„Aus dem geöffneten Fenster
fällt das ausgewanderte Licht.”
“Was haben wir überlebt,
dass wir so schwer
zu beeindrucken sind?”
Durch ein Gedicht in der Zeitschrift Volltext, mit einem kurzen biografischen Text zur Autorin war ich auf diese Gesammelten Gedichte von Charlotte Grasnick aufmerksam geworden. Benjamin Stein (der hier als Herausgeber fungierte und mit den Grasnicks, speziell Charlotte, über Jahrzehnte in wechselndem Kontakt stand und das hervorragende Nachwort geschrieben hat) gestaltete dort die Annäherung an die Dichtern so nah und intensiv, dass ich sehr enttäuscht war zu lesen, dass die Dichterin bereits verstorben war. Ich habe mir den Band dann, obwohl mich das abgedruckte Gedicht nicht so stark beeindruckte, sofort zulegte. Dann lag er eine Weile rum und erst vor einer Zeit nahm ich ihn zur Hand, musste ihn dann aber direkt in einem Zug durchlesen, so letztendlich wurde ich ins Spiegelkabinett der filigranen Dichterin hineingezogen und bald reizte es mich immer zu sehr, das nächste Gedicht kennenzulernen.
“Es gibt Sekunden,
wo auf dem gespannten Antlitz
die Seele ihren Ausflug wagt,
wo du mir das Staunen zeigst
in einem Spiegel aus Luft.”
Kennenlernen ist hier durchaus die richtige Bezeichnung. Es gibt ja Dichter, die sind ständig mit Elementen, mit hoher Sprache und Tiefe beschäftigt und man schlängelt sich durch ihre Gedichte wie durch fremde Welten, die Wunderbares bis Undeutliches offenbaren – ganz selten sind Gedichte solcher Dichter wirklich Begegnungen, meistens sind es eher großräumige Erfahrungen (wobei das eine dem anderen, und umgekehrt, nicht in irgendeiner Weise vorzuziehen ist oder nachsteht – und ganz genau trennen kann man es natürlich auch nicht immer).
Charlotte Grasnicks Gedichte jedoch sind Begegnungen; kurz, fast unscheinbar, nur wenig sprachmalerisch, eher auf eine innere Mechanik der Sprache zurückgreifend (und von da aus malerisch), mit einem Zug zur direkten Darstellung und manchmal zur leichten, aber auch bildhaften Innovation.
“Ich hätte gern
wie ein Clown
für dich
vierblättrige Kleeblätter
geweint”
“Ich sitze
im Blickkorridor
deiner Fragen.”
“Zwei Ichs
werfen zwei Schatten
Zwei Ichs
sind zwei Träume
die Augen zwei Spiegel
zögernd beschlagen
vom Atem der Zeit.”
Fast unbetont, sich eher zaghaft ausbreitend, bleiben diese Verse meist in ihrem eigenen Bild, gehen wenig darüber hinaus. Das stärkt sie allerdings auch, von innen heraus und verleiht ihnen eine oftmals unwillkürlich aufgebaute Größe. Einige der Gedichte aus der mittleren Schaffensphase erinnerten mich in Ansätzen an die Gedichte von Johannes Kühn. Ähnlich wie jene nähern sie sich poetisch ihrem Thema oder Objekt, ohne dabei die Einzelheiten, die schließlich einen Pfad zum Wesen des Gegenstands aufbauen, aus den Augen zu lassen, ohne die Annäherung an die über das Gedicht gebreitete Botschaft zugunsten einer höheren Poetologie, Metaphorik oder Verspieltheit zu verschleiern. Grasnick will beides: Zum Kern der Dinge vordringen und dem Ding doch die Entfernung geben, die es für eine Betrachtung braucht – die Worte sind wichtig, jedes einzelne, aber sie sollen das Thema auch tragen und erfassen, nicht nur mit ihrem eigenen Glanz durchschlagen. Sehr gut sichtbar wird dies bei dem Gedicht Ravensbrück, das von dem gleichnamigen Konzentrationslager handelt. Und doch geht es nicht nur um das Lager Ravensbrück, es geht um das Geschehnis Ravensbrück.
-Ravensbrück-
“Wie vor Augen führen
das nicht vor Augen Führbare,
wie an die Hand nehmen
die entlittene Hand?
Ganz nah herangehen
an das Wort.
Dahinter Frauen und Kinder
in Reihen,
sie winken nicht,
sie lächeln nicht
sie bitten nicht mehr.
Uns bleibt
zu sagen:
so war es –
nicht:
es war einmal.”
Ein großes Gedicht, wie ich finde und ein wichtiges, nicht über das Thema hinausspielendes Gedicht, das sein Thema einfach fasst und nicht überhöht. Auch der Vergleich mit Gedichten von Heiner Müller tut sich auf.
Das Gro der Texte fängt sehr persönliche Momente ein, aber es gibt auch ganz fabelhafte Gedichte über Personen, zum Beispiel über Mozart, über den sie schreibt.
“Wir haben keinen Namen dafür,
was mit uns geschieht,
wenn der Medizinmann der Seele
uns den alltäglichen Staub
von der Haut wischt,
das Herz wie eine Muschel öffnet,
mit ein paar herausrollenden Perlen
uns zu verblüffen,
eine, in die offene Wunde gerollt,
kühlt”
Solch wesenhaftes Erfassen, frei und doch bezeichnend, findet man immer wieder in Grasnicks Gedichten, vor allem dann wenn sie sich an ein anderes Thema als ihr Inneres wagt.
“Meine Tränen sind die Ufer
wo ich an Land gehe”
Es ist selten, dass man ein Buch mit Gedichten aus der Hand legte, wie man einst als Kind vielleicht einen Abenteuerroman oder als Kleinkind ein Bilderbuch aus der Hand legte: mit die Gefühl einer Erfülltheit, die sich aus Spannung und innerem Gezogensein zusammensetzt und die einen für die ganze Dauer der Lektüre zusammenhielt, einen weit weg brachte und einen sehr nah an sich selbst als Träumenden, Lesenden, Vorstellenden herankommen ließ. Charlotte Grasnicks Gesammelte Gedichte sind ein solch kostbares Buch, leicht und doch mit eben jener Reichhaltigkeit und Erlebnisdichte gefüllt, die wir nicht entbehren zu können glauben, in den Minuten, Stunden nach dem das letzte Gedicht uns begegnet ist.
“wie alt unsere Bäume,
wie sprachlos,
wenn das letzte Blatt sie verlassen”
“Mein Fuß im Schnitt
der Schere: Himmel und Meer –
Silber reibt sich an Silber,
nichts wird zerschnitten.”