Monthly Archives: November 2019

Zu “Mardi und eine Reise dorthin” von Herman Melville


Mardi oder die Reise dorthin Herman Melvilles „Mardi“, zu seinem zweihundertsten Geburtstag bei Manesse neu aufgelegt (vorher 1997 erstmals in der ACHILLA-Presse), erschien ursprünglich zwei Jahre vor „Moby Dick“ und ist wohl das einzige von Melvilles Werken, dass es an Umfang und Kühnheit mit seinem Meisterwerk aufnehmen kann.

Gleichsam stellt es auch eine Art Vorarbeit zu „Moby Dick“ da, einen Übergang zwischen den launig-abenteuerlichen, stark autobiographischen Südseeeskapaden seiner beiden früheren Romane „Typee“ und „Omoo“ (für manche Interpret*innen ist „Mardi“ eine umfangreichere und ausgefeiltere Version von „Typee“) und der philosophisch-unterlegten Stilvielfalt von „Moby Dick“. Melville selbst schrieb im Vorwort:

„Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann.“

Inhaltlich ist das Buch im Prinzip eine einzige große Fabelei, ein Beispiel für jenes unbändige Erzählen, das meist mit den frühen Zeiten des Romans und/oder mit einigen frühen Beispielen amerikanischer Literatur assoziiert wird, bspw. mit Miguel de Cervantes „Quijote“, den Werken von Francois Rabelais und Laurence Sterne, bzw. Walt Whitmans „Grashalme“ oder Edgar Allen Poes einziger Roman „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“.

Zwar beginnt das Werk noch harmlos, mit einem Walfänger und einer Flucht, doch schon nach etwa hundert Seiten fängt die Handlung an, sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit kontinuierlich selbst zu überrumpeln, abzuschütteln. Zahllose Charaktere und unzählige Schauplätze tummeln sich auf den folgenden sechshundert Seiten und in jeder seiner 169 Szenen ist das Buch schon auf dem Sprung zur nächsten. Neben größeren philosophischen Abschweifungen ergeht sich das Buch hier und da auch in satirischen Einlagen, Sagen- und Märchenkosmen werden aufgeworfen und wieder eingestampft, alle paar Seiten eine neue Wendung, beseelt von allerhand.

Es gibt wenige Bücher, mit denen man wirklich eine Reise ins Ungewisse, Unentdeckte, teilweise ins Unergründliche antreten kann, aber „Mardi“ ist eines dieser unbändigen Literaturereignisse, die einen daran erinnern, das dem Erzählen eigentlich keine Schranken gesetzt sind und den Erzähler*innen bis heute alle Mittel, von Willkür bis zu Psychologie, zur Verfügung stehen. Melville schöpft grandios aus dem Vollen, dennoch ist das Buch streckenweise auch eine Zumutung, eine schillernde und beeindruckende, voller Pathos, der heute undenkbar wäre, aber gerade deshalb eine gewisse Anziehung besitzt, wenn man sich darauf einlässt.

Großartig und auf jeden Fall das Anmerkungs- und Fußnotenverzeichnis, das das Buch erst zur Gänze für heutige Leser*innen zugänglich macht. An die 600 Fußnoten hat der Übersetzer Rainer G. Schmidt dem Werk beigefügt, die Begriffe erklären und Spekulationen zur Lage von Orten beitragen – und vieles mehr. Mit einem solchen Kompass kann man sich getrost auf das Abenteuer einlassen!

Zu Lukas Bärfuss “Stil und Moral”


Stil und Moral„Die Freiheit des Dichters, sein Spielraum, beginnt erst in der Fügung der Sätze. Im Gegensatz zu den Buchstaben und den Worten ist ihre Abfolge durch nichts festgelegt […] Die Freiheit des Dichters liegt also nicht in der Konstruktion, sondern in der Abfolge. So, wie niemand über die Motorik gebietet, die für einen Schritt notwendig ist, aber entscheiden kann, wohin er seine Füße setzen will, bestimmt auch der Dichter nicht über die Elemente, sondern über ihre Reihenfolge.“

Der Band mit Essays des diesjährigen Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss gehört zu dem Bemerkenswertesten, das in dieser Gattung in den letzten Jahren gelesen habe. Das liegt auch an der Bandbreite der thematisierten Bereiche, aber vor allem an der zu gleichen Teilen eigensinnigen und zugänglich-nahbaren Atmosphäre von Bärfuss-Stil. Die Texte schlagen meist schon zu Anfang einen ziemlich klaren Weg ein und öffnen sich doch immer wieder zu erstaunlichen Ansichten und Aussichten hin, beginnen mit ihrer Argumentation erst manchmal auf den letzten Metern, in denen sich das zuvor Geschilderte aber auf äußerst gelungene Weise verdichtet.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die, so wird nach und nach klar, nicht nur Rubriken darstellen, sondern auch eine Dramaturgie, die zwar nicht im Vordergrund steht, aber dennoch ein zusätzliches Narrativ erschafft. Im ersten Abschnitt sind Texte mit autobiographischem Hintergrund versammelt – darunter eine irritierend-einnehmende Erzählung über Masken, die sich gegen Ende in eine mögliche zivilisatorische Diagnose verwandelt.

