Monthly Archives: July 2017

Zu Vincent Overeem und seinem Buch “Misfit”


  “Und als wir ausstiegen, sagte ich zu Kaat, tagsüber würden die Vögel durch die Luft fliegen und nachts die Fledermäuse und niemand nehme Notiz davon. Wir suchten den dunklen Himmel ab und sahen schließlich ein paar. Kaat stieß einen Schrei aus, umarmte mich uns sagte, wir seien auf der Welt, um auf solche kleinen Dinge zu achten. Und ich müsste dafür sorgen, dass das so bleibe. Das sagte sie, ehrlich wahr. Und zu Hause fickten wir die Sterne vom Himmel.”

„Misfit“ ist eins dieser Bücher, die man entweder in einem bestimmten Alter lesen muss oder sofort mit Nostalgie liest. Da ist ein 18jähriger Ich-Erzähler in einer mittelgroßen Stadt. In seiner eigenen Bude (eine baufällige, ranzige Angelegenheit) liegt nur eine Matratze auf dem Boden und er arbeitet mit seinem Nachbarn hier und da an einem Handwerks-Job; ansonsten verbringt er seine Zeit mit Kaat. Kaat, die großartige, die schöne, die aufbrausende, die selbstsichere, die freche, die nachdenkliche, die unausstehliche, die geliebte.

Kaat, das Mädchen, das sich wohl ein Großteil der 18jährigen, heterosexuellen Jungs aus Spielfilmvorlagen, Schulschwarms und eigenen ideelen Vorstellungen zusammenphantasiert; nicht nur eine Freundin, sondern eine Gefährtin durch dick und dünn. Die eines Tages einfach in der Tür steht. Und mit ihr beginnt die schwüle Zeit, die Zeit von häufigem Sex, von privaten Ritualen, kleinen (aber in der eigenen Prägung riesigen) Geschichten. Bis aus der Schwüle eine Hitze wird, die über der Stadt liegt und alles zu erdrücken scheint. Aber es ist nicht nur die Hitze, die drückt, sondern die unausgesprochene Vergangenheit des Protagonisten (aufgerollt in einer zweiten Geschichte, die sich Stück für Stück erschließt) und die geheimniskrämerische Seite von Kaat.

„Misfit“, das Buch eines Sommer, ein Buch voller schmerzlicher und schöner Emotionsanwandlungen (hinter denen aber auch dichtere Gefühle stehen), mit einem Auge für das – mal schmale und mal weite – Unbegreifliche, das oft zwischen Menschen steht, zwischen Freunden, Fremden, Liebenden und Familienangehörigen. Ein Buch über das Ende des Aufwachsens, den Übergang, in dem sich wie in einer Rinne zwischen Kindheit und Erwachsensein die Sehnsüchte ansammeln, vorwärts und rückwärts gerichtet.

Ja, das alles steckt in diesem Buch und ich bin selbst verblüfft darüber, denn seine Geschichte, die sich in zwei Geschichten aufteilt, ist geradezu simple und könnte Stoff für einen gewöhnlichen Teenie-Roman sein. Was „Misfit“ von einem solchen unterscheidet ist nicht nur das sich langsam in Bild schiebende ernste Thema im Hintergrund, sondern die ungefilterte und dennoch nie voyeuristische oder provokante Art der Darstellung, die ehrliche Form, die das Buch sich bewahrt. Die Nähe zum Geschehen quasi, die sich in ihrer Deutlichkeit und Schlussendlichkeit jedes Klischees entledigt.

Ein Buch des Sommers, ein Buch der Bewältigung, ein Buch der Schönheit im Jungsein. Nostalgie pur mit Genuss- und Anspruchsfaktor und dem gewissen, großartigen Etwas.

