„Wir bissen in die Schaumkronen
versunkener Dichter und Philosophen
glühend waren unsere Gedanken
sie brannten sich Löcher in unsere Worte“
(Simone Lucia Birkner)
Mit diesem Gedichtband habe ich mich nun schon eine Weile beschäftigt. Er lag fast ein ganzes Jahr bei mir herum, ich las darin, immer wieder, konnte ihn aber nie ganz zu fassen kriegen, habe meinen Eindruck zu ihm mehrfach verworfen und neu gebildet.
Aber nie hat er in mir klare Konturen hinterlassen – kaum schloss ich den Band, schwanden auch meine Vorstellungen von den Gedichten dahin, wenig blieb haften. Eine Erfahrung, die ja an und für sich kein Problem darstellt. Gedichte müssen schließlich keine Erwartungen einlösen – im Zweifelsfall sind die Erwartungen verkehrt, nicht die Gedichte. Und sie dürfen auch flüchtig sein, extrem flüchtig.
„Wir aber gehen unter dem Gesang der Vögel
und sammeln Erinnerungen ein
Muscheln, Stöcke und Steine
Die vielleicht überdauern
Oder die wir später woanders verstreuen
Am Horizont ziehen große Schiffe
Mit Hoffnung im Bauch zur See“
(Sandra Blume)
Was mich aber glaube ich von Anfang an störte und das Leseerlebnis dauerhaft untergrub, war der Untertitel: 100 Gedichte der Gegenwart (und zusätzlich das Vorwort). Inwiefern trifft dieser Untertitel auf die Gedichte zu? Das Vorwort beginnt mit der Formulierung: „Gedichte sind Orte, an denen sich Erfahrungen als eine stets zugängliche Gegenwart einprägen.“ Auf den ersten Blick erscheinen dieser Satz und das folgende Vorwort, welches das Gedicht im Prinzip als Kulminationspunkt und Aufbewahrungsinstanz jedweder möglichen Erfahrung sieht, sehr schlüssig zu sein.
Aber im Prinzip ist das Vorwort schlicht ein Herumlavieren, das nichts über die Gedichte dieses Bandes sagt, sondern etwas über Gedichte generell; es verlautbart sehr Hehres und Schönes. Und es sagt ja nichts Falsches, aber es unternimmt keinen echten Versuch, die Gedichte einzuordnen oder genauer zu betrachten und etwas darüber sagen, warum gerade dieses Gedichte das Label „Gegenwart“ (über den vom Vorwort selbst festgelegten Rahmen dieses Begriffs, der aber einfach nicht ausreicht oder nicht einfach ausklammern kann, dass der Begriff Gegenwart auch politisch/gesellschaftlich ist) verdienen (und andere nicht, unausgesprochen).
„Ich liebe dich nicht!
Ich kenne dich nicht einmal!
Und doch fühlt es sich
so an wie Liebe: dieses
Warten auf ein Wort von dir!“
(Hannah Buchholz)
Damit will ich die Gedichte noch gar nicht ästhetisch bewerten, aber es sind schlicht keine Gedichte „der Gegenwart“. Sie haben nichts an sich, das sie als Texte ausweist, dir nur in unserer Zeit entstehen konnten. Ja, sie sind sogar auffällig „zeitlos“ und selbstbezogen, verorten sich weder in irgendeiner lyrisch-literarischen Traditionen, noch haben sie anscheinend theoretische Überlegungen oder Entwicklungen der zeitgenössischen Poesien registriert, beherzigt oder verworfen.
Noch mal: das alles soll nicht die Gedichte als Erlebnisräume und Orte des Ausdrucks schmälern. Aber die Form der Präsentation macht viel aus. Und es schmerzt, dass die Art der Präsentation den Gedichten in diesem Fall einen Bärendienst erweist. So werden bspw. auch, schon in den ersten Zeilen des Vorworts, Petrarca, Baudelaire und Novalis genannt. Das bürdet den Gedichten zusätzlich die unheimliche Last dieser Schatten, des Vergleiches, auf, zumal sie nicht erkennen lassen, dass eine Auseinandersetzung mit Petrarca oder Baudelaire (bei Novalis kann ich mir kein Urteil erlauben) stattgefunden hat.
