Monthly Archives: April 2018

Zu “Ich ist ein anderer” von Bernhard Albers


Ich ist ein andererWegen der Ähnlichkeiten (z.B. in der Arbeit mit exemplarischen Beispielen), bietet sich bei diesem Buch ein Vergleich mit Joachim Campes 2001 erschienenem „Die Liebe, der Zufall und das Paar“ an. Zwar ist Bernhard Albers Buch mehr eine Sammlung von kurzen, manchmal fast schon streiflichthaften Betrachtungen, während Campes Buch aus längeren, essayistischen Arbeiten besteht, aber beide haben einen sehr ähnlichen Fokus: das männliche Paar, die Schwierigkeiten des Bekennens zum Begehren und zueinander, die Flucht davor.

Campe geht es allerdings um eine detaillierte Analyse der von ihm gewählten Beziehungen, während Albers in drei Kapiteln und fünf Exkursen (nebst Prolog und Epilog) ein Panorama entwirft, in dem die verschiedensten Lebensläufe und Beziehungsmodelle kurz und präzise nachskizziert werden.

Rimbaud und Verlaine, dem Prototyp der leidenschaftlichen Literatenbeziehung, ist das erste Kapitel gewidmet (Nach dem Prolog über Ludwig II und Wagner). Diese Geschichte ist ja in vielerlei Hinsicht exemplarisch, beinhaltet sie doch nicht nur das Motiv der gegenseitigen Inspiration, sondern auch den Topos vom älteren Mann der den genialen und/oder bildschönen Jüngling begehrt, liebt und ihm auch Vaterfigur ist; ein Motiv, das in dem Band immer wieder aufkommt und seit den Zeiten der alten Griechen geradezu ein Archetypus homosexueller Beziehungen ist (und damals sogar institutionalisiert war). Wobei in er modernen Version der exzentrische Jüngling oft den älteren Geliebten in den Ruin treibt oder zumindest in Verhängnisse führt – siehe Oscar Wilde, siehe Verlaine.

In den weiteren Exkursen und Kapiteln, in den u.a. Thomas Mann, Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte im Mittelpunkt stehen, erzählt Albers von verschiedenen Beispielen homosexueller Begegnung und Zuneigung, Entwürfen von Partnerschaft und Liebe, Geschichten von Sehnsucht und Erfüllung. Natürlich spielt der Aspekt der Verheimlichung, des Nichtsagbaren eine große Rolle – viele der vorgestellten Personen konnten sich nie oder nur verdeckt zu ihrem Begehren bekennen. Anhand ihres Werkes dokumentiert Albers oft das Ringen und die Obsession mit dem eigenen Begehren.

Nicht dazu stehen zu können, machte es natürlich umso schwieriger, eine stabile Beziehungsform mit jemandem zu leben und führte zur Flucht in alternative Ausdrucksweisen der Zuneigung und des Begehrens (Verherrlichung und Transzendierung, Umdeutung und Ästhetisierung). Doch Albers erzählt auch davon, wie sich homosexuelle (Zu)neigung und künstlerischer Ausdruck dieser (Zu)neigung – und auch Lebensmodelle, die das Leben dieser Neigung inkludierten – letztlich immer wieder manifestierten und auch immer wieder zu geglückten Lebensentwürfen führten. Obgleich es auch in den letzten Beispielen, bei aller Verbesserung der Umstände und Möglichkeiten, schwierig bleibt.

„Ich ist ein anderer“ ist eine schmale Studie, aber eine gelungene. Wärmstens zu empfehlen an alle, die sich mit dem Topos des homosexuellen Begehrens und der Liebe unter Männern, unter Berücksichtigung vieler exemplarischer Aspekte, auseinandersetzen wollen.

 

Zu Margarete Stokowskis “Untenrum frei”


Untenrum frei

Haben wir die Fesseln der Unterdrückung längst gesprengt, oder haben wir nur gelernt, in ihnen shoppen zu gehen?

Man könnte das ganze Buch von Margarete Stokowski – das in 7 Kapitel unterteilt ist, von denen jedes in sich abgeschlossen ist und als Einzeltext gelesen werden kann – als eine lange, ausführliche, von verschiedenen Seiten beleuchtete Antwort auf eine einzige Frage lesen: Warum Feminismus?

