Monthly Archives: September 2015

Charlotte Grasnicks Gedichten in “So nackt an dich gewendet”


„Aus dem geöffneten Fenster

fällt das ausgewanderte Licht.”

“Was haben wir überlebt,
dass wir so schwer
zu beeindrucken sind?”

Durch ein Gedicht in der Zeitschrift Volltext, mit einem kurzen biografischen Text zur Autorin war ich auf diese Gesammelten Gedichte von Charlotte Grasnick aufmerksam geworden. Benjamin Stein (der hier als Herausgeber fungierte und mit den Grasnicks, speziell Charlotte, über Jahrzehnte in wechselndem Kontakt stand und das hervorragende Nachwort geschrieben hat) gestaltete dort die Annäherung an die Dichtern so nah und intensiv, dass ich sehr enttäuscht war zu lesen, dass die Dichterin bereits verstorben war. Ich habe mir den Band dann, obwohl mich das abgedruckte Gedicht nicht so stark beeindruckte, sofort zulegte. Dann lag er eine Weile rum und erst vor einer Zeit nahm ich ihn zur Hand, musste ihn dann aber direkt in einem Zug durchlesen, so letztendlich wurde ich ins Spiegelkabinett der filigranen Dichterin hineingezogen und bald reizte es mich immer zu sehr, das nächste Gedicht kennenzulernen.

“Es gibt Sekunden,
wo auf dem gespannten Antlitz
die Seele ihren Ausflug wagt,
wo du mir das Staunen zeigst
in einem Spiegel aus Luft.”

Kennenlernen ist hier durchaus die richtige Bezeichnung. Es gibt ja Dichter, die sind ständig mit Elementen, mit hoher Sprache und Tiefe beschäftigt und man schlängelt sich durch ihre Gedichte wie durch fremde Welten, die Wunderbares bis Undeutliches offenbaren – ganz selten sind Gedichte solcher Dichter wirklich Begegnungen, meistens sind es eher großräumige Erfahrungen (wobei das eine dem anderen, und umgekehrt, nicht in irgendeiner Weise vorzuziehen ist oder nachsteht – und ganz genau trennen kann man es natürlich auch nicht immer).

Charlotte Grasnicks Gedichte jedoch sind Begegnungen; kurz, fast unscheinbar, nur wenig sprachmalerisch, eher auf eine innere Mechanik der Sprache zurückgreifend (und von da aus malerisch), mit einem Zug zur direkten Darstellung und manchmal zur leichten, aber auch bildhaften Innovation.

“Ich hätte gern
wie ein Clown
für dich
vierblättrige Kleeblätter
geweint”

“Ich sitze
im Blickkorridor
deiner Fragen.”

“Zwei Ichs
werfen zwei Schatten
Zwei Ichs
sind zwei Träume
die Augen zwei Spiegel
zögernd beschlagen
vom Atem der Zeit.”

Fast unbetont, sich eher zaghaft ausbreitend, bleiben diese Verse meist in ihrem eigenen Bild, gehen wenig darüber hinaus. Das stärkt sie allerdings auch, von innen heraus und verleiht ihnen eine oftmals unwillkürlich aufgebaute Größe. Einige der Gedichte aus der mittleren Schaffensphase erinnerten mich in Ansätzen an die Gedichte von Johannes Kühn. Ähnlich wie jene nähern sie sich poetisch ihrem Thema oder Objekt, ohne dabei die Einzelheiten, die schließlich einen Pfad zum Wesen des Gegenstands aufbauen, aus den Augen zu lassen, ohne die Annäherung an die über das Gedicht gebreitete Botschaft zugunsten einer höheren Poetologie, Metaphorik oder Verspieltheit zu verschleiern. Grasnick will beides: Zum Kern der Dinge vordringen und dem Ding doch die Entfernung geben, die es für eine Betrachtung braucht – die Worte sind wichtig, jedes einzelne, aber sie sollen das Thema auch tragen und erfassen, nicht nur mit ihrem eigenen Glanz durchschlagen. Sehr gut sichtbar wird dies bei dem Gedicht Ravensbrück, das von dem gleichnamigen Konzentrationslager handelt. Und doch geht es nicht nur um das Lager Ravensbrück, es geht um das Geschehnis Ravensbrück.

-Ravensbrück-

“Wie vor Augen führen
das nicht vor Augen Führbare,
wie an die Hand nehmen
die entlittene Hand?

Ganz nah herangehen
an das Wort.
Dahinter Frauen und Kinder
in Reihen,
sie winken nicht,
sie lächeln nicht
sie bitten nicht mehr.

Uns bleibt
zu sagen:
so war es –
nicht:
es war einmal.”

Ein großes Gedicht, wie ich finde und ein wichtiges, nicht über das Thema hinausspielendes Gedicht, das sein Thema einfach fasst und nicht überhöht. Auch der Vergleich mit Gedichten von Heiner Müller tut sich auf.

Das Gro der Texte fängt sehr persönliche Momente ein, aber es gibt auch ganz fabelhafte Gedichte über Personen, zum Beispiel über Mozart, über den sie schreibt.

“Wir haben keinen Namen dafür,
was mit uns geschieht,
wenn der Medizinmann der Seele
uns den alltäglichen Staub
von der Haut wischt,
das Herz wie eine Muschel öffnet,
mit ein paar herausrollenden Perlen
uns zu verblüffen,
eine, in die offene Wunde gerollt,
kühlt”

Solch wesenhaftes Erfassen, frei und doch bezeichnend, findet man immer wieder in Grasnicks Gedichten, vor allem dann wenn sie sich an ein anderes Thema als ihr Inneres wagt.

“Meine Tränen sind die Ufer
wo ich an Land gehe”

Es ist selten, dass man ein Buch mit Gedichten aus der Hand legte, wie man einst als Kind vielleicht einen Abenteuerroman oder als Kleinkind ein Bilderbuch aus der Hand legte: mit die Gefühl einer Erfülltheit, die sich aus Spannung und innerem Gezogensein zusammensetzt und die einen für die ganze Dauer der Lektüre zusammenhielt, einen weit weg brachte und einen sehr nah an sich selbst als Träumenden, Lesenden, Vorstellenden herankommen ließ. Charlotte Grasnicks Gesammelte Gedichte sind ein solch kostbares Buch, leicht und doch mit eben jener Reichhaltigkeit und Erlebnisdichte gefüllt, die wir nicht entbehren zu können glauben, in den Minuten, Stunden nach dem das letzte Gedicht uns begegnet ist.

“wie alt unsere Bäume,
wie sprachlos,
wenn das letzte Blatt sie verlassen”

“Mein Fuß im Schnitt
der Schere: Himmel und Meer –
Silber reibt sich an Silber,
nichts wird zerschnitten.”

Dichter mit der Virtuosität des Himmels – Einblick in Federico Garcia Lorcas Gedichte in drei Kapiteln


I – Dichtung vom Cante Jondo

“In dem gelben
Turm der Kirche
läutet eine Glocke.

Auf dem gelben
Winde öffnen
sich weit die Glockentöne.

In dem gelben
Turm der Kirche
höret auf die Glocke.

Der Wind macht aus dem Staube
verwehnde Silberbüge.”

Federico Garcia Lorca gehörte zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Überschattet werden seine beinah universellen Kompetenzen auf den Gebieten des Dramas und der Lyrik (man könnte ihn von ungefähr mit Bertolt Brecht vergleichen, suchte man ein deutsches Äquivalent) jedoch bis heute durch seinen dramatischen Tod (1936, ermordet durch die Guardia Zivil von Franco) und die Fixierung der Nachwelt auf einige wenige Werke – im Drama seine sehr späten sozial-kritischen Stücke, in der Lyrik seine surrealen Exzesse aus Dichter in New York.

