Monthly Archives: September 2017

Eine Auseinandersetzung mit dem großartigen und wichtigen Buch “Was auf dem Spiel steht” von Philipp Blom


besprochen bei Fixpoetry

Zu “50 Klassiker Römische Antike”, einem gelungenen Who is Who des antiken Rom


“Sogar in der Tagespolitik spielt das antike Rom noch immer eine Rolle. So wird häufig die Frage diskutiert, ob die Weltmacht USA eine ähnliche Entwicklung durchläuft wie seinerseits das römische Imperiums: Ist damit zu rechnen, dass auch das amerikanische Weltreich mit einer demokratischen Staatsform nicht dauerhaft und effizient zu regieren ist, und wird sich aus der amerikanischen Demokratie möglicherweise, wie damals in Rom, allmählich eine Aristokratie, also die Herrschaft nur weniger Dynastien und Familien, oder gar eine Monarchie entwickeln?”

ACHTUNG: SPOILER!

Hätten Sie gewusst, dass Aeneas nur die zweite Wahl beim Herkunftsmythos der Römer war? Dass Ovids Flirtratgeber “ars amatoria” auch heute noch eine verlockende Lektüre ist? Dass der erste Film von Terence Hill und Bud Spencer “Hannibal” hieß? Dass viele der uns bekannten Komödien, die Shakespeare, Moliere und Kleist schrieben, auf Werke des Stückeschreibers Plautus zurückgehen? Dass wir dem literarischen Erfindungsgeist des Cicero Worte wie “moralisch” oder “Qualität” verdanken? Dass eines der frühsten Gedichte von Vergil eine Schnacke besingt, die einen Hirten sticht, um ihn vor einer Schlange zu warnen, der dann aber reflexartig die Schnacke erschlägt, sodass sie ihm später in der Nacht erscheint und ihn tadelt?

Als ich mich in meiner Schulzeit für Geschichte begeisterte (vor allem für die Geschichte der Antike), lieferten die meisten Schulbücher bald nicht mehr genug Stoff – vor allem, weil die faszinierenden Randfiguren des Geschehens oft mit ein paar Sätzen abgekanzelt wurden; außer Caesar, Marcus Antonius und Augustus war da nicht viel. Aber auch die populären Buchreihen wie “Was ist Was” oder die vielen historischen Zeitschriften kauten meist nur dieselben Informationen wieder oder verloren sich in uninteressanten Details. Dementsprechend war ich sehr skeptisch, ob sich dieses Trauma meiner Jugend mit “50 Klassiker Römische Antike” nicht wiederholen würde.

Aber: ganz im Gegenteil. Das Buch ist nicht nur durchweg unterhaltsam und hält eine Fülle an anschaulichen Darstellungen und Informationen bereit, es betrachtet auch jeden der angeführten Charaktere unter eigenen Gesichtspunkten, weist die Verknüpfungen untereinander aus, berichtet im Rahmen seiner Möglichkeiten genauestens von den besonderen Ausprägungen, die gerade diese Person so wichtig für die römische Geschichte machen.

Architekten, Feldherren, Philosophen, Dichter, Kaisergattinen, Kaiser, Senatoren, Redner, Propheten, sie alle werden auf 3-4 Seiten essayistisch vorgestellt, dann folgt noch ein biographischer Abriss und eine Werkbeschreibung oder eine Trivia + Tipps für zusätzliche Lektüren und andere Informationsquellen zu der betreffenden Person. Sollte in keinem Bücherschrank fehlen; so kompakt und gut wird man Rom und seine Sternstunden wohl nirgends erleben können.

Zu den Slam-Texten von David Friedrich in “Solange es draussen brennt”


„Das Leben ist doch ein Marionettentheater
Mit den Typen, die im Hintergrund die Fäden ziehen
Läuft dann doch alles wie am Schnürchen“

Der Satyr Verlag war mir lange kein Begriff, bis ich bei meinen Recherchen zu Lyrik-Verlagen auf ihn stieß. Ein Verlag für Slam-Texte? Zumindest scheint es dort ein wichtiger Programmpunkt zu sein. Und Poetry-Slam-Texte gehören ja auch unter die Leute; vor allem seit die politische Lyrik mehr oder minder tot ist, werden sie als starke, kritische Stimme gebraucht.

Auf dem Buchdeckel werden David Friedrichs Texte als „emotionsgeladene Lyrik voll Sarkasmus und Bildgewalt, skurril-witzige, aber niemals kritiklose Texte“ beschrieben. Dem ist eigentlich wenig hinzuzufügen, denn all die genannten Eigenschaften sind in erstaunlicher Fülle vorhanden. Das Emotionsgeladene lässt sich allerdings dann und wann auch überartikuliert an, der Sarkasmus kann schon mal nach Häme schmecken.