Im zweiten Abschnitt befinden sich ausschließlich Texte, die sich mit einem literarischen Werk oder einem Schriftsteller auseinandersetzen, in unterschiedlicher Länge und Intensität. Die autobiographische Note des ersten Abschnitts ist auch hier noch in einigen Texten sehr präsent, auch in einem großartigen Text über Kleist. Klug sind auch Bärfuss kurze Überlegung zu Brecht

„Daher rührt unser Unbehagen, wenn wir heute Brechts Stücke lesen. Er glaubte, die Veränderung sei für den Menschen ein Vergnügen. Für uns hat sie jeden Zauber verloren. Der Kapitalismus hat längst begriffen, dass sich alles ändern muss, damit alles bleibt, wie es ist. Wir transformieren uns von einer Stunde auf die andere, ohne Folgen. Alles wird anders, nichts ändert sich.“

und zu Max Frischs frühem Roman „Die Schwierigen“ und Frisch genereller Behandlung von Identitätsfragen in seinem Werk.

„Wer die Frage nach der eignen Identität stellt, stellt das Konzept der Identität selbst in Frage. Das Wort Identität bedeutet unteilbar, aber jede Frage öffnet einen Spalt. Denn wer ist es, der sie stellt? Wer oder was kann diese Frage stellen, wenn nicht jener Teil meines Bewusstseins, der offenbar nicht zu diesem ungeteilten Teil gehört, der sich Identität nennt. Die Frage selbst teilt das Subjekt in etwas, das ist, und etwas, das sein könnte.“

Bärfuss tritt in diesen Texten weder als Prediger, noch als Zweifler auf, vielmehr wirken seine Essays wie eine noch nicht ganz abgeschlossene Suche nach einem Startpunkt, nach einem Übergang zwischen Gedanken und Aussage. Er arbeitet dennoch vortrefflich die Kernstücke der jeweiligen Werke heraus, ihre Epizentren, legt die Kante dieser Bücher und Autoren frei, die noch scharf ist (es handelt sich allerdings leider nur um Autoren).

Im dritten Abschnitt drehen sich die Texte um gesellschaftspolitische Fragen und Themen, über Wahlverdruss, Freiheit bis zu einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Realitäten (nebst zweier Oden über Lehrer*innen und Schüler*innen). Dieser dritte Abschnitt mit seinen zunehmend engagierten Tönen, die auch in den Texten der ersten beiden Abschnitte im Nachhinein das Engagement hervorblitzen lassen, bereitet den letzten vierten Abschnitt vor, in dem es noch einmal in drei Texten um die Fragen nach der Verbindung von Moral und Kunst geht.

„Ich sage nur, dass sich die Erfahrung, von der die Dichtung spricht, in kein System bringen lässt. Ein System versucht im Gegenteil jede Erfahrung auszuschließen. Die Erfahrung wiederholt sich nicht, sie ist nicht in die Zukunft transponierbar, sie ist definiert durch das einmalige Auftreten. Was sich wiederholt, schafft keine Erfahrung. Sie lässt sich nicht systematisieren, sie besteht aus dem Unerwarteten, aus dem Unvorhergesehenen.“

Die Bahn der Texte, beginnend beim Eigenen, Persönlichen, über das Abgebildete, Theoretische, hin zur Praxis in größeren Zusammenhängen, die über einen selbst hinausgehen, wird hier im letzten Abschnitt zur Kreisform, hier wird der Schriftsteller (der/die Schriftsteller*in) zu einem gemeinsamen Nenner der drei Abschnitte, der sich aber ständig neu zu allen Aspekten positionieren muss. Jeder Text ist eine ganz eigenständige Positionierung in diesem Sinn.

Kaum einer von Bärfuss Texten ist komplett zu Ende gedacht, es sind Einlassungen, Anstöße, aber sehr gut formulierte und bestechende Einlassungen, die keinen übergroßen Geltungswillen, dafür aber Stoff für jede Menge Gedankenspinnen bereithalten und eine klare Position in einem Thema einrichten, ohne es komplett zu erschließen. Diese offene Dichte macht diese Texte für mich so bemerkenswert und sehr, sehr lesenswert.

Zu “Die drei Leben der Hannah Arendt” von Ken Krimstein


Die drei leben der Hannah Arendt

Sie war ein unabhängiger Geist und daran hat sie immer festgehalten, sich festgehalten. Bis heute sind ihr Werk und ihre Person umstritten. Sie war eine Philosophin, die die Philosophie hinter sich lassen wollte, Essayistin mit einem Hang zur Epik und eine jüdische Intellektuelle, die es sich mit den meisten anderen jüdischen Intellektuellen ihrer Zeit verscherzte. “Am Leben zu sein und zu denken ist ein und dasselbe”, so lautete ihre Überzeugung und sie hat viele Gedankengebäude in ihrem Leben ent- und verworfen, immer auf der Suche nach einer Wahrheit, aber letztlich mehr auf der Suche nach den Konsequenzen, die zu ziehen sind, aus dem, was geschieht – ohne falsche Scheu, ohne metaphysischen Über- oder Unterbau.