Dabei gehört meiner Meinung nach Garcia Lorcas lyrisches Gesamtwerk, von den frühen Romanzen, bis zu den New York-Gedichten, zu den schönsten und innovativsten Poesie-Werken überhaupt. Es ist von magischer Vollkommenheit und verbindet Romantik, Avantgarde und Symbolismus auf ganz eigene, zwischen Melancholie und Erhebung, Glanz und Gloria zerrissene, Weise.

“Die Nacht verdichtet sich wie hundertjähriger Wein. Im Morgengrauen öffnet die große Schlange des Südens ihre Augen, und die Schläfer haben ein unendliches Verlangen…”

“Dichtung von Cante Jondo” gehört zu den frühen Gedichtwerken. Unmittelbarkeit, Minimalismus und manifestierende Metaphern (siehe oben: Hundertjähriger Wein) prägen das ruhige Bild dieser Verse; auch das dieser Rezension vorrangstellte Gedicht wurde von Lorca mit der Anmerkung “im tiefsten Gitarrenbass” versehen.

II – Dichter in New York

“Auf der Terrasse kämpft’ ich mit dem Monde.
Schwärme von Fenstern durchlöcherten einen Schenkel der Nacht.
Aus meinen Augen tranken des Himmels sanft Kühe.
Und an des Broadways Fensterscheiben, grau wie Asche, klopften
die Brisen mit sehr langen Schwingen.”

Viele Facetten hat das Werk „Dichter in New York“ und ich möchte nicht zu weit ausholen, auch wenn es viel zu diesem Werk zu sagen gäbe, da die Verstörung und Begeisterung, die es wie einen Schmetterling, der einen Orkan beschwört, erscheinen lässt, letztlich verraucht, schwer mittelbar ist.

Surreale und paradierende Gänge sind es, die Garcia Lorca, gleich einem rollenden Augenapfel in einem Ungeheuer von Stadt (dem Big apple) niederschreibt, ausufernd und doch immer so nah an einem festen Eindruck, dass surreal schon fast wieder zu einfach gegriffen ist. Es sind Poetisierungen, aber voller Winkel, in denen sich viel wirklicher Schmutz ansammelt und verschmiert.

Der wichtigste Punkt, zu dem Ich hier noch etwas mit einbringen will, ist der der Übersetzung. Wer also gerne inhaltlich beraten werden will, den verweise ich auf die gesetzten Textbeispiele.

“Ich.
Es gibt kein neues Zeitalter, kein neues Licht.
Nur ein azurnes Pferd und einen Morgenanbruch.”

Ich habe “Dichter in New York” in der alten Übertragung von Enrique Becks gelesen (so noch zu finden in der hervorragenden Werkausgabe in drei Bänden und der handlichen Insel-Ausgabe der Gedichte, außerdem natürlich in der Suhrkamp-Bibliothekfassung von Dichter in New York. Da ich des Spanischen nicht mächtig bin, mag meine Stimme wahrscheinlich (zu Recht) kaum Gewicht in dieser Debatte haben, doch möchte ich trotzdem hier einmal leise gegen die Kritik an Becks Übersetzung protestieren.
Schon immer sind Neuübersetzungen großer Werke mit abschätzigen Bemerkungen gegen die alten Übersetzungen einhergegangen. Bei Hemingway, bei Dostojewski, bei Rimbaud, Baudelaire undundnund… vielleicht nicht immer zu Unrecht. Doch man sollte mittlerweile vorsichtig sein, es pauschal zu tun.

“Das Heulen
ist eine lange violette Zunge, welche hinterlässt
Entsetzensameisen und Liliensaft.”

Im Mittelpunkt steht beim Übersetzen/Übertragen immer die gleiche Problematik: Wortgetreu und stil-nah übersetzen oder versuchen Intention und Aussage des Künstlers in die eigene Sprache zu transferieren – was nicht das Gleiche ist, wenn auch manchmal beides geht, ohne eines zu vernachlässigen!

Viele Übersetzer wählen den Mittelweg und fahren gut damit. Wenn der Übersetzer selber ein Dichter ist, wird er zwangsläufig versuchen, die poetische Nuance, das besondere Fluidum des Gedichts zu retten, ganz egal, ob das durch die erste oder zweite Variante geschieht.
Übersetzen ist auch eine eigene Kunstform und fast schon die Schaffung eines neuen Werkes. Deswegen ist es auch bei diesem Genre oft so wichtig zwischen Übertragung und Übersetzung zu unterscheiden. Was Enrique Beck gemacht hat, ist sicherlich eine Übertragung (so steht’s auch in meinem Band), die sich auch noch etwas an seiner Vorstellung von “poetisch” orientiert haben wird, die zugegeben etwas zu sehr an diesem Wort hängen mag und deren heute als zu erhaben angesehene Geste. Aber: zu behaupten die neue Übersetzung sei garantiert mehr im Sinne von Lorca gewesen, dass halte ich für sehr vermessen (die Toten zu rekrutieren ist an sich fragwürdig). Lorca hätte nie auf Deutsch geschrieben, von daher ist es wider dem Sinn, dass irgendeine deutsche Fassung von sich behaupten kann, die einzig getreue Übersetzung zu sein. Übersetzen ist interpretieren. Lyrik ist Spiegel. Zu behaupten in einen Spiegel müsse man so sehen, dass das richtige heraussieht …

Jedoch: Natürlich muss die Übersetzung mit der Zeit gehen und neue Übersetzungen will ich daher auch nicht hinter die alten stellen, ganz im Gegenteil. Solange aber Becks Dichtungen mir das Gefühl geben, die Schreie zu bemerken und die Klagen dieses Werkes zu verstehen, kann ich sie nicht als unzureichend oder ungemäß ansehen – und ob die nüchterne, neue Version jetzt so sehr der spanischen Sprachwirksamkeit entgegenkommt, wo die deutsche Sprache eine ganz andere hat, will ich auch noch mal still bezweifeln.

“Gleich sah man, dass der Mond
ein Pferdeschädel und die Luft
ein dunkler Apfel war.”

“Die Nacht hat’ einen Spalt
und ruhige Salamander, elfenbeinern.
Es trugen die amerikanischen Mädchen
Kinder im Bauch und Münzen…”

Soviel zu der Übersetzung. Hiernach kann ich nur noch mal sagen, dass, ganz egal in welcher Übersetzung, dieses Buch eine surreale, kantige, buntblutige Freude ist, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Sie ist die Krönung eines großen dichterischen Werkes und als solche schon von unermesslichem Reichtum, aber durch ihre unnachahmliche Kraft und Schönheit, weiß sie das auch jedem einzugeben.

“Ich strauchle schwankend durch die harte, feste Ewigkeit
und Liebe endlich ohne Morgengrauen. Liebe. Sichtbare Liebe!”

“und wer den Tod da fürchtet, trägt ihn auf den Schultern”

III – Diwan des Tamarit

“Niemand hatte je den Duft erfahren
von deines Bauches dunkler Magnolie.
Niemand wusste, dass ein Liebeskolibri
du zwischen deinen Zähnen hast gemartert.”

Die letzten Dichtungen Federico Garcia Lorcas weisen ihn noch einmal als einen großen Sprachmagier und elementaren Dichter aus. Bedrückende Verse, doch voller Schönheit.

Diwan des Tamarit musste postum veröffentlicht werden, ebenso wie die über Jahre nicht vollendeten Sonette der dunklen Liebe, zu denen der Diwan quasi gehört.

“Tausend kleine Perserpferdchen schliefen
auf dem Mondesplatz deiner Stirne.
während ich vier Nächte deine Hüften,
Feindinnen des Schnees, umschlungen habe.”

Unerklärliche Trauer, Lust und nahe Dunkelheit – der Einband in Lila und Schwarz von Suhrkamp wirft es voraus – sind die zentralen Themen dieser Gesänge und Betrachtungen, die scheinbar von Lorca teilweise nach altindischer Form geplant waren; zumindest tragen einige der Werke Titel wie “Gasel von der unvermuteten Liebe” oder “Kasside von der Wehklage”, beides altindische Gedichtformen.