„Optisch ist sie wie von Picasso gemalt, diese Frau
Kein Kubismuswitz, wartet nicht drauf
Denn vom Ehemann geschlagen ist ihr Auge
Auch phasenweise blau“

Natürlich ist gerade bei Bühnentexten des Slams diese Überzeichnung ein probates Stilmittel, ein fast schon geforderter Unterhaltungsaspekt. Was die Bildgewalt angeht, werde ich bei aller Sympathie das Gefühl nicht los, dass die Erwartungshaltung des Publikums in Bezug auf die Pointen (sie sollen besonders pittoresk und eindrücklich, möglichst sprachverspielt und innovativ sein) zu sehr bedient wird und sich selbst permanent hervorstechen lässt, was mitunter etwas enervierend ist (und vor allem nicht immer die Botschaft transportiert). Dabei hat David Friedrich viel zu sagen und ist eben nicht nur ein Spaßmacher oder ein cleverer Wortkünstler und manchmal gelingt ihm ja auch die Verbindung zwischen Kritik und Slapstick, zwischen Revue und Biss.

„Und während der Nachrichtensprecher den Anschlag erwähnt
Wird nebenan schon der nächste Brandsatz gelegt
Im Kopf der jungen Janina, 13 Jahre, Einzelkind
Papa erklärt, wer heutzutage unsere Feinde sind
Auf dem Schulfest, der süße Junge, mit dem sie tanzte
Nein, das mit Serhad wird wohl keine Teenieromanze“

Manchmal wiederum kommt man sich vor wie an der Leine durchs Witzekabinett geführt, in dem angeblich auch die Idee der Dinge beleuchtet wird. Gerade wenn Gesellschaftskritik in den Mittelpunkt (von lyrischen Texten) gerückt wird, glaube ich, dass Subtilität das A und O ist, sonst tauscht man die eine Vereinfachung gegen die andere aus. Vielleicht stelle ich da viel zu hohe Ansprüche, aber ich vermute eben, dass David Friedrich durchaus auch hohe Ansprüche mit seinen Texten verbindet.

„Ab und zu ein Stück Fleisch – natürlich nur wenn das Rind
alt und schwach war und nach drei Jahren im Krankenhaus
gesagt hat: Bitte, zieht den Stecker, bitte, ach was, ich ziehe
ihn selber! Aber dann richtig mit Röstzwiebeln und Kräu-
terbutter. Gönn dir, Gutmensch! Nimm doch dazu Senf! Den
gibst du doch sonst auch so gern dazu. […]
Der Vanillesirup riecht sehr streng in deiner Sojalatte
Erklärst mir die Echtheit der Welt und bist selbst eine Attrappe“

Ein bisschen ändert sich dieser Eindruck, wenn man sich mithilfe der mitabgedruckten QR-Codes die Texte von David Friedrich vortragen lässt. Die feinen Stufungen der Selbstironie, der punktgenaue Einsatz der Pointe, die Dynamik des Sprechvorgangs – das alle lässt die Texte lebendiger und damit auch weniger problematisch erscheinen; halt aus dem Leben gegriffen, mittendrin, und nicht nur aus der Ferne Position beziehend.

Trotzdem: ein vielschichtiger Schreibender, ein Dichter wie David Friedrich, der für unsere Existenz die schöne Wendung „Wir sind Schiffschrauben in der Wüste“ findet, setzt zumindest seine Poetik dann und wann herab, wenn er doch mal eben zu einer schnellentzündlichen, aber auch schnell verrauchten Wendung greift. Ich weiß, man brauch so etwas auf Bühnen und ich verstehe, dass er damit ins Leben will, die Dinge frontal angehen will und das Hintergründige dem Vordergründigen schon mal weichen muss. So entstehen nette Zweizeiler zum Zeitgeist:

„Du wolltest immer dein eigener Chef sein
Doch was heißt Chef sein? Der Chef ist die Deadline“

Oder scheinbar klar-kritische Bilder:

„In den Ruinen suchen Trümmerkinder
Nach den Resten ihrer Kinderzimmer“

In der Unbedingtheit dieser Wendungen liegt eine große Kraft, aber oft auch eine leicht abzuschüttelnde Atmosphäre, die so momentgebunden daherkommt, so fidel an einem vorbeihüpft, dass sie nicht unbedingt nachhaltig beeindruckt, obwohl sie doch Gesellschaftsrelevantes aufgreift und nicht selten gut verpackt.

