Monthly Archives: September 2019

Zu Siri Hustvedts Essays in “Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen”


Hustvedt Erst letztes Jahr erschien von Siri Hustvedt der (von mir bei Fixpoetry besprochene) Langessay „Die Illusion der Gewissheit“, in dem sie sich interdisziplinär und beeindruckend sachkundig mit dem Geist-Körper-Problem beschäftigte (und darüber hinaus vielfach den mangelnden Austausch und die daraus resultierende mangelnde Verständigung zwischen den einzelnen Wissenschaften beklagte).

U.a. ging es ihr in „Die Illusion der Gewissheit“ um das Entlarven und Zurückweisen von Halbwahrheiten, die in unserem Informationszeitalter an jeder Website-Ecke zu haben sind und die meist einen Aspekt des Körper-Geist-Problems gegen alle anderen ausspielen. Sie plädiert für den Zweifel und wendet sich damit auch gegen jene Form von zementierten Weltanschauungen, die aus jenen Halbwahrheiten entstehen, wenn sie einfach auf alle Bereiche des Lebens angewandt werden.

Nun ist mit „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ ein weiterer Band mit verschiedenen Essays erschienen (nach „Nicht hier, nicht dort“, „Being a man“ und „Leben, Denken, Schauen“ bereits der vierte auf Deutsch). Dessen Texte könnte man, grob gesagt, in zwei Themenkomplexe einordnen: Feminismus und Psychologie.

Wie der Titel bereits andeutet, geht es in einigen Texten darum, den männlichen Blick auf weibliche Körper/Kunst/Erfahrungswelten zu untersuchen. Hustvedt geht hier gleichsam gewissenhaft, aber auch kompromisslos vor und macht mit ihren kritischen Diagnosen auch nicht vor der Ikone Susan Sontag und ihren Betrachtungen zur Pornographie halt. Besonders spannend ist ein Essay zu Wim Wenders‘ „Pina“, aber auch der Titelessay weist in einige interessante Richtungen (sehr cool auch ihr Bericht von einem Treffen mit Karl Ove Knausgard).

In der zweiten Gruppe von Texten zeigt sich Hustvedt als versierte Erforscherin und Deuterin der menschlichen Psyche, ihrer Beschaffenheit und ihrer Verletzungen. All ihr Schreiben scheint dabei vor allem auf das Anerkennen der Komplexität menschlicher Existenzen abzuzielen, während sie über ihre Erfahrungen mit Schreibenden in der Psychiatrie und mit Menschen, die Selbstmord begehen wollten, berichtet.

Ich halte Hustvedt für eine der intelligentesten Essayistinnen unserer Zeit – und ihre Intelligenz vereint in einem wunderbaren Maße Wissen mit Vorstellungsvermögen, faktenbasiertes Forschen/Vermitteln mit essayistischer Ideenfindung. Ihr neuster Essayband hat mich wieder einmal überrascht und beglückt, teilweise völlig unvorbereitet auf Felder und in Theorien entführt, mich aber sofort auch für diese Felder und Theorien begeistern können. Bleibt zu hoffen, dass noch viele Essays von Siri Hustvedt folgen werden.

Zu “Alle Zeit der Welt” von Thomas Girst


Thomas Girst

Kann der Mensch neben Kriegen, Zerstörung, Wut, bösen Worten, Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung, kann der Mensch inmitten des Gifts von Nationalismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus, das ganze Gesellschaften zersetzt, nicht doch auch Wunderbares schaffen?

Eine berechtigte Frage. Je nachdem, ob man die Menschheit an der Gesamtheit der entstandenen Kunstwerke oder der Gesamtheit der begangenen Verbrechen beurteilt, ihr Wesen danach skizziert, entstehen sehr unterschiedliche Bilder unserer Spezies. Wir haben erstaunliche Dimensionen an Verständnis und Reflexions- sowie Vorstellungsvermögen entwickelt, sind aber andererseits kaum in der Lage, die Zerstörung unserer Lebensräume und die Auswirkungen unserer diversen technologischen Errungenschaften zu begreifen, geschweige denn zu kontrollieren.

