich genau zu der Zeit, als Dichter dringend gebraucht werden: während der sowjetisch eingeleiteten Sozialismusrevolution in Tschechien, sucht man Leute, die mit ihrer neuen Kunst das Staatsystem stützen können und die entartete Kunst hinter sich lassen. Jaromil, ein durch und durch seinen Stimmungsschwankungen unterworfener Sonderling, der schon immer bereit war sich für etwas zu begeistern (auch für den Surrealismus), solange es ihn ins rechte Licht rückte und ihm scheinbar die Chance auf ein erwachsenes Leben verspricht, lässt sich gerne einspannen. Wie ein heinrichmannscher Untertan, schwingt er sich zum eisenharten Kämpfer für seine Bewegung auf.

Milan Kunderas Buch ist ein mehrdimensionales Werk. Obwohl der Autor selbst eine beinahe klare und dennoch verwirrende Nachwortaussage macht, dahingehend, dass es nicht um die Zeit gehe, in der Jaromil lebe und auch nicht wirklich um Dichtung, sondern um Jugend und in Verbindung mit der Jugend um die Dichtung und ihre damalige, schreckliche Ethikverfassung unter dem sozialistischen Regime, wird man das Gefühl nicht los, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht: Um das Monster in jedem Menschen.

Denn so wie Kundera Jaromil beschreibt, lässt er nicht ein einziges gutes Haar an ihm. Auch wenn er betont Jaromil sei kein schlechter Dichter und dass dies eine zu einfache Erklärung seines Scheiterns sei und Jaromils Fehler, Pannen und Sensibeleien durchaus menschliche Züge tragen, so bleibt doch am Ende die Heftigkeit der Dämonisierung im Gedächtnis und im Wesentlichen eine Frage offen: Wie kann man so misanthropisch an ein Thema herangehen, dass zwar oft zu sehr von der hellen, aber in diesem Buch doch allzu sehr von der zerstörerischen Seite gezeigt wird: Die Jugend.

Kundera webt sich ein in eine Idee vom Fanatismus und Despotismus, der Jaromil und seiner Mutter so ureigen ist, wie dann wohl dem Rest der Menschheit auch. Leidenschaftlich zerstören sich Mutter und Sohn selbst und gegenseitig ihr Leben und ihre Beziehungen, zwar eifersüchtig-verständlich und sicherlich auch ähnlich schon oft gesehen, jedoch ohne einen Funken Reflektion, ihrer Obsession nach Gedeih und Verderb folgend, zwischendurch legt Kundera auch noch süffisant all ihre Schwächen gegen sie aus; eine realitisch-schmerzliche Darstellung, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Mutter will an allen den Dingen des Sohnes teilhaben, der Sohn will sie möglichst ausschließen.

Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit, auch dieses Buch hat seine poetischen Momente und hält eine Fülle wichtiger, wenn auch bereits bekannter Einsichten, einen moralischen Zerrspiegel bereit, mit dem uns das Kunstwerk in die Bizarrheit einer falsch verstandenen Mutter – Sohn Beziehung blicken lässt. Nach Kundera ist ein Roman nur dann etwas wert, wenn er einen neuen Blickwinkel auf die Existenz oder gar eine neue Art der Existenz wirft. Nun Kunderas Roman ist etwas wert – die Frage ist nur, ob er neben seinem Realismus, auch Wirkung zeigen kann; ob er die Realität und den Kern seines Existenzprojektes “Jugend” nicht trotz großartiger Sprache und Konzeption eben gerade deshalb verfehlt, weil die Wirkung in der furchteinflößenden Schilderung versinkt. Vielleicht wird die Wirkung auch aus dieser Furcht geboren, wer weiß …

Es fällt schwer einen Schlussstrich unter das Buch zu ziehen, man müsste es eigentlich noch mal von vorne lesen, man müsste ihm 5 und doch nur einen Stern geben; man müsste die Wahrheit darin suchen und sie nicht einfach aus jedem Satz nehmen. Man kann es auch ganz “einfach” formulieren: Die Ambivalenz dieses Werkes ist sein hervorstechendstes Merkmal, sie dirigiert unsere Empfindungen darin.

Das Buch ist großartig konstruiert; es ist grausam und zweifelhaft; poetisch und einfach; erfassend und pedantisch. Es ist ein Leseabenteuer, denn Kundera hat die Gabe, echtes Leben zu schreiben. Aber vielleicht ist das Leben trotzdem anderswo.