“Ich habe meinen Balkon geschlossen,
weil ich nicht hören will die Klage,
doch hinter dem grauen Gemäuer
hört man nichts anderes als die Klage.”

Lorca lyrisches Gesamtwerk ist beeindruckend, aber wie bei Brecht und seinen Buckower Elegien, ist dies letzte Werk auch bei Lorca, dieser letzte Federstrich, das Anrührenste unter allen, obwohl die Thematik manchmal eher abgründig und abweisend wirken kann. Sprachlich ist dies Werk jedoch so vollkommen, so mündend wie ein Fluss, dass vielleicht der Inhalt sogar letztlich zurückstehen muss, hinter so viel unbedachter Schönheit.

“Ich will, dass das Wasser bleibt ohne Flussbett.
Ich will, dass der Wind bleibt ohne Täler.”

Das wenige, was ich zu den erstaunlichen Gedichten von Dylan Thomas sagen kann


“Never to reach the oblivious dark
And not to know
Any man’s troubles nor your own -”

Dylan Thomas, Poet und Trinker, Leisetreter und Furorebrecher – bis heute einer jener wenigen Dichter, die mit ihrer Poesie weit über das übliche Maß hinaus eine Kerbe in die Welt schlagen konnten, zumindest in der englischsprachigen Welt. Er ist ein Meister der gegensätzlichen und doch vereinenden Bilder und Wendungen, ein Beeindrucker der Worte, ein Waghalsiger, der so langsam und kraftvoll waghalsig ist, dass man das Wort ganz neu im Kopf herumwälzt; es gibt keinen Dichter wie ihn, vielleicht ist es sogar legitim zu sagen, er sei der größte Dichter, den die englische Sprache je gehabt hat – zumindest wenn Dichten als eine ganz und gar schöpferische Tätigkeit verstanden wird, als das Einschwemmen von Sprache in die tiefsten Lücken zwischen den Bedeutungsflächen, wo Ausformung und Inhalt noch erstaunlich und erstmalig sind. Hier ist er nah dran, Shakespeare ebenwürdig zu sein.

“The carved mouths in the rock are wind swept strings.
[…]
For love, the long ago she bird rises. Look.
[…]
Children of Darkness got no wings
This we know we got no wings,
Stay, dramatic figures, tethered down
By weight of cloth and fact,
Crystal or funeral, got no hope
For us that knows misventure
Only as wrong;”

Ihn zu übersetzten ist eine Kunst oder eine Unmöglichkeit – und beides gleicht sich in diesem Fall. Und auch wenn der Band „Windabgeworfenes Licht“ zweisprachig ist, wird man als deutschsprachiger Leser wohl dazu verführt eher und zuerst die deutsche Fassung zu lesen. Doch, wenn man kann, wenn es irgendgeht, ist davon abzuraten. Nicht weil die deutschen Übertragungen wirklich “schlecht” sind oder abweichend, sondern weil sie nicht fassen und finden, was jede Zeile von Thomas findet, diesen verstürmten, sich einschneidenden Gang, dieses Erkennen der einzelnen Bilder, Worte, als eine Stimme formende Gestalt, Gestalt formende Stimme.

“Upon your held-out hand
Count the endless days until they end,
Feel, as the pulse grows tired,
The angels’ wings beating about your head
Unsounding, they beat so soft.”

1 Stunde, zwei Zeilen. So war Dylan Thomas Arbeitsrhythmus, wenn er ein neues Gedicht schrieb; nur selten ging es schneller. Diese Arbeitsweise spürt man aber auch fast in jeder Zeile – sie steht für sich und ist doch im großen Ganzen nur ein kleines, wenn auch wichtiges Indiz für die Strömung, die Robustheit seiner Natur. Verlieben kann man sich in die Worte dieses Mannes, der in seinem Leben, so sagt die Legende, kein einziges Buch gelesen haben soll, außer der Bibel …

Ist er ein schöner Dichter, ein hoffnungsreicher, ein verneinender, ein religiöser, ein offenbarender, ein verschließender… eigentlich geht er weit über diese Kategorien hinaus, was wiederum an Shakespeare denken lässt. Sagen, was gesagt, und was unmöglich keine Zeichen hinterlassen kann, ist seine Dichtung, sein Inhalt, sein oft verspiegelter Hochglanz, darin er wunderbare Lichtschatten zu werfen versteht. Seine Metaphoriken eröffnen Wege zu Instrumenten in uns, auf denen wir noch nie gespielt haben; Gedanken werden gewürfelt und in Stimmungen und Mythen geworfen, um auf kräftiger Sprachflamme zu kochen.
Thomas war kein großer Intellektueller, aber er war ein Schaffer jenseits aller gesteckten Gedankenfähnchen und Prämissen. Er war das lebendige, suchende Wort, das reift und schwer fällt wie ein Apfel.

“Warum die Seide weich ist und der Stein verletzt
Fragt sich das Kind solang es lebt…
[…]
Lift up your head, let
comfort come through the devil’s clouds,
The Nightmare’s mist
Suspended from the devil’s precipice,
Let comfort come slowley, lift
Up your hand to stroke the light,
Its honeyed cheek, soft-talking mouth,
Lift up the blinds over the blind eyes.”

Jedoch, man darf nicht verhehlen, dass er kein besonders einfacher Dichter ist, zumindest augenscheinlich. Seine oft abstrakten Allegorien und Anspielungen (in seinen späteren Gedichten) können einen fast transzendental erblinden lassen; seine Reimschemas lassen einen langsam werden. Aber genau das muss man bei Thomas: langsam werden – und mit dem Takt der Gedichte „werden“. Man muss das Gedicht sein. Die Stimme, die es herspricht. Man muss sich darüber klar sein, dass sich Thomas allmählich von der Sprache entfernt und auf die Dinge zugeht.

“Und das ist wahr: Kein Mensch lebt,
Der nicht Gott in einem tiefen Grab verscharrt
Und dann wiederauferstehen lässt als Skelett,
Kein Mensch, der nicht zerbricht und schafft,
Der in den Gebeinen keinen neuen Glauben findet,
Kein Fleisch den Rippen um den Hals verleiht,
Der nicht zerbricht und seine letzte Ruheb findet.”

Vielleicht ist er der größte, kryptischste und schönste Dichter der Welt. Auf jeden Fall hat er eines der reichsten, poetischsten Werke geschaffen. Manche Gedichte sind fast so schön, dass sie undenkbar sind, nur lesbar; und bei manchen ist es leider wohl auch umgekehrt.
Man lese Dylan Thomas, höre nicht auf Zweifler oder auf ihn selbst, wenn er über seine Zeilen sagt: “Dies sind nur Träumende. Atem verweht sie” und gebe nicht auf, wenn man seine Zeilen abgeht, ohne etwas zu sehen, denn irgendwann liest man Zeilen wie “der Schlaf befährt der Zeit Gezeiten” oder sieht sich plötzlich “unter dem tanzenden Huf des Blätterdachs”…

Und am Ende ist es bei Thomas immer, als ob “ein Feuerwind die Kerze löscht” – ein wunderbares Gefühl.

“We have the fairy tales by heart
[…]
Wenn Logik stirbt,
Tritt das Geheimnis der Erde durch das Auge,
Und Blut pulsiert in der Sonne.”

Mit Ingeborg Bachmann in Bildern reden – Die Sämtlichen Gedichte


“Ich bin ein Strom,
mit Wellen, die Ufer suchen.
[…]
Ich bin satt von der Zeit
und hungere nach ihr.
[…]
Tief im Grund verlang ich immer
alles restlos zu erzählen,
in Akkorden auszuwählen,
was an Klängen mich umspielt.
[…]
Ich weiß die Welt näher und still.”

