Monthly Archives: October 2015

Doris Runges gesammelte Gedichte


“meine flügel ließ ich dir
du rupftest sie
für unser daunenbett
nun träume ich nachts
vom fliegen”

Still heißt nicht automatisch: sanft. Es gibt auch eine Stille, die noch wertfreier, neutraler ist, so still, dass sie schon gar nicht mehr still ist, sondern stattdessen alle Geräusche, sonst unhörbar, zulässt, hervorholt. Geräusche, die eigentlich nur Eindrücke sind, Verbindungen zwischen diesem und jenem, unter tausend oberflächlichen Stimmungen, Flexionen, Einteilungen und Tatsachen verborgen – und nur im Gedicht, in der Sprache, bekommen sie ein plötzliches, tiefgreifendes Geschick. Von dort aus erfasst die Sprache aber wiederum erstaunlicherweise auch die Neigungen unserer Wahrnehmung, füllt sie auf, bis zum Überlaufen.

“das war ein blutsturz von rosen
der heiße rücken der erde
es war ein altmodischer sommer
aus einem anderen leben
ich will nicht abschied nehmen
von dort wo ich nie war
von der tafelrunde grüner blicke”

Drei Jahrzehnte Gedichte. Bei diesem Ausmaß kann einen schon mal die Ehrfurcht packen. Doch weil es Gedichte sind, gilt: umso größer der Zeitraum, desto feiner die angesammelte Gedichtmenge im Vergleich zum Phänomen – gestreckt und doch eingefallen – der Zeit (wie Paul Valery sagte: Gedichte sind das Rauschen, nicht das Meer). Gesammelte Gedichte, sämtliche Gedichte – solche Sammlungen erreichen schließlich, wonach sich jedes Gedicht auf gewisse Weise, einzeln, sehnt: ein Loslösen von der Zeit, von Bestimmungen. Das Eingehen in den zeitlosen Raum, in dem alles, was von ihm ausgeht, eine besondere, kleine Erfahrung ist.

Während die Jahre wachsen, wächst der Dichter in sich hinein; jedes Gedicht eine Wurzel, tief in der Erde, in der all die Wendungen und Wahrheiten liegen. Mit jedem Gedicht wird der halt größer und doch ändert sich sonst nahezu nichts. Denn jedes Gedicht steht für sich, unerklärt, verdankt sein Dasein einer nicht aufzudeckenden Gleichung, welcher weder bekannte, noch unbekannte Variablen zuzuordnen sind. Und die Menge der nicht geschriebenen Gedichte ist im Vergleich zu jeder Ansammlung einzelner Poesien so groß, das Verhältnis zwischen diesen beiden Mengen so ungewiss, dass jedes Gedicht, jede weitere Seite in so einer Sammlung, einem Geschenk gleicht, in welchem die Loslösung vom Nichts noch enthalten ist.

“licht aus
belaubtem stein
heiter
wie jenseitig”

Warum dies alles zu Doris Runges Gedichten schreiben, Gedichte, die mehr Wegstreifen, Gräsertau, Fächerlicht und flüchtige Instanzen sind, als Werke mit großer Epik? Nun, da mag ich jetzt scheitern, wenn ich diese Frage mit Worten aus meiner Hand beantworten will und nicht einfach sagen kann: Lesen sie diesen Band. Das mich diese Gedichte zu den obigen Auslassungen inspiriert haben, mag vielleicht niemanden für diese Texte gewinnen – was aber sonst? Eine Erörterung, eine Hinterfragung? Eintausend Zitate?

Nun, ein kleiner, weiterer Versuch kann sicher nicht schaden. Ansonsten nehme man einfach zur Kenntnis, dass die Gedichte ihre anfängliche Unscheinbarkeit sehr schnell in das genaue Gegenteil kehren: in eine flüchtige Essenz, die Tatsachen und Dinge überragt, wie ein einziger, kühner Moment alle Möglichkeiten zu überragen pflegt.

“gras
wie grün den toten
das haar wächst
für den wind”

In Doris Runges Gedichten spielt die Natur, die heimatliche, eine große Rolle, zweifellos. Auch das Vergehen und das Bleiben, wie es jeden Dichter beschäftigt, hat seinen festen Platz, in Kombination mit Liebe oder einfach nur wenn es um Zustände geht, um Fragen und vermeintliche Antworten (wobei jede neue Frage eine Antwort wie nichts erscheinen lassen kann, eine Antwort sich jedoch mit jeder Frage schwertut – auf diesem Gebiet, so scheint es oft, kann gerade die Lyrik aber noch etwas vollbringen).
Und dann als Hauptelement ist natürlich: das nicht abzustreifende Bild, die Impression, das, was Poesie vordergründig zusammenhält und ausmacht, die Wendungen, mit denen Dichter Realität in Sprache überspielen, in einen Klang, wobei die Realität durch die Sprache hindurch gewinnt.