Selbst in der Kardinalsfrage, der Frage nach dem Glück, sind wir, so scheint es, nach Jahrtausenden und Jahrhunderten immer noch gleichermaßen nah dran und weit entfernt von irgendwelchen Rezepten, selbst in unserer hypermedialen und selbstoptimierten Wohlstandsgesellschaft. Virginie Despentes schrieb in ihrem Essayband „King Kong Theorie“:

Alles in unserer Gesellschaft ist auf das kurze Sofortglück angelegt, Espresso, Zucker, Facebook-Likes, Porno, Drogen, Alkohol – immer geht es um Instantbefriedigung. Alle Hormone aber, die für echte Zufriedenheits- oder Glücksgefühle zuständig sind, werden bei diesem Verhalten eher heruntergefahren als angeregt. Die Sofortbefriedigung hindert uns an tieferem Wohlbefinden.

Schnelligkeit, Druck, Optimierung, das sind ein paar zentrale Schlagwörter unserer Zeit – eine Zeit, in der kaum noch jemand Zeit hat. Nicht nur keine Zeit zum Pause machen, Ausruhen, sondern auch kaum Zeit, um in sich zu gehen oder (und damit sind wir bei dem Buch von Thomas Girst angelangt) Zeit, um sich längerfristig und ohne klares Ziel mit etwas zu beschäftigen.

Letztlich sind es aber gerade die langwierigen Prozesse, die Bleibendes oder Beachtliches hervorbringen. Die ganze Geschichte der Naturwissenschaften, immer noch nicht abgeschlossen (und wohl nie zu Ende gehend), ist eine Geschichte der unermüdlichen Beschäftigung mit den immer gleichen Dingen, aus der ständig neue Erkenntnisse und auch neue technologische oder sonstige Erfindungen hervorgingen und -gehen. Gerade in unseren rasanten, von Schlagzeilen überschütteten Zeiten ist es wichtig, derlei zu bedenken

und nicht müde zu werden auf den Unterschied von Information und Wissen hinzuweisen. Erstere steht uns im Technologiezeitalter immer und überall zur Verfügung, Letzteres gilt es sich zu erarbeiten.

In etlichen kurzen Kapiteln nimmt uns Girst mit auf eine Reise zu den Errungenschaften und Entdeckungen, die sich stetigen und langen Prozessen verdanken. Da sind zum einen kuriose bis beeindruckende Kunstwerke, sei es nun der Palais idéal des Briefträgers Ferdinand Cheval, den er über 33 Jahre nur aus den aufgeklaubten Steinen und Muscheln auf seinem Berufsweg baute oder die langen Klang- und Kunstinstallationen in zahlreichen Museen der Welt, und zum anderen historische und wissenschaftliche Beispiele oder jene von Menschen und Einrichtungen, die sich den langsamen Prozessen verschrieben haben.

Girst trägt sehr viel zusammen und reiht es gekonnt aneinander, türmt es begeistert auf. Mitunter ist es vielleicht ein bisschen viel, was da an Kunst und Wissenschaft, Vergangenheit und Zukunft geballt beachtet und bedacht werden soll, aber diese Fülle macht das Buch andererseits sicher zur einer noch oft zur Hand genommenen Lektüre.

Auf Raumschiff Erde gibt es keine Passagiere. Wir sind alle Teil der Crew.

Die Fülle der Beispiele weiß jedenfalls zu überzeugen und ebenso die Botschaft. Ich habe mich beim Lesen öfters an Alessandro Bariccos „Die Barbaren“ erinnert gefühlt, in dem er von einem Paradigmenwechsel in der Moderne berichtet, während dem die Epoche der sich vergewissernden, sich versenkenden Erfahrung, sich zeitnehmenden Beschäftigung, durch die Epoche des Spektakels abgelöst wurde.