Die besten Dichter lassen uns ständig auf- und untertauchen. Sie heben uns zur Sonne ihrer größten Gedanken und werfen uns in die Wasser der tiefsten Empfindungen. In den besten Gedichten, so finde ich, wandeln sich Stimmungen in etwas um, das man erzählen kann. Zumindest in den besten Gedichten von Ingeborg Bachmann.

“Die Axt der Nacht fällt in das morsche Licht.”

Ingeborg Bachmann, die früh verstorbene Galionsgestalt der Nachkriegspoesie, gehört mit ihrem recht schmalen Werk zu den größten lyrischen Stimmen des 20. Jahrhunderts. In einem manchmal übermächtigen Sturm aus Anbrechendem und Bildern gefangen, gleichzeitig einschneidend mit jedem ihrer Worte, und oft in eine zusammenfaltende Instanz ablaufend, die alles stillt, hat dieses Werk, zärtlich bis suggestiv, kaum einen Punkt, an dem es nicht ungreifbar und rätselhaft wäre, doch an jedem dieser Punkte kann man ebenso in eine tiefe Pupille geraten, eine weitführende Aussage, gebogen, gleich den Krümmungen in den Aussichten des Ich – oder der Sprache?

“Ich bin mit Gott und seiner Welt zerfallen,
Und habe selbst im Knien nie gefühlt,
dass es den Demutfrieden gibt,
den alle anderen sich so leicht erdienen.”

Woher geschieht die Tragik in diesem Werk, die Tragik, die Bachmann umgibt wie eine Kerze die Finsternis und nicht das Licht. Teils ist sie wohl dem biographischen Meißel zu verdanken, der seine Vertiefungen in das Gestein der Texte geschlagen hat. Mit einer scheinbar als permanent zu begreifenden Schwebe tritt Gedicht um Gedicht auf – aber eigentlich fällt alles hier in eine große Tiefe, dem Fallen fast noch mehr als dem Aufprall überlassen; es ist die Fallhöhe, die Bachmann schmiedet, in fast all ihren Texten.

„Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
wir kommen ungefragt und müssen weichen.
Doch daß wir sprechen und uns nicht verstehen
und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
und das Verlangen, tief uns anzusehen,
durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.“

In einer Bewegung, zwischen Ansage, Beschwörung und dem Schreiben des Umtosenden, entsteht die Fliehkraft, die Bachmanns Werk oft einer genauen Bestimmung entzieht. Aus dieser Tatsache entsteht wiederum eine andere Bestimmung, ja, sogar eine Kraft, jene Bedeutung, die Bachmanns Dichtung immer noch innehat, jene einzigartige Komponente, die in ihr enthalten ist wie eine Essenz. Was sie uns sehen lässt, das findet sich nicht dort, wo es zu sehen ist, sondern nur in einem abgewandten Sinn, von dem die Worte ihre Form erhalten, ihre Sprache, ihr Wesen.

Verzweiflung und Ungewissheit, dominante Themen, aber sie schmälern nicht, dass Bachmann eine der poetischsten Lyrikerinnen überhaupt ist, gerade weil sie es „zwischen die Dinge“ schafft; es ist, als würde sie in ihren eigenen Worten erwildern und doch teilt sie ununterbrochen eine Sprache mit uns, eine Wirklichkeit, wie von der Nadel einer Spritze tropfend, die gerade noch in denen Venen allen Geschehens steckte. Bachmann ist weder abstrakt noch klar, sondern schlicht poetisch; manchmal reimt sie, manchmal nicht; es ist schwierig eine überflüssige Zeile zu finden.

Thematik und Erfolg sind natürlich auch von der Zeit bestimmt. Ihre beiden Gedichtbände erschienen 1953 (Gestundete Zeit) und 1956 (Anrufung des großen Bären), also nicht sehr lange nach dem Krieg, wo diese vage ausholende Dichtung, die Motive aufgriff, ohne sie zu plakatieren, verarbeitete, aber nicht aufbereitete, den Zeitgeist traf. Dennoch läge man völlig falsch, wollte man ihre Lyrik als ausschließlich historisch-relevant einsortieren. Bachmann wurde vielleicht -auch- berühmt, weil sie in ihren Gedichte Zeilen niederschrieb wie:

“Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht ein enthaupteter Engel ein Grab für den Hass
und reicht dir die Schüssel des Herzens.”

aber der größte Teil ihrer Verse ist von einer großen Universalität; der Universalität einer Welt, gespiegelt in der Ungewissheit eines einzelnen Individuum, eines einzelnen Wesens.

“In der Dämonen Gelächter gebrannt,
bodenlos, sind die Schalen
dieses glücklosen Lebens,
das bis zum Rand uns bedenkt.”

Bachmann ist, meiner Meinung nach, keine Dichterin, die man rundum verstehen kann, sondern vielmehr eine, die einen immer wieder versucht.
Lassen wir ihr das letzte Wort und diesen vier Zeilen, in denen sie uns Schicksal des Dichters lesen lässt:

“Vielleicht kann ich mich einmal erkennen,
eine Taube einen rollenden Stein…
Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen,
ohne in anderer Sprache zu sein.”

Cendrars, der reisende Magier und seine gesammelten Gedichte


“Der Himmel gleicht dem zerrissenen Zelt eines Wanderzirkus in einem kleinen Fischerdorf
In Flandern
Die Sonne ist eine rauchige Funzel
Und hoch oben am Trapez macht eine Frau den Mond.”

Er war überall und nirgends; er verlor seinen einen Arm im ersten Weltkrieg und schrieb mit seinem gesunden noch über ein Dutzend Bücher und Publikationen, er war ein Reisender und doch ein Innehaltender, ein Poet und doch ein Phantast, der allein die Welt dort für real hielt, wo sie etwas Einzigartiges offenbarte, an Farben, Fauna oder Lebensart. Er schrieb Romane und war doch eigentlich ein Dichter, er erweiterte und stutzte das Gedicht gleichermaßen und gehört wohl zu den formbewusstesten und formlosesten Lyrikern aller Zeiten. Sein Name: Frédéric Sauser, alias Blaise Cendrars.

“Die Fenster meiner Poesie sind weit geöffnet zur Straße und in ihren Scheiben
Leuchten
Die Juwelen des Lichts
Hörst du die Geigenkonzerte der Limousinen und die Xylophone der Druckmaschinen
Der Maler macht sich sauber im Handtuch des Himmels
Farbflecken überall
Und die Hüte der Frauen, die vorbeigehen, sind Kometen im Feuerschein des Abends”

Dank sei dem Lenos Verlag, dass sie eine so umfangreiche und umfassend kommentierte deutschsprachige Ausgabe der Gedichte herausgebracht haben. Mit beinahe hundert Seiten Anhang inkl. Kommentaren und Anmerkungen, sowie Einführungen zu allen einzelnen Gedichtbänden und einem großzügigen Lebenslauf könnte dieser Band schon fast als Standard für alle ehrgeizigen Werkzusammenfassungen weltweit herhalten. Dieser ungewöhnliche Geselle hat dies alles aber auch verdient.

“Ich will, dass die Wirklichkeit mir wie ein Traum vorkommt, will leben in einer Welt von Traumbildern.”
[…]
“Unter den Fingernägeln habe ich Musik”
[…]
“Im Zimmer nebenan, hinter der Türe wartet
Ein trauriges und stummes Wesen, wartet, dass ich’s rufe!
Du bist es, es ist Gott, ich selber bin’s – das Ewige.”

Aufmerksam geworden bin auf Cendrars durch eines meiner Lieblingsbücher, Philippe Djians In der Kreide, indem dieser Cendrars als einen seiner zehn großen Einflüsse beschreibt. Entsprechend ist Cendrars auch, wie viele andere Autoren in Djians Buch, ein Schriftsteller, der auf vielen Ebenen, stilistisch und formal, ungestüm ist, Grenzen sprengen will und seine eigene Vorstellung von der Beschaffenheit der Literatur erschaffen hat.