„Und ich freu mich
Denn ich merke deutlich
Dass diese Situation scheußlich ist
‚Rumhängen‘, das ist wie die AfD
Da macht mein Kreuz nicht mit“

Zu der Ausgabe “Gesammelte Werke” von Jack London beim Anaconda Verlag


Die gesammelten Werkausgaben von Anaconda sind ja manchmal kleine Mogelpackungen – wo es bei Schriftstellern wie Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Franz Kafka und Heinrich Heine durchaus möglich ist, alle Hauptwerke in einem Band zu versammeln, wird man bei Friedrich Nietzsche, E.T.A. Hoffman, Mark Twain oder Stefan Zweig eher stutzig werden, wenn ein Band ihr Hauptoeuvre fassen soll (auch wenn speziell die Ausgaben von Hoffman und Zweig dennoch sehr zu empfehlen sind). Ähnlich verhält es sich mit Jack London, der eine große Anzahl von Romanen und Kurzgeschichten geschrieben hat, die ebenfalls in einem Band schwerlich Platz finden können. Vielleicht wäre es bei solchen Autoren besser von “Ausgewählten Werken” zu sprechen.

Gerade bei Jack London wäre diese Titelwahl noch aus einem zweiten Grund angebracht. Denn dieser Schriftsteller ist nach wie vor hauptsächlich als Verfasser von Abenteuergeschichten, zu Lande und zur See, bekannt; bei seinen Figuren hat man meist Glücksritter und verwilderte Sonderlinge, Wölfe und Halunken vor Augen. An diesem Bild halten auch viele Werkzusammenstellungen fest (zum Beispiel die (dennoch empfehlenswerten) Meistererzählungen bei Diogenes oder eben diese Werkzusammenstellung bei Anacaonda), die ihre „Auswahl“ entsprechend treffen.

Dabei war Jack London ein äußerst vielschichtiger Autor. Erzählbände wie Die Geschichte vom Leopardenmann knüpfen an die phantastischen Erzählungen von Edgar Allan Poe an (und es lassen sich erste Anklänge von Science-Fiction darin finden), mit König Alkohol hat London eines der erschütterndsten Portraits eines süchtigen Menschen verfasst, sein Roman Martin Eden ist meiner Meinung nach einer der besten Entwicklungsromane überhaupt, spätere Bücher wie Die Zwangsjacke beleuchteten komplexe existenzielle Situationen (sein letzter Roman Das Mordbüro kombiniert dies wiederum mit phantastischen Elementen) und seine politischen Essays setzten sich mit den damals aktuellen Problemen der Arbeiterschaft und dem Sozialismus auseinander.

Viele dieser Aspekte werden in Werkzusammenstellungen unterschlagen und das sollte zumindest bekannt sein. Warum ich diese Werkzusammenstellung trotzdem empfehle? Zum einen, weil sie für eine Einband-Werkausgabe wirklich sehr leser*innenfreundlich ist: kein zu dünnes Papier, trotzdem nicht zu schwer und die Texte sind nicht auf die Seiten gequetscht, sondern werden in einer guten Schriftgröße und mit gutem Zeilenabstand präsentiert; auch das Wort- und Sacherklärungsregister am Ende ist hilfreich. Und zum anderen, weil sie für all denjenigen, die Jack London als Abenteuerschriftsteller schätzen, tatsächlich die besten Stücke versammelt.

Der Inhalt deckt sich dabei fast komplett mit der ebenfalls bei Anaconda erschienenen vierbändigen Schuberausgabe Jack London – Romane und Erzählungen. Enthalten sind die beiden Romane Wolfsblut und Ruf der Wildnis, in denen ein Wolf bzw. ein Wolfshund der Protagonist ist, sowie der großartige Roman Der Seewolf über den rauen, egomanischen Haudgegen Wolf Larsen (quasi ein reflektierter Captain Ahab). Dieses Buch, eine Auseinandersetzung mit der Figur des übermenschlichen, unantastbaren, nihilistischen Charakters, wird nach wie vor von vielen unterschätzt, die es nicht gelesen haben; es besitzt eine große philosophische Dimension. Zuletzt dann noch eine Auswahl von vierzehn Nordland-Storys, in denen die pure Lebensnähe, die Londons Abenteuer-Erzählungen nach wie vor lesenswert macht, an jeder Ecke spürbar wird.

