Zu Kazuo Ishiguros “Never Let Me Go”


Never let me go Der amerikanische Autor Ford Maddox Ford schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“. Kazuo Ishiguros 2005 erschienener Roman „Never let go/Alles, was wir geben mussten“ hätte ebenfalls gute Chancen, diesem Titel gerecht zu werden. Und doch wiederum nicht, denn es ist eines der schönsten, bejahendsten, ehrlichsten Bücher, die ich kenne.

Vermutlich fallen diese Qualitäten aus gutem Grund zusammen und Ishiguros Geschichte ist letztlich eine innovative und fein ausgearbeitete Variation jener uralten Geschichte von der menschlichen Seele, die ein Inbegriff des Tragischen war, ist und wohl auch immer sein wird. Weil, wann und wo immer Menschen etwas wichtig ist, es ihnen entrissen werden kann. Und entrissen wird, denn, wie Emily Dickinson schrieb: „Time stops for no one“. Oder wie eine Freundin von mir einmal sagte: Wir erzählen uns Geschichten, weil wir wissen, dass wir alle eines Tages sterben werden. Das ist natürlich nicht die Absicht, der Antrieb hinter dem Erzählen, da gibt es viele, vielleicht nur individuelle. Aber irgendwo wissen wir, dass wir beim Erzählen die Dinge überwinden, die wir sonst nicht überwinden können: Raum und Zeit.

Diese Vorrede greift vielleicht schon zu viel vorweg und könnte falsche Vorstellungen erzeugen, vielleicht sogar die irrige Idee, bei diesem Buch handle es sich um eine Schmonzette oder etwas übertrieben Rührseliges. Aber eigentlich geht es mir um das genaue Gegenteil: ich will möglichst wenig vorwegnehmen (vor allem will ich den Leuten nicht meine Lesart aufzwingen) und doch will ich mit allem Nachdruck sagen: lest es! Und bin überzeugt: Es wird euch berühren, wenn ihr es zulasst, es nah an euch heranlasst und ihm ein bisschen Zeit gebt.

Philipp Djian schrieb einmal, dass er, wenn Leute ihn fragen, was sie von Faulkner lesen sollen, diese Frage immer als große Herausforderung empfindet. Weil es ihm wichtig sei, so schrieb er, dass sich die Leute, die Faulkner lesen, „nie mehr ganz davon erholen“ und schon beim ersten Buch begreifen, was für ein wichtiger Autor er ist. Ich hoffe immer, dass die Leute sich nie ganz von der Lektüre von Ishiguros Roman „erholen“. Dass sie begreifen, wie sehr dieses Buch in der Lage ist uns etwas über unsere Existenz, unsere Sehnsüchte und die Gewalt in uns zu sagen.

Kommt das Feuilleton auf Ishiguros Schreiben zu sprechen, taucht immer wieder die Wendung „betörend und verstörend“ auf. Das klingt eigentlich zu harsch, zu heischend, aber letztlich trifft diese Bezeichnung zu. Seine Bücher sind auf sehr unterschiedliche Weise betörend und verstörend, nicht hauptsächlich, aber in einem Maß, das sie ausmacht.

„Never let me go“ ist ein Buch der kleinen, aufgeladenen Gesten und Ereignisse. Es ist außerdem ein Buch der Erinnerung, des Rückblicks, hat aber nichts von der üblichen Zwischenbilanz vieler Romannarrative, was an der besonderen Lage liegt, in der sich die Protagonist*innen von Anfang an befinden. Diese besondere Ausgangslage, die nicht versteckte, aber auch nicht offensichtliche, Stück für Stück offenbarte Prämisse des Romans, will ich hier nicht ausführen – Ishiguro versteht es meisterhaft, die Lesenden von Anfang an behutsam und geschickt in die Atmosphäre dieser besondere Lage einzuführen, ohne Hast, aber auch ohne, dass man sich verloren fühlt.

Am Anfang fühlt man sich in dem Buch geradezu geborgen. Diese Geborgenheit wird im weiteren Verlauf auf eine harte Probe gestellt, aber sie verschwindet nie ganz. Das hat mit Ishiguros Sprache zu tun, der Aufmerksamkeit, die stets darin mitschwingt und ein Auge für die Momente hat, in denen Menschen etwas verbindet, ihr Streben danach und ebenso ein Auge für das Sanfte und Unerbittliche, das in jedem Erleben liegt.
Letztlich bildet diese Geborgenheit den Grundzustand der Existenz ab. Wir glauben wohl solange, dass wir unsterblich sind, bis sich erste Anzeichen und erstes Wissen einstellen, die darauf hindeuten, dass dem nicht so ist. Dass Dinge ein Ende haben, Lebensphasen, und letztlich unser eigenes Dasein, was sich ebenso klar abzeichnet wie es unbegreiflich bleibt.

Um das Tatsächliche und zugleich Unbegreifliche kreist auch Ishiguros Schreiben. Er findet es am Grund seiner Figuren, im Zwiespalt, der in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt liegt; ihren aufgewühlten und doch wie ein Spiegel ausgebreiteten Seelen. Er verleiht diesen seinen Figuren nicht unbedingt ein großes, individuelles Angesicht, aber er versteht es, ganz ohne auktoriale Charakterisierung (wie auch „Was vom Tage übrigblieb“ ist „Never let me go“ ein Roman, der nur aus der Ich-Erzähler Perspektive erzählt wird), ihnen eine natürliche Präsenz zu geben, die sie nicht unverwechselbar macht, aber sehr lebendig werden lässt.

Die Figuren wachsen einem ans Herz, aber noch mehr wächst einem eigentlich das Leben ans Herz, die kleinen Momente, die großen Erinnerungen, die wiederholte und neuentdeckte Schönheit und natürlich die nachwirkenden, unsere Vorstellungen für immer beeinflussenden Erlebnisse, die uns mit Menschen verbinden oder nur ganz allein uns gehören. Ishiguro rückt sie ohne großes Aufhebens immer wieder in den Mittelpunkt. Und dringt damit, mühelos, zum Kern vieler zwischenmenschlicher Beziehungen und den tiefsten Hoffnungen vor, in die wir uns versenken.

Ja, ich glaube wirklich, dass dieses Buch sehr viel aussagt, verhandelt. Aber das tut es so unaufdringlich, en passant und ambivalent, dass ich zögere, genauer zu destillieren, was es im Einzelnen vielleicht mitteilt, andeutet, einzurahmen vermag – mitreißend und ungeheuer sanft.
In jedem Fall: es ist eines der wenigen Bücher, von denen ich überzeugt bin, dass man sie lesen sollte, immer wieder. Es ist kein Buch, das einen für ein bestimmtes Thema sensibilisiert, es ist keine epische Geschichte, keine zwingende Gesellschaftsdurchleuchtung.

Es ist eines dieser Bücher, die man nach dem Lesen an die Brust presst. Die an der Seele klopfen und nicht weggehen, bis man ihnen mit Tränen in den Augen öffnet und sie hereinlässt.

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