“Nach Japan können wir nicht
Komm mit nach Mexiko!
Auf den Hochebenen blüht der Tulpenbaum
Und die Schlingpflanzen sind das Haar der Sonne
Der Palette und dem Pinsel eines Malers scheint alles entsprungen
Farben, ohrenbetäubend wie Gongs”

Cendrars hielt es selten an einem Ort und so bereiste er schon früh die Welt. Er riss von zu Hause aus, war in Russland, gelangte in Paris vor dem 1. Weltkrieg in Literatenzirkel, war neben Apollinaire (mit dem er befreundet war, so wie mit vielen anderen z.B. Cocteau) einer der wichtigsten Dichter dieser kurzen Epoche, sagte sich dann vom Surrealismus und Symbolismus los, dem er nie wirklich angehört hatte und reiste nach dem Krieg, in dem er seinen rechten Arm verlor, nach Brasilien und Amerika und hielt seine Reiseeindrücke und -Phantasien in seinen knappen “Reiseblättern” fest.

“Der Frühling in Kanada hat eine Frische und Kraft wie sonst in keinem Land der Welt
Aus der dicken Schneedecke, aus dem Eis
Spiresst plötzlich
Fruchtbare Natur
Ganze Büschel von violetten, weißen, blauen, rosaroten Veilchen
Orchideen, Sonnenblumen, Tigerlilien
In den ehrwürdigen Avenuen mit ihren Ahornbäumen, dunklen Eschen und Birken
Fliegen und Singen die Vögel
Im Unterholz voller Knospen und zarter Triebe
Lakritzenfarbiges Sonnenlicht”

Man kann es sehen das Licht, man geht unter den Ahornbäumen längs – Cendrars hat wie kein anderer Wirklichkeit mit Phantasiefarben zusammengebracht und daraus das Erleben des Reisens, durch Natur und der Atmosphäre, nachgebildet. Fast alle seine Gedichte aus Brasilien oder von sonst woher, auf See, aus Afrika, haben diese innehaltende und gleichzeitig flüchtige Impression, diese unhaltbare, aber bewahrte Glück eines Fast-Eingehens in die Umgebung, eines Lebensmoments. Mit seiner Sprache blieb er sparsam und doch war ein Magier, mehr im Leben wohl, doch dann und wann packte ihn auch im Gedicht ein Hang zur ungewöhnlichsten Kreation. Zeilen, verquer und gleichsam genial – denen Cendrars eigene Wahrheit innewohnt.

“Ich kenne über 120000 Briefmarken, die mehr Spaß machen als die Schinken im Louvre”

Wenn man Dichter empfiehlt ist man immer ein bisschen in der Verlegenheit, weil man eigentlich ihre besten Zeilen zitieren müsste, um alle völlig mitzureißen und dennoch muss man den Leuten ja einen Eindruck vom Gesamtkonzept der Dichtung geben.
Viele der Zeilen die ich hier zitiere, machen sich natürlich besser, wenn sie einen mitten im Gedicht treffen, aber ich hoffe sie vermitteln etwas von der Leichtigkeit und Unberechenbarkeit von Cendrars Sprache und ihrem eigenwilligen Charme, ohne dabei zu verhehlen dass es die Lichtblitze in einer ansonsten sehr gelassenen und vor allem Eindrücke vermittelnden Dichtung sind, die sich auch wegen der vielen Arten von Ausdruck, in denen Cendrars sich versuchte, nicht wirklich auf ein Merkmal fokussieren lässt, auch wenn seine Reisebeschreibungen den größeren Teil seiner Schriften ausmachen und viele andere Werke mehr wie eine Laune, eine Phase wirken.

“Sie strahlt Lebhaftigkeit aus, Offenheit in ihren Gesten und Bewegungen
Der junge Blick eines bezaubernden Tiers
Ihre Wissenschaft: Die Grammatik des Gehens
Sie schwimmt wie man einen Roman von 400 Seiten schreibt
Unermüdlich
Stolz
Ungezwungen”

Nie oder ganz selten habe ich jemanden so klar und rein über Frauen schreiben sehen, ohne einen dunklen Hauch von Frivolität, höchstens einen hellen. Ganz ein Staunender, dem schon das blaue Meer in der Wärme der Sonne als Wunder und Offenbarung erscheint, nähert sich Cendrars beinahe jedem Thema, sofern er nicht seine leicht lakonisch-satirischen Einsprengsel von der Leine lässt oder den Überschwang in die Realität seiner Empfindungen einlädt.

“Eine Seerose auf der Seine, es ist in der Strömung der Mond.
Die Milchstraße spielt am Himmel verrückt vor Freude
und schließt Paris
nackt und wahnwitzig in die Arme, kopfüber saugt sich ihr Mund an Notre Dame fest.”

Er ist einzigartig dieser Dichter, er, der nie zur Ruhe kam, und dessen Gedichte doch eine gewisse Ruhe waren, ein Magier, der seine Ausführungen über eine tropische, leise Nacht in einem einfachen Satz ausklingen lässt, der, noch mal, alles heißt:

“Die Sterne schmelzen wie Zucker”

Don Paterson und sein Band “Weiß wie der Mond”


“Gedichte übersetzen das Schweigen und finden Worte, wofür es keine Worte gibt. Sie füllen Lücken mit… Liedern, die wir eigentlich nicht hören dürfen.”
Don Paterson

“Remember, brother soul, that day spent cleaving,
nothing from nothing, like a thrown knife?
Then there was no arriving and no leaving,
just a dream of a disintricated life –
crucified and free, the still man moving,
the balancing his work, the wind his wife.”
(Aus: Schlittschuhlaufen auf Loch Ogil)

Ausgerechnet der vielleicht größte amerikanische Dichter unserer Zeit, Charles Simic, sagte über dieses Buch: “Wenn sie mich fragen, ob große Gedichte überhaupt noch geschrieben werden, dann müssen sie nur die Gedichte von Don Paterson lesen.”
Denn eine so vielgestaltige und vielschichtige, in gleichen Teilen klassische, antagonistische und moderne Dichtung, die sich wegen ihrer Bandbreite allein schon dem Begriff der Größe nähert, gibt es in diesen Zeiten selten – eine Dichtung, die Wahrheit nicht zwanghaft mit Schönheit verbindet (aber sie doch oft zusammenbringt und wieder auseinandersprengt), nicht Reim mit Gesang, sondern ganz eigen und auf virtuose Weise radikal, stets ihren eigenen Diktionen folgt.

“Die Gegenwart ist eine Scheibe,
an die ihr die Stirn lehnt, wobei ihr heimlich
das Wörtchen >jetzt< schreit. Vielleicht
ist die Gegenwart eine Zimmerwand,
durch die ihr die Geister stoßt, die ihr sofort
wieder zu euch zurückholt. Die Gegenwart
ist eine Wand, vor der ihr zwischen Nichts
und Etwas patrouilliert. Sie hält nicht dicht.
Die Gegenwart ist eine Wand, die sich
vor euch aufbaut, während ihr euch bemüht,
sie zu erklimmen, bis ihr abrutscht und stürzt.
[…]
There is no wall. Pick your bed. Walk through it.
Last chance friend. So do it or don’t do it.”

Verse der Analyse, des Bohrenden und Offenbarenden, in endlosen Gedichtverquerungen, wird man hier finden, genauso wie kleine, sich in Reimen die Hände reichende Lyrik. Paterson wendet die Metapher und sogar die Metaphorik als ganzes Gedicht an, aber weiß auch in ganz einfachen Worten das Orchester der Welt einen Bogenstrich lang auf einen einzelnen Ton zu minimieren.

“Stehe ich zwischen der Sonne selbst,
gesegnete Mutter, und dem, was sie erhellt,
dann verwandele mich in Glas.”

