„Sie verstehen sich nicht ganz“, heißt es am Ende von einem der vielen kurzen Prosastücke von Judith Keller. Dieser Satz vermag auch ganz gut in Worte zu fassen, worum es in diesen Geschichten oftmals geht: um Menschen die einander und die sich selbst nicht ganz verstehen.
Aus vielen Gründen: Zwischenmenschliches und Ichbeschränktes erweisen sich als ineinander verstrickte Wesenheiten, ganz gleich ob man sich auf den anderen oder auf sich selbst besinnt; die Sprache ist dem Denken ein Haus, aber nicht dem Reden, dem Leben; und wohin kann man sich unauffällig stellen, wenn sich die Welt mit einen Mal als bodenlos erweist?
Die Frau, die in der dritten Etage wohnt, in der die Freunde um den Tisch sitzen, bemerkt manchmal, dass sie viel geschehen lässt, mit ihr aber nichts geschieht. Die Menschen, die immer kommen wollen, sind ihre Freunde geworden.
Im Kern geht es dementsprechend oft um einen Moment oder die Geschichte einer Irritation. Etwas nimmt einen bestimmten Lauf und manchmal zeigt Keller ihre Protagonist*innen als Mitgezogene, manchmal krabbeln sie auch ans Ufer und starren auf den Fluss, ihre Situation wird analysiert, und irgendwo zwischen Dilemma und Epiphanie fallen die Geschichten in sich zusammen oder weisen ins Offene, enden so unentschlossen wie begannen. Jedoch: ein unsicheres Verständnis verdichtet sich in mir als Lesendem.
Auf eine diffuse, leicht entrückte Art und Weise bilden Kellers Geschichten unendlich feine Zwiste und Gefühlsstrukturen ab. Zusätzliche Ebenen, wie intelligente Hinterfragungen von Redewendungen, von Sprache allgemein (die bei Keller immer unter Beobachtung steht und gleichzeitig das Werkzeug ist) oder kritische, politische Ansätze, sorgen für Vielfalt und oft führt die Lektüre in einen Zustand zwischen Schmunzeln, Staunen und nachhaltiger Nachdenklichkeit.
Ich kann „Die Fragwürdigen“ nur wärmstens empfehlen (an dieser Stelle vielen Dank an M. G. für den Hinweis!). Auf der Rückseite dieses Buches steht, dass „mit den Leuten in diesem Buch etwas nicht stimmt. Lernen Sie sie kennen.“ In der Tat, das sollte man tun, es wird einen bereichern. Denn vielleicht stimmt ja auch etwas mit der Welt nicht. Und wenn etwas nicht stimmt mit diesen Leuten, vielleicht stimmt es trotzdem nicht, dass etwas stimmen müsste. Und vielleicht geht es mehr um Stimmen als ums Stimmen. Wie auch immer: sehr lesenswert!