Jack London war ein intelligenter Autor mit hohen ästhetischen Ansprüchen, nur verabscheute er die reine Schöngeistigkeit. Das Leben, um das Leben musste es gehen; und nicht um das Leben der Hochgeborenen oder Wohlbetuchten. Sondern um das Leben, das sich mit der Natur und mit dem Tod jederzeit auseinandersetzt. „Der Mensch ist gemacht, damit er lebt; nicht damit er existiert. Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, daß ich sie zu verlängern suche. Ich werde meine Zeit gebrauchen“, schrieb London. Seine Werke sind ein Versuch, das Leben in die Literatur zu bringen, vom Unbarmherzigen und Menschlichen zu erzählen. Das gelang ihm des öfteren und es gelingt ihm auch in den Werken dieser Ausgabe. Und auch die Unterhaltung wird dabei nicht zu kurz kommen.

Eine letzte Empfehlung noch zu Jack London: wer sich mit dem Autor etwas auseinandersetzen will, der sollte sich Wilde Dichter: Die größten Abenteurer der Weltliteratur zulegen.

Ein offener Brief an Herrn Gauland


Zitat Alexander Gauland: “haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.” (In einer Rede am 02.09.2017, Videolink)

Lieber Herr Gauland,

da Sie so dreist sind, kurz vor der Wahl (und überhaupt!) solche Aussagen zu tätigen, wird es Sie sicher nicht stören, wenn ich kurz dazu Stellung beziehe.

Sie verweisen in Ihrer Rede darauf, dass ja auch die Briten und die Franzosen stolz auf ihre Anführer, ihre Soldaten seien – warum also nicht wir Deutschen!? Vergessen wir einmal ganz kurz (obwohl Sie es anscheinend wirklich vergessen haben oder komplett vergessen wollen), dass viele Soldaten der deutschen Wehrmacht an zahlreichen Massenerschießungen und anderen Kriegsgräueln beteiligt waren und einem Regime gefolgt sind, welches grundlos Nachbarländer überfallen, besetzt und teilweise auch ausgeplündert hat – das allein sollte schon ausreichen, ein Wort wie Stolz erst gar nicht in den Mund zu nehmen; vor allem im Nachhinein.

Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, ist stolz darauf zu töten – wahrscheinlich verdienen manche Soldaten unser Mitleid und unseren Beistand, weil sie Dinge erleben mussten, denen sie psychisch nicht gewachsen waren. Aber worauf sollte jemand stolz sein, der andere Menschen über den Haufen schießt? Was hat er vollbracht? Im besten [sic!] Fall war er gezwungen, so zu handeln (oder glaubte es, denn auch darüber lässt sich streiten).

Es soll hier nicht unter den Tisch gekehrt werden, dass die Verbrechen, die britische Soldaten z.B. in Teilen Afrikas oder die französischen Soldaten z.B. in Algerien begangen haben, ebenfalls abscheulich waren. Aber wenn die französische oder britische Bevölkerung/Nation auf diese Momente ihrer Geschichte stolz ist, ist das kein Grund, zu sagen: dann dürfen wir ja auch! Dann ist es viel, viel wichtiger zu sagen: ich falle auf diese Glorifizierung nicht mehr herein. Für mich gibt es nichts, was an den brutalen Episoden der Vergangenheit herrlich ist oder ein Gefühl wie „Stolz“ rechtfertigen kann.

Wie viele andere Menschen haben Sie, Herr Gauland, anscheinend die Zäsuren nicht begriffen, die Ausschwitz, die Gulags und die zwei Weltkriege (und Vietnam etc.) darstellen. Es hat sich ein Bewusstsein entwickelt, dahingehend, dass Krieg im Zeitalter unserer technischen Mittel endgültig ein Wahnsinn geworden ist, der auf jeden Fall und zu jederzeit verhindert werden muss. Und das Soldat*innen, die sich an Angriffskriegen beteiligen (müssen), keine Helden*innen sind (und es, rückblickend betrachtet, nie waren), sondern Schlachtvieh oder Mörder*innen – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. (Man könnte höchstens darüber diskutieren, inwiefern Krisensicherungen und Friedenprozesse durch Militärpräsenz unterstützt werden können, etc.). Es geht mir nicht darum, irgendeinen Soldaten oder eine Soldatin zu verurteilen – es geht um die Realität, an der Sie sich offenbar vorbeiflüchten wollen in einen sinnlosen Kampf um die Deutung der Vergangenheit, die bitte schön anders in die Gegenwart hineinstrahlen soll. Eine solche Umdeutung würde an den gegenwärtigen Gegebenheiten derweil auch nichts ändern, da muss ich Sie enttäuschen.