Ein solches, immer wieder seine Ausrichtungen änderndes Werk, ist natürlich kein homogenes Lesevergnügen. Es sind z.B. auch zwei Rilke-Übersetzungen enthalten, die ich ziemlich schlecht finde und auch das sehr lange, in seinen scheinbar erderschütternden Parabeln des Worte-auf-den-Kopfstellens und -ausschüttens gefangene Gedicht-Black-Box, welches sicherlich Hochphilosophisches enthält, mir war es eher ein Gräuel. Aber was man eben anerkennen muss ist, dass Paterson einfach dichten/schreiben kann und das dabei immer auch etwas Tiefes zustande kommt, etwas Magisches.

Don Paterson ist ein starker Dichter, der sowohl Moll als auch Dur, sowohl Angriff als auch Beobachtung beherrscht. Dieses kleine Büchlein wird, denke ich, für jeden eine andere Erfahrung sein; es ist ein Kaleidoskop von “Weiß wie der Mond” bis zu “black box”, darin viele Stufen von hell und dunkel, Kontraste einer Welterfahrung, fein definiert. Aber jeder wird von seiner Position aus ein paar für ihn vortreffliche Verse entdecken, denn hier wurde nichts ausgespart, vom Prosagedicht bis zur lyrischen Einfassung.

“Was ich euch nun überbringe,
ist das Geheimnis der Bruderschaft der Dinge,
und nur der Dinge, die es lang schon bewahren.”

“Kein Sänger von Nacht- und Tageszeit
ist glücklicher als ich,
denn mein Schallraum ist die Dunkelheit,
mein Vortragssaal das Licht.”

Ein Schnee der Worte, als schlucke man Landschaft: verdecktes gelände von nico bleutge


“ein drift, als die möwen sich
senken, ihr andruck, nicht hier

nicht zu fern. die luft ist gespannt
zwischen wirbeln, schubgeräuschen

und der ganze raum schlägt aus
über dem wasser der fahrspur.”

Als wäre man das Empfinden der Landschaft in sich, als wäre man das Feld der Erinnerung als Raum in einem verschlossenen Universum, in das nur dann und wann der Ruf eines Gedächtnisses dringt, so streift man durch die Gedichte von Nico Bleutges Band “verdecktes gelände”. Da gibt es kein hinterher, keine Entfernungen, keinen Fluchtpunkt – nur die Konturen, das Glas, auf dem unsere Eindrücke stehen, wie herunterperlender Regen, im Ankommen und Verschwinden.

Wann immer ich ein Bleutge Text oder besser noch, einen ganzen Band lese, habe ich danach eine kleine Prise Verschwinden in mir, die sich nur schwer wegpusten lässt, die aufsteigt und alles Licht in mir bricht. Seltsam, denn auf den ersten Blick sehen die Gedichte aus und klingen an wie Gitter, durch die man nur, Hände an die Stäbe, auf einen geschwungenen Ausblick von Nirgendwo sehen kann. Aber bald schon löst sich alles, nicht nur das Gitter, sondern wirklich beinahe alles, und fließt in diesen Ausblick hinein wie ein Fluss, immer weiter, und sammelt sich schließlich in einer tiefen Stelle oder an einer Kante, um hinunterzustürzen.

“luft dehnt sich aus und zerfällt
zu dichten flocken […] vor dem fenster
der schattenriss eines Vogels, der näherkommt
weiter und weiter entfernt”

Das klingt jetzt alles sehr mysteriös und vage. Doch da Bleutge ein Minimalist in Gesten und doch im gewissen Sinn ein Epiker der Worte ist, kann man ihm schwer beikommen, geschweige denn ihn empfehlen, ohne etwas lyrisch zu werden und sich ein wenig vom verständigen Lärm des Offensichtlichen zu entfernen. Wer diese Texte erfahren will, der braucht somit nicht nur Geduld, sondern vor allem den wirklichen Anreiz, einen Text als eine Botschaft aus miteinander (auf geradezu natürliche Weise) interagierenden Symptomen zu behandeln, als ein Ahnung, die der Leser aufgreifen muss.

“später dann war es
eine ungleichmäßige
durchdringung von
dächern und balken
fachwerkkanten
das dunkel darüber
nicht sichtbar, nicht sichtbar”

Nicht Schlaglicht auf Schlaglicht kommen die Zeilen, sondern als hinübergleitende Glieder einer endlosen Kette aus Schnee und Umrissen, Nebel, Grün und Grau. Darin auch menschliche Stimmen, einige Fassungen von Sicht und Ansicht, die durch die Wirklichkeit der Oberflächen, in Erscheinungen und Ansätze dringen. Aber eigentlich bleibt alles verschlossen, unerreichbar und doch als Element schon wieder in uns gespiegelt, wie die Kälteahnung im Sein des grauen, porösen Steins an den Außenwänden der Gebäude, in dem vielleicht auch eine wichtige Wirklichkeit begraben liegt, die aber nie wirklich an die Oberfläche kommt und in der Beschaffenheit der Form verstummt.

“war das ein erinnern? entfernungen,
geräusche, jenseits der stimmen

kaum zu verorten, kaum zu benennen,
im rhythmus des schnees

der die parkwege angeht
eisflächen, frostweiße blänke”

Alle Gedichte von “verdecktes gelände” haben den gleichen Atem, sie atmen nur dezent unterschiedliche Luft. Und durch sie zu streifen ist Atmen, durch die Kapitel und die Ansagen, die auf dem Weg plötzlich kurz auftauchen, um dann wieder im Rauschen und Gestöber eine bloße Ahnung zu werden, eine Fassung des Eben, keine Fassung des Jetzt. Das Jetzt ansich ist bei Bleutge präsent, wie bei fast niemandem in der deutschen Gegenwartsliteratur. Fast ewig könnte man ihm zuhören, diesem Klang von Jetzt, der sich immer ins nächste Wort, die nächste Geste, das nächste Bild schiebt, überträgt: Jetzt… Jetzt-: Jetzt. Und was enthält das Jetzt? Eindrücke, Fasern nur, in Wirklicht, und ein paar wenige sehr reale, nichtsdestotrotz flüchtige, Schemen, gebaut aus dem, was wir gerne als das Bleibende ansehen würden.

“rohlächen, gespür für ausbleibenden schnee
das licht über dem platz mehr wie ein dunstfilm
der dunst in sich aufnimmt.”

Eine wahrhaft lyrische, aber auch anstrengende Erfahrung kann man mit einem Bleutge-Band immer machen. Ich persönlich konnte, nachdem ich dieses Buch angefangen hatte, kaum mehr innehalten – was wiederum auch ein kleiner Makel ist: es gibt wenig Zeit für Besinnung, da diese Lyrik selbst schon so stark Besinnung ist – und den Leser etwas aussperrt. Aber: dieses Gestöber, diese Ahnung von Sein in Worten, geht einem auch schwerlich aus der Wahrnehmung. Wahrscheinlich kann man diesen Band in 20 Jahren wieder aufschlagen und schon ist man erneut in Bleutges winterlicher, grauer, farnbesetzter und aufdunkelnder wie abdunkelnder Landschaft gefangen. Gefangen wie ein Vogel unter der Kuppel des Himmels. Suchend. Wandernd. Und das Entstehen und Vergehen abseits (und in) der eigenen Wahrnehmung miterlebend.

Eine Erwähnung zu Gottfried Benns Gedichtwerk


“Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
Die Sterne, schneeballblütengroß und schwer.
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer -”

Gottfried Benn, vielleicht der erste große deutsche Dichter der Moderne, wird bis zum heutigen Tag hauptsächlich als wichtigster Vorreiter und Vertreter des Expressionismus gesehen und ist vor allem dafür bekannt, dass er in seinen frühen Gedichte neue Tabuthemen wie Verwesung, Krankheit, körperliche Prozesse und ärztliche Detailuntersuchungen auf den Plan brachte; und obwohl man mit diesen Gedichten nur ein Drittel seines Gesamtwerks erfasst – den frühsten, drängendsten Teil – scheint er auf diese frühen Werke unwiderruflich abgestempelt zu sein. Ich selbst wurde damals im Deutschunterricht lediglich mit “Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke” konfrontiert, einem Gedicht, das ich, wie ich direkt klarstellen will, ganz scheußlich finde; es ist ein schlechtes, das Werk Benns kein bisschen wiedergebendes Gedicht, vielleicht expressiv-innovativ oder historisch interessant, aber lyrisch ohne Wert.