Aber da ist – vor all dem, in all dem – vor allem eins: Kürze. Kaum ein Gedicht ist länger als eine Seite. Kaum eine Zeile länger als ein kurzer Satz. Und wie ein Blatt an einem Ast, ein Grashalm, steht die Sprache, stehen die Gedichte von Doris Runge niemals still. Weiter, weiter, flüstert es darin, ein Weiter, das jedoch nicht schneller wird. Eindrücke, vorherrschend, wie Wind und Lichtstrahlen und alles was sie einfangen, in Bewegung halten. Aber diese Bewegungen bleiben Stille.

Und eine weitere Schicht wird erkennbar: das taxierende, das bestimmende Element, das Bilder und Natürlichkeit, Assoziationen und Wendungen wie Hüte, tief ins Gesicht gezogen, trägt; fast wie eine Maske.

Im Wind der Sprache also gleichsam die Bewegung der Flagge, das Erhabene und das Klirren der Stange, das “andere” – in unnachahmlicher Symmetrie und Symbiose. Kaum mehr, fast nichts anderes. Aber dies auf so viele Spielweisen, in so vielen Untiefen und Dasein, dass es wie ein breiter Raum voll unzähliger Lichtstrahlen wirkt. Wie große Kunst.

“mein liebster
diesseitger
engel

bald werde ich
fliegen
bald ist der fisch
mein schatten”

Und darin: diese Bilder, diese Filigranität, diese Zärtlichkeit. Wie ohne Gedanken tauchen die Gedichte auf, sie denken nicht, sie sind, ein Vollzug der kleinsten Welt. Würde man ihre kleinen Wunder Gedanken nennen, wäre das eine eindeutig Abstufung.

Es gibt Bücher, um sie ans Herz zu pressen, um sie eines Tages zu lesen und diesen Tag zu vergessen, aber das Lesen nicht, als hätte das Lesen den Tag vereinnahmt und überdauert, nunmehr ewig in seinem Wesensgehäuse. Dieses Buch empfinde ich als ein solches Erlebnis. Man muss die Texte wie kleine, komprimierte Elegien lesen, nicht zu rasch, auf keinen Fall zu hastig. Hier heben Bäume ihre “blutgescheuerten geweihe”, hier “wärmt haut wie tee/ in kleinen Schlucken”, hier gibt es keine Stopptaste, nur die Musik, abgeschaltet, die sich in der Welt noch eine Weile fortsetzt. Gedichte, sehr nah am Verschwinden – und knapp davor – triffst du endlich mit ihnen zusammen.

“rauch
wer oder was
wird geopfert
was schleicht sich ein
was geht vorbei
was radelt mit
blattgold
in den speichen
war das
die zeit”

Ein bisschen was auf Brecht


I – Die Hauspostille

“O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!”

Die Hauspostille war der erste bedeutende Gedichtband den Brecht veröffentlichte (1927). Größtenteils besteht er aus Liedern – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Brecht hat den Vertonungen seiner Gedichte immer viel Bedeutung beigemessen – mit zahlreichen Strophen und oft auch Refrains (im Folgenden sind z.B. die letzten vier Zeilen der Refrain):

“Kein Kleid war arm, wie das ihre war
und es gab keinen Sonntag für sie,
keinen Ausflug zu dritt in die Kirschtortenbar
und keinen Weizenfladen im Kar
und keine Mundharmonie.
Und war jeder Tag, wie alle sind
und gab’s kein Sonnenlicht:
Es hatte die Hanna Cash, mein Kind
die Sonn stets im Gesicht.”

Viele der längeren Gedichte haben die üblichen Balladenthemen; Seeräuber oder Abenteuer, Tunichtgute und Säufer, und häufig trübes Menschenschicksal, verdammt, das alles steht im Mittelpunkt; vielfach kommt auch der Tod vor, allerdings wird Brecht dann meistens sehr lyrisch. Die wenigen Gedichte zum Zeitgeschehen, die vor allem im ersten Teil -Bittgänge- stehen, sind dagegen von frontaler Sachlichkeit (So hier am Ende eines Gedichts über eine Kindermörderin):

“Ihr, die ihr gut gebärt in sauberen Wochenbetten
und nennt gesegnet euren schwangeren Schoß
wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen,
denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid war groß.”