Zu Zoran Ferićs “In der Einsamkeit nahe dem Meer”


„Die letzte Nacht fühlte er sich weich wie Holundermark. Wie dicke Milch mit Sägespänen. Er fühlte seine Bewegungen zerfallen, er war immer weniger er, und nahm immer mehr die Elemente des Raums an: kinetischer Chamäleonismus. Er umarmte Constanze mit ihren Bewegungen, schob ihr auf ihre Weise die Zunge in den Mund, es musste ihr vorkommen, als küsse sie sich selbst. Er fühlte sich wie ein Dieb, der Bewegungen stiehlt, ein Krimineller, eine moralische Sülze. Sie waren in ihrem Zelt, Vera schlief bei Udo im Wohnwagen zusammen mit anderen Deutschen. Er versuchte nicht einmal, zum Wichtigsten zu kommen.“

Die Insel Rab in der nördlichen Adria vor der Küste Kroatiens; die 70er Jahre und 80er Jahre, kommunistische Zeiten, aber es regiert ja Tito, der große Antistalinist, autoritärer Liberalist und Propagierer einer blockfreien Welt, über den im Krankenhaus, in dem er den Tod fand, geschrieben steht: „Der Kampf für die Befreiung der Menschheit wird ein langer sein, aber er wäre länger, hätte Tito nicht gelebt”. Dank dieser halbwegs freien Umstände kommen jedes Jahr im Sommer Besucher aus den westlichen Industrieländern hierher, Rucksacktouristen, ältere Wohlhabende, Student*innen.

Die Touristinnen sind jede Saison das Ziel der Obsessionen und Bemühungen der auf der Insel lebenden Jungen. In einigen Fälle könnte man von umgekehrtem Sextourismus sprechen. Im trüb-schwül-wilden Kolorit der Insel wird hier gejagt, geliebt, gehofft und die kleinen Elemente des Versagens kommen ebenso zur Geltung wie die Großen Themen, die bahnbrechenden Gefühle. In den Touristinnen schlummert der Zugang zu einer aufregenderen, sonst unerreichbaren Welt, so glauben anscheinend die Jungen, die so etwas wie Transzendenz und Erhöhung zwischen den Schenkeln einer jungen westlichen Frau suchen. Auch umgekehrt hat man den Eindruck: die Touristinnen fahren her, um sich zu transzendieren, im Urlaub, im Flair des fremden Landes, in den Augen und Händen der fremden Jungen und Männer.

Doch dieses Aufeinandertreffen, obgleich voller brodelnder Wirklichkeit, ist doch eine große Unwirklichkeit. Zoran Ferić gelingt es gut, das herauszustreichen, es immer wieder zu formulieren, wortmächtig, schummrig und doch scheinend. Ein bisschen zu hoch ist die Sprache fast, denn ihre Ausführungen schieben sich hier und da zu ausgreifend zwischen den Lesenden und die Sicht auf die Figuren, erzeugen eine gewisse Ferne, führen ausschweifende Beschreibungen an, die sich etwas in selbst verlieren. Das schafft eine starke, unverwechselbare Präsenz des Autors im Text, die aber zulasten der Unwillkürlichkeit, des ganz und gar Lebendigen geht, das Ferić oft in den Mittelpunkt seiner Prosa stellt. Diese Sucht nach Bildern treibt den Text voran, aber durchsetzt ihn auch.

Damit geht einher, dass auch die Erzählinstanz nicht ganz klar ist, die Sprache windet sich um die Figuren, lässt sie sprechen, spricht aber auch ein bisschen über sie hinweg. Und in all den unterschiedlichen Geschichten, die in jeweils eigenen Kapiteln erzählt werden und die gemeinsam ein gekonntes Panorama ergeben, wechselt diese Stimme minimal, aber nicht entscheidend.

Dennoch oder gerade deswegen: ein beeindruckendes Buch, in dem auf sehr komplexe Weise alltäglichste und elementarste Gefühlsuntiefen ausgelotet und beschrieben werden. Die Unbedingtheit, die die Sprache dabei an den Tag legt (sehr selten gibt es etwas schwammigere Passagen) macht keinen Bogen um die unangenehmen Schritte, setzt sie in vollem Bewusstsein. Das hinterlässt sehr oft starke Eindrücke bei mir und das Buch im Ganzen ebenso.