Girst versöhnt in seinen kurzen Geschichten und Essays beide Epochen ein wenig miteinander, plädiert für ihrer beider Errungenschaften, beschwört die Lesenden aber, aufmerksam zu sein für die Schönheit und allgemein die Idee langer Prozesse, sich nicht nur auf schnelle Erfolge und nahe Ziele einzuschießen, sondern zu lernen vom Gang der Dinge, von den Mühen und Freuden unserer Vorgänger*innen, von den Perspektiven, die sich uns bieten, wenn wir nicht nur auf uns und unsere naheliegenden Wünsche schauen, sondern den Blick heben und uns selbst dabei zurücklehnen, einmal einkehren in die Zeit, die wir haben, die uns bleibt, die uns niemand nehmen kann, außer wir selbst.

Wer Bäume setzt, obwohl er weiß, dass er nie in ihrem Schatten sitzen wird, hat zumindest angefangen, den Sinn des Lebens zu begreifen.

Zum 70. Geburtstag von Bruce Springsteen


Springsteenborntorun2 zu finden auf Fixpoetry

Zum dritten Band der Jandl-Werkausgabe


dritter band jandl Der dritte Teil der Jandl-Werkausgabe enthält mit „die bearbeitung der mütze“ einen der vermutlich besten Gedichtbände des Wiener Autors. Hier findet sich nicht nur das wunderbare Langgedicht „183 Fahren für Rottweil“, sondern auch der programmatisch wie poetisch herausragende Zyklus „der gewöhnliche rilke“, mit so bekannten Gedichten wie „rilkes schuh“:

„rilkes schuh
war einer
von zweien

jeder schuh rilkes
war einer
von zweien

rilke in schuhen
trug immer
zwei

wade an wade
stand rilke
aus den beiden schuhen heraus“

In dem ganzen Zyklus, im ganzen Gedichtband, probt und vollführt Jandl mit verschiedensten Mitteln einen Stil zwischen Provokation und Brillanz, für den er schon in früheren Bänden bekannt war, den er aber hier auf enervierende bis vorzügliche Art und Weise noch einmal ausbaut. Kritisch klopfen seine Verse das Sprachliche ab und sind doch selbst Kunstwerke einer ausgereizten Sprachlichkeit (zuzüglich einer ebenso ausgereizten graphischen Anordnung von Sprache).

vorvorvorvorvorvorvorvorhang
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vorvorvorvorvorhang
vorvorvorvorhang
vorvorvorhang
vorvorhang
vorhang

Dabei geht er ebenso spielerisch wie gewissenhaft vor – ja, das Absurde und die sprachliche Prägnanz kommen in seiner Dichtung immer wieder aufs Erstaunlichste zusammen, sorgen für Transzendenz und Unterhaltung in verschiedenen Kombinationen, manchmal in Form von feinen Banalitäten, manchmal in Form von grotesk-verstiegenen Konstrukten.

Kurzum: auch dieser dritte Band hält einiges bereit für jede*n Freund*in von ernsten Sprachspielereien, Lyrik von absurd bis zwingend, mit kritischen Ansätzen nebst unterhaltsamen Ausformungen. Ein Jandl-Gedicht kann man erforschen oder einfach nur bestaunen, gleichermaßen. Hier gibt es viele wunderbare, reizvolle Stücke, aus denen, wie bei jedem guten Gedicht, die Frage hervorscheint: wer sind wir eigentlich, wir, die Sprechenden, die Lesenden, die Denkenden?

du bist nicht hier
du bist gewiß nicht hier
wo du bist
mußt du selbst herausfinden
vorausgesetzt du mußt
herausfinden wo du bist
hier bist du keinesfalls
hier sind ausschließlich wir
hundertdreiundachtzig buchstaben

 

Zu Ali Smiths “Von Gleich zu Gleich”


Ich weiß noch, wie ich das erste Mal ein Buch von Ali Smith las, kann mich gut an meine Begeisterung erinnern. Es hieß „Girl meets boy“ und war eine moderne Fassung/Variation des Mythos von Iphis (und Teil einer ganzen Reihe mit modernen Versionen zu einigen antiken/klassischen Mythen und Geschichten – auch sehr lesenswert ist hier Margarete Atwoods Buch zur Odyssee, in dem Penelope die Protagonistin ist). Ein kleines, tapferes Märchen ist „Girl meets boy“ und gleichsam eine kluge Erzählung über die Zuschreibungen Mädchen/Junge.