Das Schöne an den Gedichten ist, dass sie tatsächlich eingängig sind, man kann sie tatsächlich fast mitsingen, allein deswegen fühlte ich mich, auch wenn thematisch keine Verbindung besteht, doch an Heinrich Heines Das Buch der Lieder erinnert, ebenfalls ein Debüt. In beiden findet sich die einfache Form, eine Form von erzählender Lyrik, zusammengefügt mit einfachen, sich wiederholenden Klängen und Motiven, lesegenüsslich schnell zu konsumieren.

“Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese
still und grinsend vergehenden Gesichts
träumt er gelegentlich von einer kleinen Wiese
mit blauem Himmel drüber und sonst nichts.”

Sicherlich ist dieser Gedichtband mehr ein schöner Sing-Sang als ein großes, lyrisches Meisterwerk. Aber wie in vielen Dingen, ist auch in der Einfachheit der Zeilen hier eine karge Schönheit aufbewahrt worden.
Schließen tue ich mit einem Gedicht, einem Liebesgedicht, dass viele von Brecht vielleicht kennen und das eine der wenigen feinsinnigen Ausnahmen in diesem Band darstellt:

Erinnerung an die Marie A.

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheur oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.

Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär’
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumebäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

II – Svendborger Gedichte

“Die Regierung
schreibt Nichtangriffspakte.
Kleiner Mann
schreibe dein Testament.”

1933 floh Bertolt Brecht mit seiner Familie ins dänische Svendborg, wo, in relativer Nähe zu Deutschland, dieser 6teilige Gedichtband entstand. Hauptsächlich sind es Widerstandsgedichte, die die deutschen Geschehnisse kommentieren, parodieren und untersuchen. Natürlich ist mit dem Anstreicher, der häufig vorkommt (und wie Brecht ihn nicht nur in seinen Satiren nannte) Hitler gemeint.
Brecht sah sich auch nach der Aberkennung der Staatsbürgerschaft 1935 noch als Deutscher, weshalb er auch stets von “unserem Land” spricht.

“Es ist möglich, dass in unserem Land nicht alles so geht, wie es gehen sollte.
Aber niemand kann bezweifeln, dass die Propaganda gut ist.
Selbst Hungernde müssen zugeben,
dass der Minister für Ernährung gut redet.
[…]
Und noch etwas macht ein wenig bedenklich
über den Zweck der Propaganda: je mehr es in unserem Land Propaganda gibt,
desto weniger gibt es sonst.”

Obwohl Emigrant, versuchte Brecht die Verbindung zum deutschen Volk nicht zu verlieren, zu wahren, zu kritisieren und vor allem, mit ihnen zu leiden, was vor allem im zweiten Teil deutlich wird, der vor allem Gedichte über das Schicksal von Juden und von Deutschen im neufaschistischen Klima enthält. Im sechsten Teil dieses Bandes setzt er sich mit dem Emigrantendasein selbst auseinander und schreibt:

“Schlage keinen Nagel in die Wand,
wirf den Rock auf den Stuhl!
Warum für vier Tage vorsorgen?
Du kehrst morgen zurück!”

Diese Bestimmtheit verlor er wohl erst mit Anfang des Krieges, von dem er weiter weg, erst nach Schweden, dann nach Finnland flüchtete; ein Krieg, vor dem er schon viel früher zu warnen begann:

“Auf der Mauer stand mit Kreide:
Sie wollen den Krieg.
Der es geschrieben hat
ist schon gefallen.”

Diese Gedichte sind zwar hauptsächlich vom zeithistorischem Interesse und verraten viel über Brechts Persönlichkeit (der vierte Band z.B. besteht aus Gedichten, die sich mit dem Kommunismus und dem sozialistischen System auseinandersetzen, sehr intensiv und anschaulich), aber so manches Gedanke und manches Gedicht mag sich hier auch finden, welche ihre Überlegungen, Schlüsse und Bilder über die Zeit hinaus zu schicken vermögen. Sei es eine einfach Lehre gegen Krieg:

“Wenn es zum Marschieren kommt, wissen viele nicht,
dass ihr Feind, an ihrer Spitze marschiert.
Die Stimme, die sie kommandiert
ist die Stimme ihres Feindes.
Der da vom Feind spricht
ist selber der Feind.”

oder eine der frei gereimten Chroniken aus dem dritten Teil, aus dem auch das bekanntere Gedicht “Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration” stammt und in welchem sich noch so manch andere gute Geschichte findet.