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In seiner Graphic Novel “Die drei Leben der Hannah Arendt” zeichnet Ken Krimstein den Weg der großen Denkerin nach, von der Jugend bis zu ihrem Tod. Im Prinzip ist das Buch eine bebilderte Biographie, gespickt mit einigen komischen bis faszinierenden Eigenheiten. Aufgebaut ist es sogar wie eine Autobiographie, denn erzählt wird immer aus der Perspektive von Arendt.

Der Stil des Comics ist der einer schnellen und doch ausgefeilten Bleistiftskizze. Die einzige Farbe, die dann und wann vorkommt, ist Grün; meist als Farbe des Kleidungsstücks von Arendt. Krimstein arbeitet viel mit Zitaten und inszeniert Arendt gerne im Zwiegespräch. Er hat außerdem einen Faible für Namedropping und immer wieder wird Arendt als Teil einer Runde von großen Namen dargestellt.

Darüber hinaus gelingt es ihm, ein sehr anschauliches und einfühlsames Bild von Arendts Leben und Denken zu zeichnen, mit allen Zweifeln und Fragwürdigkeiten. Ihre Obsession für Heidegger ist natürlich bspw. ein nicht ganz unwichtiges Motiv.

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Es wird aber vor allem deutlich, was für eine herausragende Gestalt Arendt tatsächlich war: eine der zentralen Wahrheitssuchenden ihres Zeitalters. Ein Zeitalter des Traditionsverfalls, in dem sich viele noch fester an Traditionen klammerten, während sie nach neuen Wegen suchte, nach neuen Ansätzen, neuem Umgang.

So lässt Krimstein sie am Tag des Kriegsendes, als alle anderen feiern, sagen: “In der Welt ist etwas im Gang, das die Menschen veranlasst, ihre eigene Freiheit zu kannibalisieren, und während sie dies tun, verwandeln sie andere Menschen in eine Deponie.”

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Sehr viel Raum gibt Krimstein der Darstellung ihrer Theorien zu Pluralität und Natalität, zu privatem und öffentlichem Raums. Eichmann und “Die Banalität des Bösen” lässt er, obgleich dieser Punkt natürlich behandelt wird, ein bisschen außen vor. Trotzdem hat man das Gefühl, zum Kern von Arendts Denken vorzustoßen.

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Letztlich ist es ein bemerkenswertes Buch, weil Krimstein ein fesselndes und doch sehr auf Arendts Philosophie eingehendes Portrait gelingt. Wo mancher Biograph vielleicht der Versuchung erlegen wäre, Arendts Leben vor allem entlang der Skandale und vor dem Hintergrund der Shoa und der Liason mit Heidegger zu inszenieren, setzt Krimstein lieber auf eine ausbalancierte und vielseitige Darstellung, die dem Denken ebenso viel Platz einräumt wie dem Leben.

“Aus dem Jenseits spricht Hannah Arendt zu uns: Obgleich das Leben in der Welt der Pluralität und Natalität kein Spaziergang ist, haben wir, wenn wir Auschwitz oder den Gulag oder die Mauer oder Pol Pot oder Gefängnisrevolten wie die von Attica oder der Isis vermeiden wollen, als Gattung keine Wahl, dieses anzunehmen und auszuhalten.

Mit anderen Worten: es gibt keine einzige Wahrheit. Keinen Königsweg des Verstandes, nur einen gloriosen, nie enden wollenden Schlamassel. Der nie enden wollende Schlamassel echter menschlicher Freiheit.”

Zu “Meine deutsche Literatur seit 1945” von Marcel Reich-Ranicki


Meine deutsche Literatur nach Er war nicht nur einer der einflussreichsten, sondern auch einer der strengsten und launigsten Kritiker der BRD, das wird in diesen gesammelten Essays & Rezensionen zur deutschen Nachkriegsliteratur deutlich. Neben exzellenten Darlegungen der Stärken von Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Wolfdietrich Schnurre, Thomas Bernhard u.a., finden sich hier auch einige Beispiele für die überspitze Zunge des Maestros M.R.R. – nicht nur verreißt er ziemlich zwanglos Günter Grass Debüt “Die Blechtrommel” und mäkelt an Uwe Johnson herum, auch manch andere Bemerkung, die durchaus kühn gewesen sein mag, wirkt heute etwas rückständig, etwas spitzfindig.

Man muss nicht Franz Josef Czernins “Marcel Reich-Ranicki, eine Kritik” gelesen haben, um den Doyen der Literaturkritik nach 1945 kritisch zu sehen. Er war ein Meister der Selbstinszenierung und in mancherlei Hinsicht schlicht verbohrt. Dennoch war auch ein sehr bedeutender und aufmerksamer Zeitzeuge und ein in weiten Teilen gewissenhafter Essayist und Kritiker, der sich vielen (nicht selten heute sonst gänzlich vergessenen) Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur widmete und denen hier in diesem Band so noch ein letztes Echo verschafft wird.