Wie bei Sarah Waters sind Smiths Hauptfiguren eigentlich immer Frauen, die Frauen lieben. So auch in „Von Gleich zu Gleich“, der Übersetzung ihres Debütromans „Like“, welcher bereits 1997, zwei Jahre nach ihrer ersten, preisgekrönten Sammlung mit Short-Storys, erschien. Die Protagonistinnen heißen hier Amy und Ash, eine Engländerin und eine Schottin. Ihre zerrissene Liebesgeschichte wird in zwei Teilen erzählt, in denen jeweils eine andere Perspektive zur Geltung kommt.

Der erste Teil ist eine eher ruhige Schilderung der Geschichte zwischen den beiden Frauen, vom ersten Kennenlernen über Schwierig- und Abhängigkeiten bis zum Ausgang ihrer Beziehung. Der zweite Teil ist Ashs Tagebuch, in dem ein ganzes Panorama an Kunst-, Literatur- und sonstigen Referenzen, nebst politischen Kommentaren und persönlichen Einträgen, entfaltet wird, in dem aber auch zahlreiche Lücken des ersten Teils (zumindest teilweise) geschlossen werden.

Alles in allem lässt Smith ihren Leser*innen viel Interpretationsraum und findet schnell zu eine geschickten Erzählton, der das Geschehen lebendig hält, aber viel Raum für Andeutungen und Zweideutigkeiten lässt. Was wirklich zwischen beiden Frauen alles vorfällt, wer wie fühlt und bis wohin manche Andeutung führt, lässt sich so nur bis zu einem gewissen Grad wirklich feststellen – vieles bleibt ambivalent.

Und das ist wohl auch der Reiz dieses Buches, das man bestimmt mehrmals zur Hand nehmen kann, ohne es jemals gänzlich auszuschöpfen. Trotzdem ist es kein übertrieben ehrgeiziges Buch, sondern vollbringt dies Wunder der Unausschöpflichkeit auf kleinstem Raum, im Zuge einer verwinkelten, spannenden, aber nicht überaus komplexen Story. Kurzum: der Roman hält gut die Balance zwischen Ambition und Unterhaltung, eine seltene Glanzleistung.

Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.

 

 

Zu Jonathan Franzens “Das Ende vom Ende der Welt”


Das Ende vom Ende Jonathan Franzen ist das, was man einen streitbaren Intellektuellen nennt. So zumindest präsentierte er sich in seiner ersten Essaysammlung „Anleitung zum Alleinsein“, wo er sich gegen die große Vielzahl der Sexratgeberbücher aussprach und auch ansonsten eine ganze Reihe von entwicklungsskeptischen Texten vom Stapel ließ, die meisten getragen von einem Verlangen nach mehr kritischem Bewusstsein und vielperspektivsicher Wahrnehmung.

Im zweiten Essayband „Weiter weg“ wendete er sich mehr der Beziehung zwischen Leben und Literatur zu, allerdings waren auch hier noch die kritischen Ideale des Vorgängerbandes vertreten – und es finden sich dort bereits ein-zwei Texte über die Thematik, die in „Das Ende vom Ende der Welt“ zum Kernthema avanciert: Umwelt und Natur in hyper-kapitalistischen Zeiten und im Bann der Klimakrise (oder allgemein der menschlich verursachten Ungleichgewichte und Zerstörungen in allen Ökosystemen).

Franzen nimmt dieses Sujet von einer ganz eigenen Warte unter die Lupe: schon seit längerem ist er passionierter Vogelbeobachter und diese Leidenschaft hat ihn rund um den Globus geführt: nach Mittel- und Südamerika, in die Karibik, nach Albanien, Nord- und Südafrika, und sogar in die Antarktis. In etwa 50-60% der Texte in „Das Ende vom Ende der Welt“ berichtet er von diesen Reisen/Expeditionen, wobei er eine gute Balance wahrt zwischen den Schilderungen der Vogelbeobachtungen und den Berichten über die lokalen Gegebenheiten, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen die lokale Vogelpopulation leidet oder die Projekte, durch die sie geschützt wird.