Ein vielseitiger Gedichtband, auch heute immer noch interessant und lehrreich.

III – Gedichte aus dem Widerstand (Chinesische Gedichte + Studien + Steffinische Sammlung)

“Mein Bruder war ein Flieger
Eines Tages bekam er eine Kart’
Er hat seine Kiste eingepackt
Und Südwärts ging die Fahrt.

Mein Bruder ist ein Eroberer
Unserm Volke fehlt’s an Raum
Und Grund und Boden zu kriegen ist
Bei uns ein alter Traum.

Der Raum, den mein Bruder eroberte
Liegt im Quadaramamassiv
Er ist lang einen Meter achtzig
Und einen Meter fünfzig tief.”

Die Studien und die chinesischen Gedichte sind sehr kleine Sammlung. In den Studien geht es um Werke anderer Dichter, Shakespeare, Dante, Kant, Schiller, Goethe, die in Sonetten abgehandelt, kommentiert oder zusammengefasst werden, manchmal auch alles gleichzeitig. Die Chinesischen Gedichte behandeln allgemeine Themen vor dem Hintergrund der chinesischen Mentalität und Geschichte.

Die “Steffinische Sammlung” ist ein Dokument von Brechts Exilreise, seinem Aufenthalt in Schweden und Finnland und enthält auch Chroniken und Satiren auf die Geschehnisse vor und im Krieg.
Die “Gedichte aus dem Messingkauf” sind Gedichte über das richtige Theater (ebenso wie die Dialoge aus dem Messingkauf)

-Gedenktafel für 4000, die im Krieg des Hitler gegen Norwegen versenkt wurden-

“Wir liegen allesamt im Kattegat.
Viehdampfer haben uns mitgenommen.
Fischer, wenn dein Netzt hier viele Fische gefangen hat
Gedenke unser und lass einen entkommen!”

IV – Buckower Elegien

“Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?”

Die Buckower Elegien, immer als Reaktion auf den 17. Juni 1953 verstanden, sind die letzte Gedichtsammlung Brechts. Bedeutend sind sie vor allem wegen ihrer komprimierten Konzeption und ihrem allegorischen Charakter. Wie zum Beispiel “Der Radwechsel”(oben) oder dieses:

“In der Frühe
Sind die Tannen kupfern.
So sah ich sie
vor einem halben Jahrhundert
vor zwei Weltkriegen
mit jungen Augen.”

Am schönsten empfinde ich gerade bei diesen Gedichten die freie Form. Sie sagen so viel mehr und ihre Melodie ergibt sich bei jedem Gedicht, am Schluss, rückwirkend. Ein Eindruck manifestiert sich mit ihnen, gerade groß genug für ihre kleine, meditative Gestalt.

Der zweite Teil dieses Bandes sind die “Gedichte im Exil”, sehr wenige kurze Gedichte (plus eine Erweiterung der Satiren aus den Svendborger Gedichten), die während der späten Phase des Krieges und danach entstanden. Fast jedes von ihnen ist ein kleines Meisterwerk und zugleich sehr persönliche Erschütterungen, wie dieses Gedicht -Ich, der Überlebende-:

“Ich weiß natürlich: einzig durch Glück
Habe ich so viele Freunde überlebt. Aber heute Nacht im Traum
Hörte ich diese Freunde von mir sagen: “Die Stärkeren überleben.”
Und ich hasste mich.”

Über alle Zeit werden diese Gedichte lesenswert bleiben.
Zum Abschluss, ein letztes Brechtgedicht, das ihn ganz umreißen kann: gewitzt, kaltschnäuzig, herablassend und demütig:

“Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.”

Zu Walle Sayers Band “Strohhalme, Stützbalken”


„Katzentapser und wie es auf Mülltonnen schneit.
Fern werden Nachttresore geleert und Kummerkästen.”

Es gibt Dichter, die dich bei der Hand nehmen, bei denen das Begegnen in jeder Zeile vorhanden ist und stattfindet, in etwa wie an einem stillen Frühlingsmorgen für einige Augenblicke alles erfahrbar ist und jeder Eindruck nach einem anderen geschieht und erst im Nachhinein zu dem Frühlingsmorgen als Ganzes verschmilzt. Solche Dichter warten in ihren Gedichten auf die Aufnahme des Lesers in ihre Geste, jede Zeile ist Ankunft und nicht Abfahrt; in diesen Gedichten ist oft etwas enthalten, das über verschiedene Gedanken und Ansichten hinweg ein luzider Begriff ist, eine Idee dessen, woraus Momente im Leben gebaut sein könnten.