“Niemand ist Alles auf Erden.
In die Blüte des Lichts,
in die Aue des Werden,
strömt die Seele ihr Nichts

Wie dann die Stunden auch hießen,
Qual und Tränen des Seins,
alles blüht im Verfließen
dieses nächtigen Weins”

Warum wird Benn oft allein als dieser Dichter frühster Stunde gesehen, warum werden seine heute fragwürdigen “Innovationen” als seine größten lyrischen Triumphe gefeiert, wo er doch in reiferen Jahren so tiefsinnige und ehrliche Verse geschrieben hat. Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir denken. Denn auch mich hat es Überwindung gekostet, mich durch die frühen Gedichte zu wühlen; nicht durch alle, denn es sind sie nicht alle schlecht, aber so manche blutleere und von Schlamm übersprudelnde Quelle unpoetischer Verbalisierungen muss man überspringen, wenn man die guten frühen Gedichte herausfiltern will.
Und das kann zu dem Gedanken verleiten, es gehe weiter wie es anfängt. Und genau da liegt der große Irrtum, von dem ich hoffe, dass letztlich vielleicht nur ich und wenige andere ihm aufgesessen sind und für die meisten diese Mahnung lächerlich ist – es würde mich freuen! (Übrigens: Wer sich jetzt irgendwie angegriffen fühlt: Wenn sie Benn schon entdeckt haben oder seine frühen Werke mögen – ich spreche von mir aus und ich schreibe dies hier aus Sorge und nicht aus dem Wunsch nach Polemik)

“Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben,
allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,
er kann vom Augenblick nicht leben,
obwohl er sich dem Augenblick verdankt;”

Panta rhei – Alles fließt. Diesen Satz könnte man, weiß auf schwarzem Marmor, als Einband für Benns mittlere und spätere Gedichte benutzen, als Stichwort, als Motto, als Credo. Hauptsächlich haben diese Gedichte nichts mehr mit den frühen Werken aus Morgue oder Schutt gemein, außer vielleicht den Hang zu kulturellen Anspielungen und der immer noch kräftig wirkenden, am Zügel gehaltenen Sprache. Man kann sich bei den meisten förmlich vorstellen, wie ein älterer, weiser, ruhiger Mann an einem Tisch sitzt und die Reime ihm aus der Feder fließen, hinein in die Ewigkeit der Bücher.
Es geht um Metaphysik und um den Wunsch zu entkommen oder zu bleiben. Eins von beidem will gelingen, aber beides steht dem Menschen nur scheinbar offen. (“Wenn Du noch Formen willst,/ um nicht zu enden,/ wenn Du noch Normen stillst,/ statt dich zu wenden.”) Die Angst ist kein Wegweiser, aber sie hält uns klein. Der Tod ist kein Übel, aber er ist das Ende des Lebens, wie wir es kennen. Das einzige, was es gibt, ist das Andere. Die Leere und Du.

“Vor keiner Macht zu sinken,
vor keinem Rausch zur Ruh,
du selber bist Trank und Trinken,
der Denker, du.”

Gewiss, dieser kleine Themeneinblick ist nichts, was einen zärtlich oder freudig stimmt. Aber es stimmt einen nachdenklich und ist wundervoll zu lesen, als würden sich die Reime Sinn und Wort zugleich reichen. Und immer wieder erscheinen Verse, die einen wie der Ton einer tiefen Glocke treffen, weithin gut zu hören, durch Jahre, Zeit und Papier – und andere, die begegnen einem wie ein Gedanke in der Nacht, wenn man in völliger Dunkelheit am Fenster steht, Verse
wie:

“Die dunklen Fluten enden,
als Fremdes, nicht dein, nicht mein,
sie lassen dir nichts in den Händen,
als der Bilder schweigendes Sein.

Die Fluten, die Flammen, die Fragen –
und dann auf Asche sehn:
‘Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn’.”

Knapp könnte man sagen: Die Gedichte haben etwas Meditatives. Noch später kommen sogar einige erzählende, geradezu leichte, reimlose Gedichte auf, aber auch diese haben eine Art, einen nicht loszulassen mit ihrem Fluss, ihrem Gedankengut, ihren beobachtenden Augen.

“Der sah dich hart, der andre sah dich milder,
der wie es ordnet, der wie es zerstört,
doch was sie sahn, das waren halbe Bilder,
da dir das Ganze nur allein gehört.”

Ich glaube, dass Benn in seinem Spätwerk zu den größten Dichtern der deutschen Sprache gehörte und gehört. Mag sein Werk auch düster und über die Melancholie hinaus sogar kalt sein; nur in dieser Dunkelheit konnte diese dunkelrote Note entstehen, die ein paar seiner Verse zu dem Trefflichsten und Ausgeglichensten machen, was ich bisher an Lyrik lesen durfte. Vor allem die letztgenannte Ausgeglichenheit, selbst schon in frühen Gedichten teilweise vorhanden, ist ein Merkmal Benns das immer wieder zu verblüffen weiß – der klare Ton, die tiefe Stimme.

“Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann vergessen hieß.

Es ist ein Spruch, den oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt –
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: ‘tu sais’ – du weißt.”

Octavio Paz – als großer Dichter wiederzuentdecken


“Zwei Körper Aug’ in Auge
sind manchmal zwei Wellen,
und die Nacht ist ein Ozean.
[…]
Und wenn du sie schließt,
überflutet dich innen ein Fluß,
eine sanfte verschwiegen Strömung dringt an und
macht dich dunkel:
die Nacht netzt Ufer in deiner Seele.”

Die Literatur Südamerikas bleibt nach wie vor eine der magischsten Erfahrungen von Lektüre, egal wie bekannt sie mittlerweile geworden ist, wie sehr dieser Kontinent literarisch „erschlossen“ ist. Und in dieser Magie steckt eine Vielschichtigkeit, die sich von Jorges Luis Borges bis zu Mario Vargas Llosa, von Pablo Neruda bis zu Cortazar, von Alejo Carpentier bis zu Gabriel Garcia Marquez erstreckt und eine Strecke, die durchzogen ist von einer bunten und doch perlendunklen Eigenart, wie sie Ausdruck einer nahezu unerreichbaren Welt in (oder außerhalb) der eigentlichen Welt zu sein scheint.

Octavio Paz, Nobelpreisträger 1990 (die Geschichte der südamerikanischen Literatur ist auch die Geschichte vieler verliehener und vieler zu Unrecht nicht zuerkannter Nobelpreise), ist vor allem für das Werk bekannte, in dem er die Identität Lateinamerikas einfangen wollte: Das Labyrinth der Einsamkeit. In Romanen oder Erzählungen hat er sich nie besonders hervorgetan, seine Dichtung und sein Engagement kennzeichnen ihn aber bis heute als einen der großen Geister und Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts.

“Dem Flockengewand, dem Pflaumenbaum
Lebwohl sagen, und dem Vogel dort,
der ein einziger Windhauch ist auf einem Zweig.”

Der Band „Gedichte“, der Texte aus den Jahren von 1935-1974 + einige damals unveröffentlichte Werke enthält, kann neben Suche nach einer Mitte: Die großen Gedichte als beste Auswahl der Lyrik von Paz gelten; diese hier ist etwas vielschichtiger und repräsentativer, während die andere vor allem Kernwerke von Paz, die auch großen Einfluss auf die Lyrik seiner Generation ausübten, enthalten.