Was bleiben wird von der Literatur zwischen 1945-2000, das wird sich in mancherlei Hinsicht erst noch zeigen. Ebenso wird sich zeigen, ob Reich-Ranickis Plädoyers den Widerhall finden, den seine teilweise unnötigen Verrisse fanden, die er spätestens in manchen Momenten im Literarischen Quartett und bei Grass’ “Ein weites Feld” zu genüsslich und spektakulär inszenierte. Er bleibt eine umstrittene Figur – und strittige Dokumente, mit viel Glanz und Genuss, mit viel Tadel und Servilität, Ermunterung und Evokation, sind auch diese gesammelten Schriften, von denen auch beim strengen Aussieben einige Goldkörnchen zurückbleiben.

Zu “Ansichten in stillem Blau” von Barbara Weitzel & Kornelius Wilkens


cover-ansichten-im-stillen-blau Alles begann mit einer Kolumne von Barbara Weitzel in der Berliner Zeitung, in der u.a. ein „Mozzarella“ Firefox auftrat. Dieses kulinarische Browser-Tier ließ den Maler und Graphiker Kornelius Wilkens zu Stift und Pinsel greifen. Das Ergebnis gefiel Weitzel so gut, dass eine längere Kooperation entstand, in der weitere Bilder zu Texten und Texte zu Bildern entstanden (leider erfährt man bei den einzelnen Texten nicht, ob sie auf die eine oder die andere Weise entstanden). Das Ergebnis ist der schöne Bild- und Textband „Ansichten in stillem Blau“. Seinem Namen bekam der Band wohl durch die Verschmelzung aller einzelnen Kapiteltitel: „Ansichten“, „Vom Blau“, „Stille“ und „Andere Ansichten“.

Auf den Doppelseiten ist jeweils ein Bild einem kurzen poetischen Text gegenübergestellt. Nicht selten verhandeln die Texte eine Situation, die auf dem Bild dargestellt wird, manchmal sind sie wie ein Ausschnitt aus einer längeren Geschichte, wie das Fragment einer lange begleiteten Figur. Im ersten Kapitel „Ansichten“ begegnen wir vor allem kleinen Disharmonien, Einschnitten. Über die Nacht heißt es in einem Text:

„Großes – Kummer, Fragen, Reue – hat jetzt seinen Auftritt.

Ein Fluchtauto für solche Fälle gibt es nur in Filmen.“

Wunderbar auch die Ausführungen zu Geschichten:

„Geschichten, die auf einen Misston enden, sind schlechte Geschichten.
Da sind sie wie Musikstücke.

Alle warten

auf den wirklich letzten Ton.
[…]
Geschichten, die zu zart sind, um zu Ende erzählt zu werden, haben es nicht leicht.

Dabei sind sie in der Mehrzahl.“

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Im zweiten Kapitel, „Vom Blau“, dominiert auf den Bildern die Doppelassoziation aus Himmel und Wasser, und in den Texten brauen sich Fetzen von kritisierter Wirklichkeit zusammen, Sätze sind hier wie einzelne Blitze, Entladungen. Die Sprache mäandert mehr, ist nicht mehr so erläuternd und auf klare Konturen aus, wogt, fragt.

„Als man den Himmel noch durchschwimmen konnte ohne Keuchen.

Die Frage, schwerer als zig Hektoliter: Werden die Einzelnen reichen für alle.“

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Im dritten Kapitel „Stille“ weichen die Farben fast vollständig aus den Bildern, neben Grau und Schwarz und Weiß nur noch hier und da ein dunkleres Blau. Die Texte sind wieder näher an den Bildern, verhandeln wieder ihre Motive, machen aus ihnen größere Metaphern, allgemeinere Betrachtungen.“

„Der Raum braucht nicht viel Platz zum Sprechen,
doch er nimmt ihn sich wenn man ihn lässt.“

Im letzten Kapitel „Andere Ansichten“ wird dann in den Texten noch einmal ein besonderer Fokus auf die Figuren gelegt, die in den Bildern erscheinen, deren dezent bunter Stil an das erste Kapitel anknüpft.

„Ansichten in stillem Blau“ hat viele Qualitäten, die Texte sind poetisch, aber auch unbequem, dann wieder meditativ, nachdenklich und verträumt, dann wieder arbeiten sie auf ganz besondere Art und Weise sorgsam die Stimme eines Momentes heraus, den die Bilder liefern.

Gerade für Leute, die mit Poesie etwas fremdeln, ist der Band in seinem Zusammenspiel aus Bild und Text sicherlich ein gutes Geschenk. Man kann sich in ihn versenken, aber auch nur hier und da das ein oder andere Neben- und Miteinander von Wort und Graphik genießen. Fazit: ein Buch zum immer wieder anschauen und lesen und eine schöne Welterkundung mit vielerlei Ansätzen!

Eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele – zu Marko Dinićs “Die guten Tage”


Die guten Tage „Ich wurde bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr dazu erzogen, Muslime, Albaner, Kroaten und Gott weiß wen noch zu hassen – das ist ein Verbrechen, für das niemand eine Entschädigung zahlen wird! Wir können uns schließlich nicht wehren, wir halten die Klappe und fressen die ganze Scheiße, schwenken die Fähnchen und schwören irgendeinem Deppen, dessen Namen wir als Kinder nicht einmal richtig aussprechen konnten, die Treue. Mein Lieber, im Grunde wurden wir für die Ohnmacht gezüchtet!“

Wie schafft man es, aus einer Tirade einen Roman zu machen? Vor diesem Problem steht nicht etwa Marko Dinić – wobei auch sein Debütroman „Die guten Tage“ sich in Teilen wie eine Tirade liest, gegossen in eine Narrativ –, sondern der Sitznachbar seines Protagonisten, mit dem dieser im ersten Teil gemeinsam im „Gastarbeiterbus“ von Wien nach Belgrad sitzt und der ihm unentwegt von seinem Buchprojekt erzählt (wobei unklar ist, ob es dieses Projekt wirklich gibt).

Grund für die Reise ist der Tod der Großmutter (des Protagonisten). Es ist eine Rückkehr nach 10 Jahren in der Diaspora – damals hat der Protagonist Belgrad gerade zu fluchtartig verlassen, ist abgehauen, mit Geld von eben jener nun verstorbenen Großmutter und mit ihrem Ehering, beides gab sie ihm, den Ring bringt er nun auf Anweisung seines Vaters zur Beerdigung zurück.

Im ersten Teil changiert das Buch zwischen aufkommenden und/oder geträumten Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Belgrad – auch u.a. während der Zeit des Bombardements von 1999 – und den Episoden im Bus, die zu großen Teilen aus den Monologen des Sitznachbarn bestehen. Letzterer ist eine markante und doch absonderliche Gestalt und man fragt sich mit der Zeit, ob er überhaupt existiert oder nicht doch eine Art Wahnvorstellung ist, in der der Protagonist seine eigenen Ansichten bündelt und ihnen so mal ab- und mal zugeneigt sein kann, weil er sie selbst nicht verkörpern muss, während er sich im permanenten Selbstgespräch befindet.

In Summa ist das Buch ein Ringen mit der Frage nach der Bedeutung der serbischen Herkunft und aller damit einhergehenden Merkmale – eine Bestandsaufnahme der serbischen Seele, so könnte man sagen. Der verhasste und doch auch bemitleidete Vater ist dabei das Sinnbild für den serbischen Nationalismus, den Kadavergehorsam und die Staats- und Volksverherrlichung, die umso verwerflicher sind, je mehr die realen Verhältnisse im Land den Bach runtergehen und das Auseinanderklaffen von Mythos und Wirklichkeit kaum mehr zu leugnen ist. Kurzum: er steht für alles, gegen das sich ein Mensch, der noch ein Leben haben will, noch andere Hoffnungen und Träume hat, auflehnen muss.

Aber auch der Protagonist, der das Land bereits vor 10 Jahren verlassen hat, kann sich nicht lösen von seiner Obsession mit Serbien und all seine Ausfälle und Überlegungen zur Verkommenheit seiner Familie und den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Indoktrination und der Perspektivenlosigkeit sind zwar einerseits eine Art Weckruf, eine Kampfansage, aber auch eine Rechtfertigung, eine Verzweiflung, ja vielleicht sogar eine Furcht vor dem Anteil, der von dieser Abscheulichkeit in seinem eigenen Selbst vorhanden ist. Ich habe mich an ein Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel erinnert gefühlt (übersetzt von Reiner Kunze):

“kindheit ist das was irgendwann
gewesen ist und aus dem Traum nun hängt
ein faden fesselrest den man
zersprengen kann und nie zersprengt”

Dinićs Erstling weißt eine beachtliche Sprachgewalt auf, die wohl nicht umsonst entfernt an Louis-Ferdinand Céline erinnert (und irgendwo auch, in ihrer Eklatanz und gleichzeitigen Ambivalenz, an Curzio Malaparte). In seinen eigenen Gedanken-Schleifen aus Abscheu und Indifferenz gefangen, bleibt der Protagonist, bei aller Offenheit, eine fast schon undurchsichtige Figur, in der sich verschiedene Dilemmata und Klarheiten mit gleicher Intensität spiegeln. Die Verkommenheit, die er anprangert, ist geschminkt mit Trauer, die Wut, die er loslässt, schlägt auch ein bisschen über ihm selbst zusammen.