“Der am äußersten Ast aufgehängte Meisenknödel
pendelt eine Winterfrage aus.”

Walle Sayer schreibt seine Gedichte, wie man Kerzen, eine nach der anderen, ausbläst, mit leichter Traurigkeit, aber auch einer Gewissheit, in welcher schon das in Formung begriffene Bleiben geschwenkt wird – das Außen wird zum Bild, das Innere übernimmt die Bewegung des Außen in Gefühl und Erinnerung hinein.
Im Angesicht eines Gedichts sehen wir oft erst, wie stark wir selbst Resonanzkörper sind, unser Erlebniswiderschein der Welt ihre Tiefe gibt.

Sayers Gedichte bestehen ganz aus einer Unwillkürlichkeit, die sich so niederschlägt wie eine kleine Ewigkeit. Ihre Kürze machen sie in der Länge des Miteinanders, dass der Leser empfindet, wett; zum Beispiel wenn er sehr behutsam eine gleichsam quicklebendige und starre Erinnerung auferstehen lässt, zu der viele bestimmt ein eigenes Äquivalent kennen:

“Die Stelle, wo die Umkleidekabine stand.
Ein Bretterverschlag in seiner Verschwundenheit.
Allein das Astloch, das verblieb.
[..]
In der Rückwand der Luft.”

Die Fähigkeit des Menschen aus der Zeit heraus in die Erinnerung einzutreten und sich die physische Welt als Raum zu bewahren, der auch alte Züge annehmen und mit ihnen ausstaffiert werden kann, anknüpfend an Gefühle und Gerüche, Erlebnisse unseres Lebens, ist eine wesentliche Magie unseres Daseins. “Vielfältig wie die Tönungen eines Herbstwaldes”, wie Chesterton sagen würde, treiben Gedichte alte Wahrnehmungen als neue Pflänzchen hervor; und auf dem Papier lassen sie sich immer wieder lesen, sind präsent als Tür und Tor zu dieser uns so einmalig erschienenen Nähe. Walle Sayer hat in seinen besten Gedichten sehr viel von dieser Nähe, von den Verbindungen zu unserer Wahrnehmung gesammelt und in knappen Worten aufleuchten lassen, aber auch wo er nur ein Bild schafft, ist das Ergebnis beeindruckend.

“Ein Eiszapfen
träufelt Augentropfen
in das Starren der Tonne.”

Hätten Momente Initialen, würden sie, ins Gefühl übersetzt, oft wohl so aussehen, wie Sayers Gedichte. Man kann seinen neuen Band sehr gut nur für ein-zwei Gedichte zur Hand nehmen, nur um sich in aller Ruhe am sonnenfleckigen Wind einer kurzen Chiffre für unser Dasein und dadurch unseres ganzen inneren Lebenswertes zu erfreuen. Poesie ist in keiner Form wirklich kompliziert, eigentlich muss man nur immer Tranströmers Worte beherzigen: “Es ist wie ein Gebet zur Leere./ Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu/ und flüstert:/ Ich bin nicht leer, ich bin offen”. Walle Sayer sind auf besonders schöne und klare Weise offen. Und deswegen sind sie sehr lesenwert.

“Und jede Weltreise beginnt auf einem Dreirad,
eine staubige Hauptstraße hinunter,
an drei Misthaufen vorbei.”

Walt Whitmans großartige Grashalme


“Bleibe nur diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du
sollst den Ursprung aller Gedichte erfassen!
Du sollst das Gut der Erde und der Sonne haben (Millionen
von Sonnen sind noch übrig),
du sollst die Dinge nicht mehr aus zweiter oder dritter
Hand nehmen, auch nicht durch die Augen der
Toten sehen und dich nicht nähren von den
Gespenstern in Büchern;
Du sollst auch nicht mit meinen Augen sehen, noch die
Dinge von mir empfangen,
Du sollst Horchen nach allen Seiten und sie alle durch dich selbst filtrieren!”

Ein Freund von mir (danke Holger!) brachte mich dazu noch einmal nach langer Zeit zu diesem Werk zu greifen.