Ich betrachte die heutige, aufgeklärte Position gegenüber der deutschen Vergangenheit (auch gegenüber den Taten der deutschen Soldaten im 2. Weltkrieg) nicht als Stillstand oder Rückentwicklung, sondern als Evolution. Als einen Schritt hin zu einer Welt, in der wir vor jedem bewaffneten Konflikt zurückschrecken, weil wir wissen, welch grauenhafte Dynamiken und Auswüchse er mit sich bringt; kein menschliches Wesen, das aktiv an einem Krieg teilnimmt, hat irgendetwas davon. Die Protagonist*innen von Kriegen zu verherrlichen, führt weg von der zukunftsweisenden Idee, das Krieg keine Option mehr sein darf.

Sie sagen, wir müssten mit unser falschen Vergangenheit aufräumen – nein, das Gegenteil ist der Fall: die deutschen Nachkriegsgenerationen haben ihre Vergangenheit angenommen (und es hat lange gedauert) und das ist wichtig – die Franzosen und die Briten sollten dies im Übrigen auch tun, mit klarem Blick auf die Verbrechen, die im Namen ihrer Nationen verübt wurden. Womit ich nicht sagen will, dass die deutsche Gesellschaft weiter oder besser ist. Was ich meine: es ist wichtig, sogar unabdinglich, dass wir die Vergangenheit weiterhin in dem Licht sehen, das Sie so unbedingt verrücken möchten. Denn dieses Licht weist einen Weg (wenn auch noch lange nicht den besten oder klarsten) in ein weniger konfliktorientiertes, demütigeres Miteinander.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie stolz darauf, dass junge Menschen ausgeschickt wurden, um zu töten. Dann sage ich Ihnen: ich werde mich nicht von einem alten Idioten wie Ihnen irgendwo hinschicken lassen und zusehen, wie Sie die mühsame Aufarbeitungsarbeit von Friedensaktivist*innen zerstören. Und ich hoffe, dass viele Leute vor der Wahl noch begreifen, dass jemand, der ernsthaft propagiert, dass man auf Leute, die zum Töten entsandt wurden, stolz sein soll, nicht für irgendetwas steht, dass man im 21. Jahrhundert – in dem genug schwere Aufgaben auf uns zukommen (Klimawandel, Digitalisierung, neue Definition der Arbeit, Kolonialismus-Aufarbeitung, Globalisierte Gesellschaften) – noch vertreten kann.

Wenn Sie unbedingt auf jemanden stolz sein wollen, dann seien Sie es auf die Menschen, die in Deutschland jeden Tag für kleine Löhne alte Menschen betreuen, auf Kinder aufpassen oder diese unterrichten, die Integrationsprogramme leiten oder sich ehrenamtlich für Kultur, für Minderheiten und Bildung und gegen Hass und Diskriminierung engagieren (etc.); auf die Migrant*innen, die unser Wirtschaftswunder mit ermöglicht haben und lange wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden (und es teilweise noch werden) und die trotzdem geblieben sind; seien Sie stolz auf die freiwilligen Helfer*innen, die in den Geflüchteten-Unterkünften helfen; seien Sie, meinetwegen, stolz auf die Soldat*innen, die von der UNO auf Friedenmissionen geschickt werden (wobei auch darüber äußerst kritisch zu reden wäre, da auch diese Einsätze viele Übergriffe und viel Gewalt mit sich brachten). Ob Soldat*in sein eine Sache ist, für die man sich irgendwie rechtfertigen muss, ist etwas, das zu diskutieren wäre und vieles mehr zu diesem Thema wäre zu erörtern.

Aber eins weiß ich: stolz zu sein auf irgendetwas, das Soldaten an Kriegshandlungen je auf diesem Planteten begangen haben, zeugt von Narrheit, Dummheit, Stumpfsinn. Und wenn Ihre Partei dafür steht, mit Ihnen als Spitzenkandidat, dann, entschuldigen Sie vielmals, halte ich sie für unwählbar. Bedenken Sie vielleicht, was Heinrich Heine – den Sie (wiederum dreist) in Ihrer Rede erwähnen, ohne sich anscheinend je mit seiner zwiespältigen Position zur deutschen Kultur auseinandergesetzt zu haben – sagte, hier leicht abgewandelt wiedergegeben: „Eine Kultur, die sich auf Kriege und Gewalt beruft, wie kann sie je etwas anderes hervorbringen als Krieg und Gewalt.“

Sie haben es soweit gebracht mit Ihrer Partei, Herr Gauland, dass man Ihnen zurufen kann, was Thomas Mann an den Dekan der Universität Bonn – und das Naziregime, das ihn protegierte – schrieb (Link): “Deutschland, soll ich beschimpft haben, indem ich mich gegen sie bekannte! Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.” Ich dachte, dieser Tag sei längst gekommen und hoffentlich ist er nicht mehr fern.