“Pause aus Blut zwischen dieser Zeit und einer anderen, ohne
Maß.”

Vom träumerischen zum wahrhaft Transzendenten ist es ein schmaler, aber dennoch meist klarer Schritt. Wer käme schon darauf Celan als träumerisch zu bezeichnen? Bei Octavio Paz ist das Ganze nicht so einfach und ich glaube man könnte ihn sowohl als träumerisch-phantastischen (bisweilen surrealen), als auch als transzendenten, geistlich-forschenden Dichter lesen, bei dem die Übergänge fließend sind. Zum Beispiel diese Zeilen:

“Eine Frau mit den Regungen eines Flusses
Mit durchsichtigen Wassergebärden
Ein Mädchen aus Wasser
Darin zu lesen was vorübergeht und nicht wiederkommt”

Eine Liebeserklärung, eine wörtliche Formung der weiblichen Schönheit, eingefangen in der Metapher eines Flusses, die sie fast völlig umgibt; aber spätestens in der letzten Zeile wird einem auch die Doppelbödigkeit dieser Allegorie bewusst. Immer noch geht es um die Schönheit, aber um eine sehr viel transzendentere Geste ihrerseits, dem Hinweis auf die Vergänglichkeit, die Paz hineinwebt. Diese zusammengeführte Essenz aus poetischer, auch seichter, Schönheit und einem klaren, manchmal offenbarenden Ansatz zur Durchleuchtung viel tieferer Grundsätze der dargebotenen Bilder und Szenen – das ist Octavio Paz im Kern.

Cortazar sprach in einem Essay einmal in Bezug auf Luis Cernuda von “Sinnen in der Welt”. Ich glaube, dass diese leicht abstrakte, aber nichtsdestotrotz gelungene Bezeichnung auch sehr gut das beschreibt, was im Werk von Paz geschieht, das Schreiten der Stimmen, die sich die Sinne in der Welt zu eigen machen, zum Beispiel wenn Paz schreibt: “Weiße Gärten die bersten in der Luft.”

“ich falle von Geburt an ohne Ende,
falle in mich selbst, ohne Grund zu finden,
nimm mich in deine Augen auf, vereine
meinen zerstreuten Staub, versöhne
meine Asche, binde meine zerteilten Knochen,
hauche über mein Sein, in deiner Erde
begrabe mich, dein Schweigen gebe Frieden
dem Denken, das sich selbst zerwütet”

Manchmal gibt es auch leicht religiöse und “gesängliche” Komponenten in Paz Dichtung und auch andere bekannte dichterische Mittel, wie Persönliches, Erlebtes und Analysiertes. Aber bei all dem ist Paz nie ein entrückter Dichter (außer vielleicht in seinem Langgedicht “Sonnenstein”, wobei es sein kann, dass gerade dies im Gegenteil auch als sehr nah und natürlich angesehen wird) und ein Denker, denn der bildliche Verweis auf einen Gedanken und eine Regung mehr interessiert als ein Spiel der abstrakten Begriffe und Gegenbegriffe. “Die ersehnte Wirklichkeit/ sehnt sich” heißt eine Zeile, eine treffliche Beschreibung für die Absicht hinter seinen Zeilen.

“Alles ist Türe
Es genügt der leichte Druck eines Gedankens
[…]
Alles Schlachten haben wir verloren
jeden Tag gewinnen wir ein
Gedicht”

Worte können purer Raumstaub sein, Verbindungen ohne daraus entstehende Symmetrie; doch wenn ein Dichter es schafft, dass eine Kombination ganz bestimmter, auch einfachster Wörter, in uns die Entsprechung eines Vorgangs, einer Idee, einer Erinnerung belebt und ausführt, hat er nicht nur unseren Glauben an die Sprache geschaffen, wie wir ihn tief ins uns sinken lassen bei jeder Lektüre, sondern auch einen Teil unserer Selbst einen kurzen Moment erhellt, hat gezeigt wie groß wir doch sind und wie tief die Welt.

“Mit klaren Zügen schreibt der Dichter
Seine dunklen Wahrheiten
Seine Worte sind kein öffentliches Denkmal
Auch kein Reiseführer des rechten Wegs
Aus dem Schweigen sind sie geboren
Öffnen sich auf Stengeln des Schweigens
Wir betrachten sie im Schweigen
Wahrheit und Irrtum
Eine einzige Wahrheit
Wirklichkeit und Sehnsucht
Eine einzige Substanz
Gelöst im Quellsturz durchsichtiger Klarheit.”

Zu Josef Winklers (Un!-)Stillleben in seinem Buch “Natura morta”


Alle Wahrnehmungen ausdrücken, das kann nur die Wahrnehmung selbst, kann nur das Auge. Ein Wort kann Wahrnehmung komprimieren, von einem Wort kann eine größre Wahrnehmung sich ausdehnen, ausgehen, ein Wort kann eine Erfahrung an die Stelle einer Wahrnehmung setzen. Ein Wort schreibt sich auf die Flächen der Wahrnehmung und richtet all ihre feinsten Reflexe und Schnitte, magnetisch nach sich aus und prägt so das Muster und verfasst den Kern der Erfahrung.

Eine besondere, eigenwillige Ausformung von Wahrnehmung als Sprache (und Sprache als Wahrnehmung) begegnet einem in Josef Winklers Natura morta. Hier gehen einem nicht die Augen, hier geht einem die Sprache über. Unter filigranen und zugleich ausufernden Bögen – gebaut, gemauert, aus Naturalien und Adjektiven – schwenkt uns Winkler in einer Schüssel aus Schweiß, Verlangen, Reliquien, aus Mode, Marter und Müll, macht uns zum Inhalt eines direkten und abschweifenden Blicks, der durch römische Märkte und menschliche Niederungen kreuzt.

Kaum ein Moment dieses großen Schweifens, gelegentlichen Schöpfens und dann wieder Wegdriftens, lässt sich wirklich im Leser nieder. Wie ein Fremder und nur brüchig Eingeweihter halten wir uns die Linse der Erzählung vor das Auge, erfassen immer wieder Personen, Szenen, finden unsern Abstand verringert und vergrößert, verweilen fast bei einem Moment, dann wird uns wiederum der Kopf verdreht, in eine andere Richtung, in eine andere Geschichte hinein, die sich nie ganz erzählen wird, aber an diesem Punkt, in diesem Moment, in eine große Wirklichkeit gehört. Informationen und Andeutungen mischen sich und werden aufgetragen auf das Gesicht der Stadt, des kleinen Marktviertels, des vatikanischen und elendigen Alltags.

Winklers Buch ist, wie schon oft betont, ein sinnliches Erlebnis, aus einer Sprache steigend, die halb Rhetorik, halb Unnachgiebigkeit ist. In einem Vorbeirauschen und doch Mosaikwerden, werden wir auf eine Gedulds- und Faszinationsprobe gestellt. Wer eine klassische Geschichte sucht, ist in diesem Buch so verloren, wie einer, der in einer Stadt wie Rom das Antike in den Elendsvierteln sucht. Und doch hat dieses Buch eine ganze Reihe von Geschichten zu bieten, nur eben nicht wohlsortiert, sondern in die Eindrucksschneisen eingesät, aufblitzend und in der Erde strampelnd.

Es wäre zu viel des Guten wollte man Winklers Buch ganz hoch in den Himmel loben. Aber es hat etwas Elementares, etwas Lebensgerechtes, das man nicht alle Tage lesen kann und aus dem das Anrecht auf das Wort Literatur nicht wegzudiskutieren ist. Alles in allem wälzt sich das Buch ab und zu nur so vor sich hin, aber immer wieder geht dann ein Reiz von ihm aus, eine Geschichte kündigt sich an, verschwindet im Gedränge der Wahrnehmungen und lässt einen neue Untiefe zurück.