Man könnte dem Roman vorwerfen, dass er nirgendwo hinkommt, sich um sich selbst dreht. Aber genau das ist wohl auch der Punkt. Es gibt keinen Ausweg, denn der Protagonist ist nicht gedacht als touristisches Ausflugsziel für Leser*innen, die mal in Serbien einen Entwicklungsroman durchleben wollen. Vielmehr leidet er unter genau jener Ohnmacht, die im ersten Zitat beschrieben wird. Er ringt mit dieser Ohnmacht und findet doch außerhalb von ihr und seinem Ringen wenig vor, das ihm Halt gibt. So gelingt Dinić das außergewöhnliche Portrait einer geschädigten Seele, einer von vielen.

Zu “Der Prozess” von Gisela Friedrichsen


Der Prozess „Die Erwartungen waren übergroß. Es sollte ein historischer Prozess werden, einer von außergewöhnlicher Dimension, ein Mahnmal. Denn erstmals seit dem Ende des NS-Regimes standen wieder Nazis vor Gericht unter dem Vorwurf, allein aus rassistischen Gründen gemordet zu haben oder in solche Mordtaten verwickelt gewesen zu sein. Die Abgründe und das Ausmaß der modernen Hitlerei sollten nun endlich ans Licht der Öffentlichkeit kommen.“

So beschreibt Gisela Friedrichsen im Vorwort die Erwartungen der Medien und gibt gleichsam die (überzogene) Vorstellung der Mehrheit der Bevölkerung, den Prozess betreffend, wieder.

Natürlich will auch sie die Symbolkraft und Bedeutung des Prozesses und seiner Thematik nicht kleinreden, aber ihrer Darstellung ist von Anfang an klar anzumerken, dass sie, als erfahrene Berichterstatterin, schon weiß, dass ein Prozess in manchen Momenten zwar einem Schauspiel gleichen mag, bei dem viel offenbart wird, nicht bloß im Bereich des Verhandelten, aber dennoch ein Gericht kein Verhandlungsort der moralischen oder gesellschaftlichen Debatte ist, sondern der Ort, an dem Beweisführung und Rechtsauslegung stattfinden, mit dem Ziel, einige klar umrissene Anklagen zu be- oder zu widerlegen.

Dies führt sie in ihrem Vorwort aus und schließt nüchtern und bestimmt mit der ebenso klar umrissenen Absicht des Buches:

„Es soll gezeigt werden, anhand welcher Indizien und Aussagen das Gericht zu der Überzeugung gelangte, der Kern des NSU habe aus nicht mehr als drei Personen bestanden, die, zwar nicht ohne Mithilfe, aber doch ohne konkretes Mitwissen anderer, die Verbrechen begingen.“

Nach Eva Menasses Bericht über den Prozess David Irving gegen Deborah Lipstadt (dem sogenannten Holocaust-Prozess), war dies erst meine zweite Lektüre eines Gerichtsprotokolls. Wobei die Bezeichnung Protokoll irreführend ist – wäre das Buch ein Protokoll des Prozesses im engeren Sinne, hätte es wohl nie in Buchform erscheinen können; allein Friedrichsen hatte am Ende der 5 Prozessjahre 80 DinA4 Hefte mit Notizen vollgeschrieben.

Auf den dreihundert Seiten von „Der Prozess“ findet sich mehr so etwas wie die Quintessenz, ein geschilderter Ablauf des Verfahrens, gegliedert nach Jahren und untergliedert in einzelne zentrale Verfahrenspunkte. Zeug*innenaussagen, Stellungnahmen, Einwürfe und Plädoyers werden zwar durchaus wörtlich zitiert, oft werden Aussagen aber subsummiert, Entwicklungen zusammengefasst.

Friedrichsen gelingt ein durchaus anschauliches Portrait des Prozesses und seiner Charaktere, angefangen beim Vorsitzenden Manfred Götzl, den sie vielleicht einmal zu oft lobt und in Szene setzt (der aber wohl ein dankbarer Kandidat für derlei ist), über die Ankläger*innen und Verteidiger*innen bis zu den Zeug*innen. Auch die wichtigen Momente, Umbrüche und Wendungen, hebt sie gut hervor, wobei sie manchen, teils aberwitzigen, aber auch sehr bedenklichen Zeug*innenaussagen vielleicht etwas viel Raum einräumt (wobei gerade derlei natürlich Unterhaltungswert hat).

Auch die Beschreibungen der Schwierigkeiten des Verfahrens – Zschäpes Zerwürfnis mit ihren Verteidiger*innen, die Befangenheitsanträge en masse, die vielen Anträge der Anwält*innen der Nebenkläger*innen – kommen nicht zu kurz. Zusätzlich übernimmt Friedrichsen noch eine reflektierende Funktion, in dem sie immer wieder Fragen zu den gerade gemachten Aussagen aufwirft und auch auf die unbeantworteten von ihnen hinweist.

Wer sich mit dem NSU auseinandersetzen will, den Verbrechen und den Hintergründen, der Entstehung und dem Umfeld, für den wird das Buch wohl eher nicht genug bereithalten, wobei durchaus einiges zutage tritt, vieles kann aber im Prozess nicht genug verfolgt werden. Wer sich aber tatsächlich über den Prozess und seine Hintergründe, seine Ausläufer und die darin angestellten Überlegungen und festgestellten Tatsachen gesammelt informieren will, der wird wohl kein besseres Buch als dieses finden.