Ich spiele mich sehr ungern auf und ich bin mir nie sicher, wann es geboten ist, kritische Stimmen anzubringen; meist bin ich mehr an dem interessiert, was in Texten steckt und weniger an dem, was man an ihnen kritisieren könnte (etwas lässt sich immer finden, meiner Erfahrung nach). Hier hatte ich den Eindruck, dass eine Kritik an der Präsentation vonnöten ist.
„und ich hörte
den oktober
mit donnernden fingern
zeichnete er einen blitz
in den himmel
erhob sich die weichheit
und zwinkerte mir zu
schließ die augen
(sieh nicht hin)
und ich schloss die augen
und ich sah“
(Diana Jahr)
Zu den Gedichten: Es gibt bei jeder der Dichter*innen Texte, die mir gefallen haben. Allerdings sind sie dann und wann sehr selbstreferentiell, was mitunter wie eine Manie wirkt, wie eine sich selbst am Laufen haltende Maschinerie. Es gibt auch einige Begriffe, die für meinen Geschmack etwas zu inflationär gebraucht werden: Stille, („Am Schwersten ist es mit der Stille und dem Schweigen – wenn du über sie sprichst, sind sie schon nicht mehr vorhanden. Sie werden nicht herbeigerufen durch das jeweilige Wort, sondern einbezogen durch das Unscheinbarste, das deine Verse nennen.“ Aus einem Brief von Martina Zwetajewa), Herz, Sprache und Wort.
Auch in den Zuordnungen der Bilder, den Metaphern, scheinen sie sich manchmal rein dem Überschwang hinzugeben, fast schon beliebig vorzugehen. Es gibt einige Komposita, schöne darunter, aber sie klingen bei mancher Gelegenheit wie sprachlicher Nippes, also wenig zwingend.
Häufig gibt es ein Du in den Gedichten, das angesprochen wird, was natürlich schön ist, in der Vielzahl aber wie bloße Rhetorik, wie eine Art versichernde Geste wirkt. Überhaupt hätte ich den Gedichten manchmal gern zugerufen: Traut euch doch ein Stück weiter, hüllt euch nicht so stark ins Referentielle, in Wiederholtes und Bewährtes, in die Pose des poetischen Vollführens! Ihr habt die ganze Sprache, von den botanischen Begriffen bis zu den großen Worten Liebe und Tod. Ihr könnt noch so viel mehr erreichen!
Ich will aber gewiss nicht meine Ansprüche an Lyrik gegen diese Gedichte ins Feld führen. Sie dürfen sein wie sie sind, was sie sind. Rückzugsorte, Selbstausdrücke und -bezüge, Ausflüge ins Sprachland, Poesien der wenigen, aber klaren Begriffe.
Das ist mir wichtig, am Ende festzuhalten: ich will diese Gedichte nicht zurechtweisen oder herabstufen, ihnen ein Platz in irgendeiner Hierarchie zuweisen. Dazu habe ich weder die Kompetenz noch Lust noch das Recht. Wichtig war mir, meine Bedenken anzubringen – jeder Dichter und jede Dichterin muss selbst schauen, was an Kritik bei ihr/ihm auf fruchtbaren Boden fällt und mit welchen Anmerkungen man schlicht nichts anfangen kann, weil sie nichts mit der eigenen poetischen Position zu tun haben, sie möglicherweise sogar schlicht verfehlen. Ich bin vielleicht auch nicht der richtige Leser, bewege mich schon zu sehr in anderen Gefilden, kann die Neigung dieser Verse nicht würdigen. Ich hoffe, mir wird dies im Zweifelsfall verziehen.
„Ich werde nach dir suchen
hinter dem Kalk und dem Regen.
Ich werde deine Augen
– die Flüsse des Sommers –
durchqueren, ohne Sprache.“
(Á. M. Perezáno)