Das wäre selbstverständlich eine stark verknappte Zusammenfassung. Natürlich schleift diese Frage einen Rattenschwanz von weiteren Fragen hinter sich her: Was ist Feminismus? Wie wirken sich feministische Positionen auf das eigene Leben aus, wie stellt sich eine unter feministischen Gesichtspunkten betrachtete Wirklichkeit dar? Inwiefern hängen Feminismus und Gendertheorie zusammen? Ist Feminismus grundsätzlich solidarisch mit allen anderen Anti-Diskriminierungsbewegungen? Was will der Feminismus erreichen?

All diese Fragen bindet Stokowski ein und es wird schnell ersichtlich, dass es ihr nicht um einen Feminismus spezieller Prägung, sondern um Feminismus als Ausdruck und Sammelbegriff einer generellen Unzufriedenheit mit den hierarchischen, determinierten, unverhältnismäßigen & ungerechten Gesellschaftsverhältnissen, Normen und Vorstellungen geht, dessen Hauptanliegen und Ziel die Freiheit beim Ausleben der eigenen Persönlichkeit und der Ausformung der eigenen Identität ist (solange dies nicht die Freiheit eines anderen Individuums oder einer Gruppe einschränkt).

Es geht um die kleinen, schmutzigen Dinge, über die man lieber nicht redet, weil sie peinlich werden könnten, und um die großen Machtfragen, über die man lieber auch nicht redet, weil vieles so unveränderlich scheint. Es geht darum, wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt, und am Ende wird sich zeigen: Es ist dieselbe.

Ich werde nicht müde, Camus zu zitieren, der einmal in seinen Cahiers angemerkt hat, dass alle größeren Konflikte der Menschheit letztlich Kämpfe um Privilegien waren und sind. Noch immer sind die Privilegien auf dem Planeten ungleich verteilt, in jeglicher Hinsicht. Hauptsächlich, weil die Menschen die mehr Privilegien haben nicht bereit sind, einen Teil davon abzugeben, damit irgendwann alle dieselben Privilegien genießen können.

Rebecca Solnit hat in ihrem Buch „Wenn Männer mir die Welt erklären“ eindrucksvoll geschildert, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung immer noch vom anderen Teil unterdrückt wird. Frauen (und als Frauen definierte oder so wahrgenommene Personen jedweden/r Geschlechts/Genderbezeichnung) üben lediglich 10% der Gewalttaten aus, sind aber selbst häufig Opfer von Gewalt, speziell von sexueller Gewalt. Auch in Deutschland hat mindestens jede vierte Frau einmal sexuelle Gewalt erfahren.

Es gibt in Deutschland und generell in Westeuropa vielleicht keine Zwangsheiraten mehr und keine gesetzlich verankerte sexuelle Repression. Aber immer noch sind unsere Systeme und Vorstellungen von repressiven und problematischen Geschlechterbildern durchdrungen. Das beginnt schon in den banalsten alltäglichen Wortverwendungen, wird deutlich in der pornogeprägten Sexualsprache (z.B.: wenn man in vielen Kontexten bei Frauen von schmutzigen, statt schlicht von sexuellen Phantasien spricht), aber letztlich springt uns diese Problematik überall entgegen. Stokowski spricht in einem Kapitel von einer Studie, bei der den Testpersonen Aussagen vorgelegt wurden, die entweder aus Männermagazinen entnommen waren oder von verurteilten Vergewaltigern stammten.

Die Testpersonen waren nicht fähig zu unterscheiden, welche Sätze aus Männermagazinen stammen und welche von Vergewaltigern. Ja, sie fanden sogar die Aussagen aus den Magazinen tendenziell herabwürdigender.