Zu Doris Anselms “Hautfreundin”


Hautfreundin „Herr und Frau.
Eigentlich, fällt mir heute ein, sind diese Anredeformeln überhaupt nicht seriös. Im Gegenteil. Sie weisen ständig darauf hin, dass Geschlechtsteile anwesend sind.“

Nach etwas fünfzig Seiten muss ich mich ermahnen, dass auf dem Cover des Buches „Roman“ steht. Denn das erzählende Ich in Doris Anselms „Hautfreundin“ ist so konsistent und tritt so unverstellt und direkt auf, dass man meinen könnte, „Hautfreundin“ sei ein tatsächlicher Erfahrungsbericht, die Autobiographie eines echten Körpers und seines Begehrens, und keine Fiktion.

Ein klassischer Roman ist das Buch allerdings auch nicht, denn statt eine lückenlose Geschichte aufzuführen, besteht das Buch aus längeren für sich stehenden Einzelgeschichten, Episoden im Leben der Erzählerin, die sich von ihrer Jugend über ihre jüngeren Erwachsenenjahre bis zu einem Zeitpunkt im mittleren Alter erstrecken, der als ungenaue Gegenwart Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist (außerdem gibt es noch eine Episode, die in einer technologisch noch weiter entwickelten Zukunft spielt, wobei unklar ist, ob das Szenario der Episode ein Traum, eine Fantasie oder eine wirkliche Vorausschau darstellt). Im Zentrum der Episoden steht meist eine Begegnung, oft sexueller Natur, unterschiedlich aufbereitet.

Den Anfang macht die Episode „Das Wort“, in der die Erzählerin, zunächst nur als Stimme, noch nicht als Körper, über das Wort für ihr Geschlechtsteil nachdenkt.

„Ein Wort, das viel Scham aufgenommen hat, das hundert Jahre oder länger nur flüsternd gesagt wurde, mit niedergeschlagenen Augen, ohne Stolz, ohne Freude, kann sehr schwer sein. Es wird nicht ausgetauscht, weil offiziell ja alles in Ordnung ist mit ihm. Aber es fühlt sich anders an als andere Wörter.“

Natürlich steht diese Reflexion über Sprache nicht zufällig am Anfang und nicht zufällig ist in dieser Überlegung das ganzes Dilemma der weiblichen Lust schon ausgebreitet: wie eine positive Geschichte weiblicher Sexualität erzählen, wenn schon die Begriffe, die Worte, mit Scham behaftet sind und eine Stimmung erzeugen, die lust- und genussfern ist, in der das Unzureichende dominiert, das Schwierige, das einen in die Unzulänglichkeit zwängt, statt Möglichkeiten zu bieten, aus sich herauszugehen?

In den darauffolgenden knapp 250 Seiten hat Doris Anselm genau das versucht. Ihr Buch ist ein Roman über Sex und über Lust, aber vor allem ein Buch, das versucht, die Geschichte einer positiven Selbsterfahrung, als Körper, als Frau, als sexuelles Wesen, zu erzählen. Und für so eine Geschichte eine Sprache zu finden ist schwer. Schließlich gibt es auf der einen Seite nur die pornographische Sprache mit all den männergeprägten Frauenbildern, auf der anderen Seite vor allem die süßlich-schwüle Romantik von Groschenheften und die liberal-verklemmte, komische Erotik von Hollywoodfilmen.

Anselm sucht dazwischen einen Mittelweg, der aber natürlich nicht einfach jenseits der bisherigen Sprachverhältnisse ganz neu beginnen kann. Ihre Sprache hat daher einen leicht wiegenden Touch, der entfernt der glatten Oberfläche von Pop-Romantik gleich und in der Beschreibung von sexuellen Tätigkeiten eine Langsamkeit, die an die Detailfixierung von pornographischen Texten erinnert. Aber nebst diesen Anleihen hat ihre Sprache in vielen Fällen wichtige zusätzliche Qualitäten: sie ist anschaulich, intensiv und geht Risiken ein, probiert aus, und kann in den richtigen Momenten von tiefer Involvierung auf distanzierte Analyse umzuschalten (und umgekehrt).

