“Nichts, was sich der Seele bietet, ist eindeutig, und vieldeutig bietet sich die Seele dar.”
Blaise Pascal
“Mensch sein, heißt Mensch WERDEN.”
André Gide
Romanen ist die Möglichkeit eingegeben, in den Räumen menschlichen Lebens jede Art von Erleben und Erfahren durchzuspielen, dabei zutage zu fördern, zu verdichten, zu reflektieren und zu versinnbildlichen – zusammengegossen durch Stil und gerührt durch das Erzählen. Jeder einzelne Roman bewältigt eine Fülle und Einheit von Offenbarungen, die er selbst in Gang gesetzt hat. Ein Roman ist nicht einfach eine Erzählung – er ist auch ein Ausschnitt des Blickes, denn das gesamte Bewusstsein der Menschheit je auf seine Umgebung, seine Existenz, sein Schicksal, seine Möglichkeiten geworfen hat.
“Die Falschmünzer” sind ein beeindruckendes Beispiel dafür; ein beinahe schlichtes, aber auf vollkommene Art und Weise arrangiertes Kaleidoskop menschlicher Typen, Sehnsüchte und Ansichten, durch welches das Licht einiger weniger Ereignisse fällt und vielfältig gebrochen wird; während der Erzählung wird des Öfteren die Perspektive gewechselt, Tagebucheinträge und Briefe spielen eine ebenso wichtige Rolle wie Gespräche und innere Analysen der Figuren. Es wird Theorie gemacht, es werden Überlegungen eingeflochten.
Dennoch wird alles, was bestimmend wirken könnte, dosiert und nicht überreizt. Man merkt es dem Roman auf jeder Seite an, dass er erforschen und nicht klarstellen will, dass seine Figuren ins Lebendige hineingeschrieben sein sollen und nicht nur Stoffbahnen sind, die zu einer guten Erzählung geschneidert werden können; denn dieser Stoff, so legt uns Gide mit viel Sensibilität und Gespür für menschliche Stimmungen, Missverständnisse, Ängste und Schwächen dar, aus dem wir sind, ist seinem Muster und seiner Art unterworfen, nicht aber einer Verwendung – diese Verwendung, von außen prophezeit, begünstigt, befohlen, ist die Krux, die wirkliche Aufgabe, die schwierigste.
Und so gilt: Errare humanum est, irren ist menschlich, und Gide zeigt uns seine Figuren nicht nur zerrissen in ihren Vorstellungen, Obsessionen und Absichten, sondern auch wankelmütig und stets von neuen Entwicklungen und neuen Stimmungen aufgenommen und umgetrieben. Diese Dynamik macht den Roman so lesenswert und nahezu alterslos.
Und noch mehr: es macht Gides Buch zum totalen Roman. Jede Variation zieht uns auf neue Weise ins Geschehen und fügt sich doch ein als weiterer kreisender Ring um den Kern, der immer wieder anvisiert wird: was treibt uns Menschen um, vorder- und hintergründig, was lassen wir außer Acht, was wird uns (plötzlich, aber als hieße das schon ewig) klar, was lernen wir zu verstehen, was bleibt uns zu entscheiden und warum sind so viel Entscheidungen unbewusst.
(„Haben sie noch nicht bemerkt“, kommentierte Hildebrant, „dass die entscheidenden Handlungen in unserem Leben, ich meine: jene, die geeignet sind, über unsere ganze Zukunft zu entscheiden, sehr oft unbedachte Handlungen sind?“
„Das glaube ich gerne“, erwiderte Audibert. „Es ist als stiege man in einen Zug, ohne nachzudenken und ohne sich gefragt zu haben, wohin er fährt. Ja, in den meisten Fällen begreift man erst, dass der Zug losgefahren ist, wenn es zum Aussteigen schon zu spät ist.“ (Seite 321))
Ich will “Die Falschmünzer” nicht zu hoch in den Himmel heben. Auch sie haben potenzielle Schwächen, wie etwa denn allzu glatten Ton, den Rahmen des Stils, der trotz seiner vielen Feinheiten und Stufungen eine gewisse Strenge in sich trägt und letztlich die Entscheidung, das Hauptaugenmerk schwer auf den Situations- und Figurenfacetten ruhen zu lassen und nur mit knapper Präzision die Handlung anzusprechen.
Aber eigentlich sind das alles keine Makel, denn man merkt, dass es Gide, dem wunderbaren Humanisten und Individualisten, bis in die kleinsten Spitzen seiner Erzählhaltung um das Wesentliche seiner Kunst, seiner Mitteilung geht. Er will uns immer wieder in den Figuren fixieren, in ihren Gefühls- und Entscheidungswelten, ihrer Ungeklärtheit. Er will nicht nur erzählen, er will uns konfrontieren, aus uns soll ein Teil dessen werden, was verhandelt wird, was eine Rolle spielt, in seinem Buch und im menschlichen Leben. So finden wir in vieles hinein und von dort in unser eigenes Leben zurück und haben einen vagen Moment der Begegnung (oder Wiederbegegnung) erlebt. Wir wurden aufgebrochen vom Kaleidoskop und fügen uns wieder zusammen. Und bleiben zurück mit einem Eindruck von all den Farben, die wir in uns gesehen haben. Und schließen den Deckel eines Romans, eines reichen Buches.