Stokowskis Buch ist aber nicht bloß eine gute Darstellung solcher systemimmanenter Diskriminierungen und Idiotien, sondern auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklungsgeschichte, von der Bravolektüre bis zum Beziehungsalltag als Erwachsene. Die Kapitel beginnen fast immer mit einem Erlebnis aus ihrer eigenen Biographie und sind von solchen Selbstausleuchtungen mal mehr, mal weniger durchzogen. Klug und überzeugend knüpft sie mit Biographischem an größere Zusammenhängen an. Ihre Prosa hat eine coole Dynamik, ist eine bestechende Mischung aus fachlich Gediegenem und genauestens Durchdachtem, tiefergehenden Selbstzeugnissen und hingerotzten und herbeizitierten Klarstellungen. Sie nimmt letztlich keine hohe Warte ein, doziert nicht, sondern begegnet ihren Leser*innen auf Gesprächsniveau, verständnisvoll und unversöhnlich zugleich.

Stokowski spricht davon, wie sie selbst lange nicht glaubte, dass Feminismus wichtig ist oder sich zumindest nicht genauer mit ihm auseinandersetzte. Bis sie begriff, was das mit uns macht, wenn wir die gesellschaftlichen Rollen, in die wir gesteckt werden (auch wenn wir nicht glauben, dass wir uns in ihnen durch die Welt bewegen), nicht hinterfragen. Wenn wir uns nicht mit ihnen auseinandersetzen. Dann gibt es sie trotzdem, dann machen sie trotzdem etwas mit uns.

Wir stecken viel Energie in die Rollen, die wir spielen, weil wir glauben, dass alles eine Ordnung haben muss und so viel anders auch gar nicht geht. Wir geben uns Mühe, die wir oft kaum bemerken, weil sie so alltäglich geworden ist. Und auch, weil es leichter ist, sich an vorhandene Muster zu halten.

Sie spricht über ihre eigenen Erfahrungen mit Sex, Bildung, Sozialgefügen, etc. und schafft es, dabei sowohl die menschliche als auch theoretische Ebene konkret herauszuarbeiten, hervorstechen zu lassen – ein bemerkenswerter Balanceakt, den man ihr als Unentschlossenheit, als Makel ankreiden könnte. Doch dann würde man ignorieren, wie nachdrücklich dieses Buch Dinge auf den Punkt bringt, wie versiert und uneitel es sich innerhalb dieser komplexen Themen bewegt und wie weit es sich an manchen Stellen den Leser*innen öffnet.

Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern aufzuzeigen wirkt manchmal so, als wolle man die Gräben zwischen ihnen vertiefen, obwohl man sie auf Dauer abschaffen will: Ein nerviges Dilemma, aus dem man nicht rauskommt, solange man Probleme beheben will.
Wir müssen zeigen, nach welchen Kriterien sich Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Lebensdauer, Gewalt und Leid verteilen, wenn wir wollen, dass alle dieselben Chancen auf ein glückliches Leben haben – auch wenn oder gerade weil diese Kriterien das sind, was wir auf Dauer abzuschaffen versuchen.

Ja, wir müssen, im Interesse aller, daran arbeiten, dass eine Gesellschaft, in der Gleichberechtigung nicht nur ein Vorsatz, sondern eine verwirklichte, gelebte Realität ist, entstehen kann und das heißt, dass einiges planiert, einiges platt gemacht werden muss. Dass einige Privilegien verschwinden und letztlich alle.

Denn es gibt keine neutrale Sicht auf das Leben, und wir brauchen sie nicht. Wir brauchen Vielfalt – Vielfalt lehrt uns Freiheit.

Margarete Stokowskis Buch hat mir seit langem mal wieder Mut gemacht; etwas in mir angefacht, dass an dieser Welt arbeiten, sie auf positive Weise mitgestalten will. Es ist ein Buch mit vielen Facetten und ich hoffe, ich habe keine von ihnen allzu sehr in der Mittelpunkt gerückt oder unter den Tisch fallenlassen.

Manches hat mich tief berührt, manches schockiert, manches hat meinen Horizont erweitert, manches meine eigenen Gedanken bestärkt. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: am meisten hat mich beeindruckt, wie dieses Buch aufklärerlisch argumentiert, auf theoretischen Ebenen arbeitet und doch durch seine Direktheit, seine Sprache, eben nicht belehrt, sondern kommuniziert, ein Aufruf zum Dialog ist. Aufmerksamkeit erzeugt und nicht nur Wissen.