Manchmal wirkt sie dennoch etwas manierlich, manchmal etwas platt, aber mindestens genauso oft bietet sie überraschende Einblicke, hält feinsinnige Umschreibungen und starke Bilder parat. Gleich im zweiten Kapitel beschreibt die Ich-Erzählerin ihr erstes Mal und auch ihre erste Penetration:

„Dann herrscht eine Zeit lang das Bild von etwas Fremdem in meinem Körper. Es könnte alles möglich sein, es gehört nicht zu mir. Ich atme. Wir sehen uns an und er hält still. Auf dem Himmelsplakat verblasst eine weiße Kondensspur. […]
Da umklammere ich ihn mit den Beinen, und als die weiße Spur vom Himmel verschwunden ist, gehört alles, was in mir ist, mir. […] Wir gleiten umeinander. Ich muss lächeln.“

In dem darauffolgenden Kapitel die spontane Erregung bei einer Begegnung mit einem anziehenden Menschen:

„Irgendwo neben uns zieht ein Drucker seufzend Papier ein. Jemand beendet ein Telefonat und legt auf.
Wir sehen einander in die Augen. Wir stehen da, zwei Erwachsene in ihrer jeweiligen Rolle, und dann dehnt sich der Moment über uns aus, wölbt sich, schillert, zerplatzt.“

Oft sind Emotionen stark vertreten in dieser Sprache. Und das ist auch gut so, denn selbst wenn dergleichen manchmal schwärmerisch oder eben manieristisch rüberkommt, ebnet Anselm damit hoffentlich an einigen Stellen den Weg für nachfolgende Autor*innen, die über Lust schreiben wollen und aus ihren Fehlern lernen, und ebenso von ihren Ideen, von ihren Ansätzen profitieren werden.

Ein weiterer Vorteil der emotionsdurchzogenen Sprache ist (neben der Nähe, die sich zur Ich-Erzählerin als Figur einstellt), dass nicht nur Geschichten von Handlungen erzählt werden (wie es in der klassischen Pornographie meist der Fall ist – Emotionen werden dort lediglich aus den Handlungen abgeleitet), sondern vor allem von Gefühlen, Zuständen, die den Handlungen vorausgehen, ihnen auch widersprechen, sich schnell abwechseln, changieren. Wir erleben Anselms Protagonistin in den unterschiedlichsten Momenten, verschiedensten Lagen, begleiten sie bei geilen Erfahrungen, meditativen Augenblicken und tief hinein in ihre Unsicherheit, z.B. in Gesprächssituationen, mit Reaktionen, die von Wut bis Verzweiflung reichen.

„Wenn du das wirklich glaubst, denke ich, wenn du glaubst, dass ich für etwas, das ich will, zu schade bin, glaubst du in Wirklichkeit, dass es egal ist, was ich will.“

„Damit, dass er mir so gefallen würde, habe ich nicht gerechnet. Ich hatte bloß gehofft, dass er mir genug gefallen würde. Genug, um mir etwas mit ihm vorstellen zu können: etwas Neues, etwas Spezielles, etwas Dunkles. Ich hatte gehofft, dass er für meine Neugier ausreichen würde. Über mich selbst habe ich gar nicht nachgedacht.“

Trotz dieser breiten Gefühlspalette ist das Buch zunächst vor allem die Geschichte eines sexuell erfüllten Daseins, einer von Neugierde und Glück geprägten Lust an Körpern, dem eigenen und den fremden. Erst im weiteren Verlauf und vor allem gegen Ende realisiert die Protagonistin, dass sie Glück hatte mit ihrem Lebensweg, ihren Erfahrungen, und dass die sexuelle Biographie vieler Frauen nach wie vor (und vor allem früher) viel mit den Umständen zu tun hat(te), also damit, an welche Menschen (vor allem Männer) man gerät und was einem passiert, wenn man jemandem seinen Körper anvertraut oder einfach einen Körper hat und von diesem Körper etwas erwartet wird.

Gerade dieser letzte Turn hat mich noch einmal sehr beeindruckt, weil das Buch dadurch beides in sich trägt: Utopie und Realität, Wunsch und Wahrheit. Es wird gezeigt, wie es gehen könnte – und warum es so noch immer nicht läuft, zumindest leicht anders laufen kann. „Hautfreundin“ ist die Geschichte einer Erfüllung, die am Ende in einen Abgrund der Verletzungen und Ängste schaut, dem sie, wie durch Zufall, entronnen ist. Die ganze Geschichte, so wird am Ende klar, hätte auch in jeder Episode ganz anders aus- und weitergehen (oder auch enden) können (hier scheint durch, wie sinnvoll die Struktur des Buches ist).

„Ich habe mal gehört, dass echte Nächstenliebe meistens holprig daherkommt, wenig elegant, weil jemand, der sie gibt, vorher nicht lange überlegt.“

Anselm ist über weite Strecken eine großartige introspektive Darstellung gelungen. Ich persönlich habe selten eine so intensiv-feingliedrige Schilderung von Begehrensstrukturen gelesen (egal ob von einem Mann oder einer Frau), die aber nicht ins detailgetriebene oder ins erotisch-versessene abdriftet. „Hautfreundin“ ist kein female-friendly Porno, kein neues „Feuchtgebiete“. Es ist ein Buch darüber, wie eine erfüllte Sexualität für jemanden (der/die sie ausleben will), aussehen kann, die Geschichte einer Entdeckung und Eroberung des eigenen sexuellen Terrains. Und ein Buch darüber, wie dieser Wunsch auf verschiedenste Arten mit einer Welt interagiert, kollidiert, verschmilzt, in der wir heute leben (könnten).