Die gesammelten Werkausgaben von Anaconda sind ja manchmal kleine Mogelpackungen – wo es bei Schriftstellern wie Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Franz Kafka und Heinrich Heine durchaus möglich ist, alle Hauptwerke in einem Band zu versammeln, wird man bei Friedrich Nietzsche, E.T.A. Hoffman, Mark Twain oder Stefan Zweig eher stutzig werden, wenn ein Band ihr Hauptoeuvre fassen soll (auch wenn speziell die Ausgaben von Hoffman und Zweig dennoch sehr zu empfehlen sind). Ähnlich verhält es sich mit Jack London, der eine große Anzahl von Romanen und Kurzgeschichten geschrieben hat, die ebenfalls in einem Band schwerlich Platz finden können. Vielleicht wäre es bei solchen Autoren besser von “Ausgewählten Werken” zu sprechen.
Gerade bei Jack London wäre diese Titelwahl noch aus einem zweiten Grund angebracht. Denn dieser Schriftsteller ist nach wie vor hauptsächlich als Verfasser von Abenteuergeschichten, zu Lande und zur See, bekannt; bei seinen Figuren hat man meist Glücksritter und verwilderte Sonderlinge, Wölfe und Halunken vor Augen. An diesem Bild halten auch viele Werkzusammenstellungen fest (zum Beispiel die (dennoch empfehlenswerten) Meistererzählungen bei Diogenes – oder eben diese Werkzusammenstellung bei Anacaonda), die ihre „Auswahl“ entsprechend treffen.
Dabei war Jack London ein äußerst vielschichtiger Autor. Erzählbände wie Die Geschichte vom Leopardenmann knüpfen an die phantastischen Erzählungen von Edgar Allan Poe an (und es lassen sich erste Anklänge von Science-Fiction darin finden), mit König Alkohol hat London eines der erschütterndsten Portraits eines süchtigen Menschen verfasst, sein Roman Martin Eden ist meiner Meinung nach einer der besten Entwicklungsromane überhaupt, spätere Bücher wie Die Zwangsjacke beleuchteten komplexe existenzielle Situationen (sein letzter Roman Das Mordbüro kombiniert dies wiederum mit phantastischen Elementen) und seine politischen Essays setzten sich mit den damals aktuellen Problemen der Arbeiterschaft und dem Sozialismus auseinander.
Viele dieser Aspekte werden in Werkzusammenstellungen unterschlagen und das sollte zumindest bekannt sein. Warum ich diese Werkzusammenstellung trotzdem empfehle? Zum einen, weil sie für eine Einband-Werkausgabe wirklich sehr leser*innenfreundlich ist: kein zu dünnes Papier, trotzdem nicht zu schwer und die Texte sind nicht auf die Seiten gequetscht, sondern werden in einer guten Schriftgröße und mit gutem Zeilenabstand präsentiert; auch das Wort- und Sacherklärungsregister am Ende ist hilfreich. Und zum anderen, weil sie für all denjenigen, die Jack London als Abenteuerschriftsteller schätzen, tatsächlich die besten Stücke versammelt.
Der Inhalt deckt sich dabei fast komplett mit der ebenfalls bei Anaconda erschienenen vierbändigen Schuberausgabe Jack London – Romane und Erzählungen. Enthalten sind die beiden Romane Wolfsblut und Ruf der Wildnis, in denen ein Wolf bzw. ein Wolfshund der Protagonist ist, sowie der großartige Roman Der Seewolf über den rauen, egomanischen Haudgegen Wolf Larsen (quasi ein reflektierter Captain Ahab). Dieses Buch, eine Auseinandersetzung mit der Figur des übermenschlichen, unantastbaren, nihilistischen Charakters, wird nach wie vor von vielen unterschätzt, die es nicht gelesen haben; es besitzt eine große philosophische Dimension. Zuletzt dann noch eine Auswahl von vierzehn Nordland-Storys, in denen die pure Lebensnähe, die Londons Abenteuer-Erzählungen nach wie vor lesenswert macht, an jeder Ecke spürbar wird.
Jack London war ein intelligenter Autor mit hohen ästhetischen Ansprüchen, nur verabscheute er die reine Schöngeistigkeit. Das Leben, um das Leben musste es gehen; und nicht um das Leben der Hochgeborenen oder Wohlbetuchten. Sondern um das Leben, das sich mit der Natur und mit dem Tod jederzeit auseinandersetzt. „Der Mensch ist gemacht, damit er lebt; nicht damit er existiert. Ich werde meine Tage nicht damit vergeuden, daß ich sie zu verlängern suche. Ich werde meine Zeit gebrauchen“, schrieb London. Seine Werke sind ein Versuch, das Leben in die Literatur zu bringen, vom Unbarmherzigen und Menschlichen zu erzählen. Das gelang ihm des öfteren und es gelingt ihm auch in den Werken dieser Ausgabe. Und auch die Unterhaltung wird dabei nicht zu kurz kommen.
Eine letzte Empfehlung noch zu Jack London: wer sich mit dem Autor etwas auseinandersetzen will, der sollte sich Wilde Dichter: Die größten Abenteurer der Weltliteratur zulegen.
Ich rate dazu, die Anakaonda-Ausgaben generell links liegen zu lassen. Es handelt sich ausschließlich um Nach-, bzw. Neudrucke von Werken, deren Frist für Urheberschutz ausgelaufen ist. Das heißt, es sind (zum Teil sehr korrupte) Ausgaben, die mindestens 75 Jahre alt sind. Sorgfältige Edition, kritische Textprüfung oder bei nicht-deutschsprachigen Werken eine adäquate, aktuelle Übersetzung sucht man vergebens. Ich meine, sie sind auch ihren zugegeben kleinen Preis nicht wert. lg_jochen
Dem kann ich nur teilweise zustimmen. Es stimmt, dass der Ancaonda Verlag nicht gerade editorische Höchstleistungen vollbringt; der Verlag hat ein einfaches Geschäftsmodell, spiegelt aber ja auch nichts anderes vor, soweit ich weiß. Aber zum einen braucht es ja nicht immer kritisch-editierte Ausgaben deutscher Klassiker (wenn man sowas haben will, greift man halt auch nicht zu Anaconda, sondern zu Reclam oder Suhrkamp) und ich finde es gut, dass manche Werke z.B. von Stefan Zweig so günstig zu haben sind. Und zum anderen sind alte Übersetzungen nicht immer schlecht (mein Lieblingsbeispiel sind die Shakespeare-Übersetzungen von Schlegel/Tieck; die sind natürlich auch Kunstwerke in sich, was man von Übersetzungen eher selten behaupten kann). Bei Werken wie den Essais von Montaigne würde ich Ihnen zustimmen, dass Neuübersetzungen tausendmal lesbarer und adäquater sind. Ich verstehe also die Vorbehalte und kann sie natürlich auch nicht wirklich entkräften, denn jeder macht seine Erfahrungen und hat seine Ansprüche. Aber ich würde schon davor warnen, leichtfertig alle Verlagspublikationen von Anaconda zu verurteilen (ich verurteile ja auch nicht den Zweitausendeins-Verlag, obwohl er teilweise furchtbare einbändige Werkausgaben herausgibt); lieber sollte man sich kritisch mit den einzelnen Publikationen auseinandersetzen. Die Übersetzungen in dieser Ausgabe sind altbacken, zugegeben. Aber deswegen nicht unbedingt schlecht.