Solche Bücher braucht es. Bücher, in denen das Abstrakte und das Lebendige zusammenfallen. Die uns Zusammenhänge aufzeigen, Tatsachen vermitteln, die uns aber auch auffordern, in denen wir nicht einfach nur sichere und schweigsame Teilnehmer sein können, sondern die uns mit uns selbst, mit dem Schönen und Schlimmen in uns und um uns, konfrontieren. Bücher, die uns inspirieren.

Sie sagen, dass wir von Hass getrieben sind, weil sie sich wundern, dass da Frauen mal keine Harmonie und Liebe versprühen, sondern Forderungen haben. Aber Wut ist nicht dasselbe wie Hass. Hass will Zerstörung. Wut will Veränderung. Hass ist destruktiv, Wut ist produktiv.

Stokowski zitiert Susan Sontag mit den Worten: „Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.“ Ich glaube, dass Literatur eine Schule des Sehens, des Zuhörens, des Hinhörens und Fühlens sein kann – „Untenrum frei“ hat es mir mal wieder gezeigt, mich darin bestärkt. Genauso wie Stokowski glaube ich daran, dass es wichtig ist

hinter Sätze, die in Stein gemeißelt sind, ein Fragezeichen [zu] setzen.

Dieses Buch setzt ein paar fette Fragezeichen und fügt meist noch ein fettes Ausrufezeichen hinzu.

Zu “Die verborgene Bibliothek” von Alberto Manguel


Die verborgene Bibliothek

Als Diodorus Siculus im 1. Jahrhundert Ägypten besuchte, las er über dem in Ruinen liegenden Eingang der alten Bibliothek den eingravierten Schriftzug »Klinik der Seele.« Vielleicht ist das das höchste Ziel einer jeden Bibliothek.

Nicht viele Lektüren gibt es, die Geborgenheit verheißen. Jede begeisterte Leserin/jeder begeisterte Leser kennt und besitzt wohl solche Bücher, die ihn nicht nur unterhalten oder inspirieren, sondern ihr oder ihm das Gefühl geben, gut aufgehoben zu sein in der Welt, nicht allein zu sein mit seinen Gefühlen, Vorlieben, Hoffnungen und Wünschen.

Alberto Manguel – ein Autor, dessen ganzes essayistisches Werk ums Lesen, um die Bandbreite der Erkenntnisse und Freuden die in Begegnungen mit Büchern liegen, kreist – hat einige Bücher geschrieben, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geben, die die Zuneigung, die ich Büchern entgegenbringe, beflügeln und meine Überzeugungen zu Themen wie Humanität und den Glauben an die wichtige Funktion, die das Geschichtenerzählen in unserer Kultur einnimmt, widerspiegeln. Manguel schreibt:

Schon immer haben Bücher für mich gesprochen.

und das ist eine Erfahrung, die ich nur allzu gut kenne. Und die er meisterhaft heraufbeschwören kann.

Sein neustes Buch ist im Prinzip ein Mix aus den Motiven seiner früheren Bücher (gruppiert um einen biographischen roten Faden). Ausgangspunkt ist das Verpacken seiner Bibliothek, die über Jahre, wie er selbst, in Frankreich zu Hause war und jetzt in dutzenden Kartons zwischengelagert wird. Wie es dazu kam und wie dieser scheinbare Abschied dann doch einen neuen Anfang markierte, schildert er in dem Hauptstrang des Textes; der ist sowohl Lebensbilanz als auch, wie immer, ein Bekenntnis zur Schönheit und Kraft der Literatur.

In zehn Abschweifungen greift er außerdem verschiedene Themenkomplexe auf, die immer wieder die Idee der Bibliothek streifen, aber auch andere kulturelle, ethische oder historische Abzweigungen nehmen. Manguel besitzt die erstaunliche Fähigkeit, in derselben Passage ein Thema zu erörtern und eine Geschichte zu erzählen, eine Eigenschaft, die seinen Texten eine ganz bestimmte Art von Faszination verleiht, wie ich sie sonst nur aus den Texten von Jorge Luis Borges oder Joseph Brodsky kenne.