Den Rest der Texte (bspw. ein Essay über das Werk von Edith Wharton, 10 Regeln für Romanautor*innen oder ein kurzes Dokument aus den Tagen nach 9/11) kann man getrost als Gelegenheitsarbeiten bezeichnen. Sie sind allesamt nicht schlecht oder überflüssig, wirken aber zwischen den anderen Texten eher wie Fremdkörper, bleiben ohne Anknüpfungspunkte und entfalten somit nicht ihr volles Potenzial.

Nun klingt ein Buch, in dem es hauptsächlich um Vögel, um die Beobachtung und die Darstellung ihres Überlebenskampfes in einer von Menschen dominierten Welt geht, erstmal nicht nach der spannendsten oder dringlichsten Lektüre, das ist mir bewusst. Dennoch würde ich sehr dazu raten, den Band zur Hand zu nehmen. Denn eben dieser Überlebenskampf und seine Umstände, die Franzen an verschiedenen Orten rund um den Globus schildert, und die Vögel selbst, mit ihrer Vielfalt und Schönheit, sind ein exemplarisches Beispiel für die Natur, die unseren Planeten so reichhaltig werden ließ, wie wir ihn vorfanden, und für die Arten und Weisen und kurzsichtigen Praktiken, mit denen wir diese Natur langsam aber sicher zerstören und uns selbst letztlich die Lebensgrundlagen entziehen.

Franzen zeigt dabei sehr schön auf, dass der Klimawandel hier nicht die einzige Bedrohung ist, sondern lediglich die umfassendste. Das Artensterben (und damit gleichzeitig das Sterben der Ökosysteme) – sei es nun bei Fischen oder Vögeln, Säugetieren oder Insekten – hat vielfältige Ursachen. Oft sind es Praktiken, zu denen schon Alternativen existieren, die sich nur endlich durchsetzen und/oder die gesetzlich verankert werden müssten.

Und lesenswert ist das Buch auch deshalb, weil Franzen es schafft, die Umweltthematiken nicht selten mit menschlichen Geschichten zu verbinden, ganz gleich ob es dabei um ein Ehepaar geht, das ganz allein einen großen Naturschutzpark aufbaut, um Menschen in den nordafrikanischen Ländern, die nicht verstehen, warum man Zugvögel nicht tonnenweise vom Himmel schießen sollte oder um seinen verstorbenen Patenonkel und die Geschichte, wie er dank ihm und einer heimlichen Liebe zu einer Reise in die Antarktis kam.

Nicht jede/r Leser*in wird etwas mit Franzens Vogelenthusiasmus anfangen können und das erschwert natürlich hier und da die Lektüre, auch ich tat mich teilweise schwer. Doch ich muss zugeben, dass ich seit der Lektüre einen frischen Blick auf mein natürliches Umfeld (soweit es in der Stadt existiert) gewonnen habe. Ich sehe wieder genau hin, wenn da etwas (abgesehen von den Menschen, die ich sofort als Personen wahrnehme) in meiner Nähe lebt, sich bewegt und an diesem unglaublichen Schauspiel teilhat, das den ganzen Planeten umspannt (es auf kleinstem Raum verkörpert). Oder besser gesagt: mehreren Schauspielen: Natur allgemein, heimisches Ökosystem, Evolution.

Franzens liebevolle Art, Vögel zu beobachten, zu unterscheiden und zu beschreiben, hat dieses neue Bewusstsein in mir angestoßen und ich glaube, dass es ihm darum auch geht: um mehr Empathie für die Natur, nicht nur aufgrund von wissenschaftlichen Fakten, sondern aufgrund konkreter Schönheit und Lebendigkeit. Die Menschheit muss diese Erde wieder als Ort vielgestaltigen Lebens begreifen, denn ohne dieses Bewusstsein, werden wir nie begreifen, was wir im Begriff sind zu verlieren, bevor es zu spät ist – für die Vögel und für uns.