Borges meinte einmal, dass jeder große Schriftsteller ein Symbol geprägt habe und auch prägen müsse, weil es ansonsten ganz unerheblich sei, ob er gut schriebe oder nicht, er würde dann die Zeit nicht überdauern: Kafkas Labyrinthe; Cervantes Gestalt Don Quijote, mitsamt Gefährte Sancho Pansa und den Windmühlen; Melvilles weißer Wal Moby Dick. Doch Borges nennt stets auch ein Ausnahme: Wald Whitman, der kein Symbol geprägt habe (außer vielleicht das Bild der Grashalme), sondern selbst zu einem geworden sei.

“Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder
unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das
ihr in euren Augen ausdrückt?
Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in
meinem Leben gelesen.”

Whitman ist ein Rufer des Lebens. Dies, was uns durchpulst, unser Maß, doch aus der Aufmerksamkeit geputzt, oft verbannt aus unserer Mitte, benutzt, analysiert, systematisiert und verbogen, will er uns wieder nahebringen. “Das Alles” ruft er uns aus seinen Zeilen zu, ist das Leben, alles was an Wunderbarem zu greifen ist, in unser Nähe geschieht, jedes noch so kleine Wunder, das uns kurz umgibt, jede noch so einfache oder schwierige Tätigkeit, jeder Name, jede Periode unseres Lebens und der Ewigkeit. Whitman steht außerhalb jeder literarischen Tradition, weil er in der Tradition des Lebens wandelt.

“Alle Wahrheiten harren in allen Dingen,
sie haben’s nicht eilig mit ihrer Befreiung, noch
widerstehen sie ihr,
Sie bedürfen nicht der Zange des Geburtenhelfers.
Das Unbedeutende ist mir so wichtig wie irgendetwas.
(Was ist weniger oder was ist mehr als eine Berührung?)”

Die Grashalme sind Musik, sind Hymne, aber auch philosophischer Sturm, in dessen Wind das Flüstern der kleinen Wahrheiten und die große Potenz der Wirklichkeit an unser Ohr schwebt: “Die Uhr zeigt die Minute – aber was zeigt die Ewigkeit?”
Pathos ist bei solchen Gesängen ja eigentlich schwer zu umgehen; aber, o Wunder, gerade das würde man nie über die Grashalme sagen, dass sie pathetisch seien, zu sehr erkennt man sich selbst in der einen oder anderen Liebe, in dem ein oder anderen Halm. Es bleibt das Gefühl einer natürlichen, nie zu schnellen, nie zu langsamen Bewegung, die immer in die eigene Erweckung schreitet, hierhin zeigt, dies aufdeckt, jenes nacherzählt.

“Meinst du, ich möchte Erstaunen erregen?
Erregt denn das Tageslicht Erstaunen? Oder der
frühmuntere Rotschwanz, der durch die Wälder
zwitschert?
Errege ich mehr Erstaunen als diese?”

Die von mir zuletzt gelesene Ausgabe beim Anaconda Verlag umfasst einige Gedichte aus den “Trommelschlägen” (dies Impressionen aus den Jahren des Bürgerkriegs, z.B. ein in Worten gemaltes Bild von Kavallerie, die ein Furt durchquert); dann, über 60 Seiten, also ein Drittel des Buches, einen Ausschnitt aus dem gewaltigen “Gesang von mir”, einem Text, halb Gesang, halb Erzählung, voller Ansichten und Verherrlichungen, voller Schönheit und immer wieder sinnlich-geistreich; des Weiteren noch viele andere, auch kleine Gedichte, meist ein-zwei Seiten lang, aus dem Spätwerk, die meist neben dem “Gesang von mir” entstanden.

“Hier oder fortan, mir ist es gleich, ich vertraue der Zeit unbedingt.
Sie allein ist ohne Unterbrechung, sie allein rundet und
vollendet alles,
Dies Mystisch verwirrende Wunder allein vollendet alles.”

Vielleicht ist dies die letzte Botschaft Whitmans: Alles vollendet sich von selbst, es hat keinen Sinn Krieg zu führen, zu hetzten, sich von irgendetwas auffressen zu lassen. Letztendlich geht das Leben seine Wege und man sollte ihnen folgen, man sollte sein Glück machen, die Augenblicke haben – seine Stimme flüstert: Das Leben ist dies alles, was versuchte außerhalb zu sein, sich davor zu retten, sich darin zu verstecken, es gibt nur dies und das ist das Großartige! Es gibt die Welt, die Welt als das Ding, dass sie ist, Geheimnis ist sie und doch so wach, so wach ist das Geheimnis, das sollten wir erkennen: und wir gehören dazu.

“Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?
Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit,
Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit.”