Literatur, Lesen und Schreiben, sind eine einsame und zugleich universelle Angelegenheit. Literatur ist etwas, dass sehr viel mit uns als Individuum zu tun hat und uns doch die Möglichkeit gibt, mit anderen Menschen viel zu teilen. Auch dieser Widerspruch, der die tiefsten Gründe unserer Existenz mitbedingt, ist immer wieder Thema in Manguels Erörterungen.

Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. […] Wir sind verdammt zur Singularität.
Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung.

Auch unsere neuen digitalen Technologien konnten dieses Versprechen (das sie noch deutlicher als alle Technologien vor ihnen zu proklamieren schienen) nicht halten. Auch die Literatur kann nicht für immer die Grenzen zwischen uns und anderen einreißen. Aber sie kann kurze Übergänge, störungsfreie Übertragungen, Austausch und Einbezug ermöglichen, anregen.

„Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt“ schrieb Ilse Aichinger und die Literatur, die Kunst, hat sich dieser Aufgabe von jeher angenommen.

Und die Kunst, speziell die Literatur, hat in Manguel längst einen ihrer wundervollsten Fürsprecher, Verteidiger und Idealisten gefunden. Das neue Werk ist wieder voller wunderbarer Zitate, Anekdoten, Erläuterungen und Anregungen; es erschafft und öffnet wieder Türen und Fenster.

Ich bekenne ganz ohne Scheu: ich habe mich auch in dieses neuste Buch wieder vernarrt, in seine Verbindung aus Menschlichkeit und Gelehrtheit, aus Melancholie und Begeisterung. Lesen Sie Manguel! Es gibt nur wenige Schriftsteller*innen, die einen so gastfreundlich aufnehmen und kaum welche, die man mit so viel Hoffnung und neuen Ideen wieder verlässt.

Ein Jahr vor seinem Tod traf Kafka während einer Kur in Müritz seine Schwester Elli und ihre drei kleinen Kinder. Eines der Kinder stolperte und fiel. Die anderen beiden wollten schon laut loslachen, doch um zu vermeiden, dass sich das Kind für seine Tollpatschigkeit schämte, rief Kafka ihm in bewunderndem Ton zu: »Wie toll du fallen kannst! Und wie gut du wieder aufgestanden bist!« Vielleicht können wir (wenn auch wohl vergeblich) darauf hoffen, dass eines Tages jemand kommen und auch diese erlösenden Worte sagen wird.

Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”


Maschenka

Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.

Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.

Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.

Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.

Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.

Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.

Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.

Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.

Doppelbesprechung zu Paul-Henri Campbells “nach den narkosen” und Ria Endres “nichts überstürzen”


 

besprochen beim Signature-Magazin

Zu Kazuo Ishiguros Nobelpreisrede


Mein 20. Jahrhundert Für mich besteht der Kern der Geschichte darin, dass sie Gefühle mitteilt. Dass sie anspricht, was uns Menschen, über alle Grenzen und Unterschiede hinweg, eint. Rund um das Erzählen sind riesige, glanzvolle Industrien entstanden, die Buchindustrie, die Filmindustrie, die Fernsehindustrie, die Theaterindustrie. Am Ende aber handeln Geschichten immer davon, dass ein Mensch zu einem anderen sagt: So empfinde ich das. Verstehst du, was ich sage? Empfindest du genauso?

In allem, was ich bisher von dem britischen Autor und letztjährigen Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro gelesen hatte, lag eine so ungekünstelte und authentische, souveräne Authentizität, dass ich die Lektüre dieser Rede ein klein wenig fürchtete; könnte doch ein persönliches Dokument das hehre Bild, welches ich von dem Menschen Ishiguro vor dem Hintergrund seiner Werke pflegte, untergraben.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Ich bin nach der Lektüre sogar noch mehr von der Sensibilität, die Ishiguros Narrative meiner Ansicht nach bedingt und ausmacht, überzeugt; vom Feinsinn, den ich in seiner Prosa immer gespürt zu haben glaubte.

Eigentlich schildert Ishiguro lediglich seinen schriftstellerischen Werdegang, allerdings mit dem Augenmerk auf die kleinen Erkenntnisse, die, in einem Moment an ihn herangetreten, die Konzeption und Ideen ganzer Romane zur Folge haben sollten und sich als Wendepunkte erwiesen, die seine Auffassung vom Schreiben und Erzählen grundlegend veränderten.

Schon sein erstes Buch hätte er nicht geschrieben, wenn er nicht 1979 an einem einjährigen Graduierungskurs für kreatives Schreiben teilgenommen hätte. In einer kleinen Stadt, in einer geräumigen Dachkammer hausend, mit wenigen Kursen an der Universität, war er zurückgeworfen auf seine bisherigen literarischen Versuche. Die Auseinandersetzung damit führte schließlich, wie bei einem Fluchtreflex, dazu, dass er zum ersten Mal über Japan schrieb, das Japan seiner Erinnerung, seiner Vorstellung. Es entstand „A pale view of hills“.

„Diese Monate waren insofern entscheidend für mich, als ich, hätte ich sie nicht erlebt, wahrscheinlich nie Schriftsteller geworden wäre. Seither habe ich oft zurückgeblickt und mich gefragt: Was ging damals in mir vor? Woher kam diese eigenartige Energie? Mein Fazit ist, dass es an diesem Punkt meines Lebens um einen notwendigen Akt des Bewahrens ging.“

Das Bewahren blieb ein wichtiges Element von Ishiguros Werk, aber andere Aspekte traten hinzu. Auch die weiteren Erkenntnisse und wie er zu finden ihnen fand, beschreibt Ishiguro eindrücklich und schlicht: Wie ihn ein gewöhnlicher Filmabend auf die Essenz jeder Geschichte brachte: wir wollen, dass es darin um Beziehungen (oder die Abwesenheit von Beziehungen) geht, die etwas bedeuten. Oder wie ein Besuch in Ausschwitz, wo die schrecklichen Todesbauten der Nazis allmählich verfallen, ihn mit der Frage konfrontierte, ob und wie Erinnern in Gesellschaften gepflegt werden sollte. Wie soll man mit solchen Erinnerungen umgehen?
Diese Überlegungen wirkten sich direkt auf die Romane „Never let go“ bzw. „The buried giant“ aus.

Ishiguros Nobelpreisrede ist keine große Poetikvorlesung. Sie ist etwas viel Schöneres, Menschlicheres: eine Erzählung von den Momenten, in denen Kunst ihren Anfang nimmt, in Regungen, die dem Bedürfnis nach Mitteilung, nach Bewahrung, nach Wahrheit und Verstehen entspringen. Ishiguro verleiht dem Akt des Schöpfens menschliche Züge, ohne ihn zu entzaubern.

Ich bin sehr dankbar für dieses kleine Dokument, diese einfache Schilderung eines Lebensweges und eines daraus erwachsenden Selbstverständnisses, in dem Ishiguro im letzten Abschnitt außerdem noch klar Position bezieht, was die neusten Umbrüche und zersetzenden Dynamiken in unserer Zeit angeht, über die er kurz und bündig schreibt:

Wenn wir heute auf die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken, erscheint sie uns als Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Gelegenheiten. Wir haben eine gigantische Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Chancen zugelassen, zwischen Nationen ebenso wie innerhalb von Nationen. […] Die langen Jahre der Austeritätspolitik, die nach der skandalösen Finanzkrise 2008 dem einfachen Volk aufgezwungen wurde, haben uns in eine Gegenwart geführt, in der sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten. Rassimus, ob traditioneller Prägung oder in seinen modernen, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen, ist wieder im Kommen. Vorläufig scheint uns jede progressive, einigende Vision zu fehlen. Stattdessen zerfallen selbst die reichen Demokratien des Westens in rivalisierende Lager, die erbittert um Macht und Ressourcen streiten.

Also: Eine in jeder Hinsicht bereichernde Lektüre!

 

Hier auch noch der Link zu einem Essay, den ich zu Ishiguros Werk verfasst habe, publiziert beim Signaturen-Magazin