Zu Lukas Bärfuss “Stil und Moral”


Stil und Moral„Die Freiheit des Dichters, sein Spielraum, beginnt erst in der Fügung der Sätze. Im Gegensatz zu den Buchstaben und den Worten ist ihre Abfolge durch nichts festgelegt […] Die Freiheit des Dichters liegt also nicht in der Konstruktion, sondern in der Abfolge. So, wie niemand über die Motorik gebietet, die für einen Schritt notwendig ist, aber entscheiden kann, wohin er seine Füße setzen will, bestimmt auch der Dichter nicht über die Elemente, sondern über ihre Reihenfolge.“

Der Band mit Essays des diesjährigen Büchner-Preisträgers Lukas Bärfuss gehört zu dem Bemerkenswertesten, das in dieser Gattung in den letzten Jahren gelesen habe. Das liegt auch an der Bandbreite der thematisierten Bereiche, aber vor allem an der zu gleichen Teilen eigensinnigen und zugänglich-nahbaren Atmosphäre von Bärfuss-Stil. Die Texte schlagen meist schon zu Anfang einen ziemlich klaren Weg ein und öffnen sich doch immer wieder zu erstaunlichen Ansichten und Aussichten hin, beginnen mit ihrer Argumentation erst manchmal auf den letzten Metern, in denen sich das zuvor Geschilderte aber auf äußerst gelungene Weise verdichtet.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die, so wird nach und nach klar, nicht nur Rubriken darstellen, sondern auch eine Dramaturgie, die zwar nicht im Vordergrund steht, aber dennoch ein zusätzliches Narrativ erschafft. Im ersten Abschnitt sind Texte mit autobiographischem Hintergrund versammelt – darunter eine irritierend-einnehmende Erzählung über Masken, die sich gegen Ende in eine mögliche zivilisatorische Diagnose verwandelt.

Im zweiten Abschnitt befinden sich ausschließlich Texte, die sich mit einem literarischen Werk oder einem Schriftsteller auseinandersetzen, in unterschiedlicher Länge und Intensität. Die autobiographische Note des ersten Abschnitts ist auch hier noch in einigen Texten sehr präsent, auch in einem großartigen Text über Kleist. Klug sind auch Bärfuss kurze Überlegung zu Brecht

„Daher rührt unser Unbehagen, wenn wir heute Brechts Stücke lesen. Er glaubte, die Veränderung sei für den Menschen ein Vergnügen. Für uns hat sie jeden Zauber verloren. Der Kapitalismus hat längst begriffen, dass sich alles ändern muss, damit alles bleibt, wie es ist. Wir transformieren uns von einer Stunde auf die andere, ohne Folgen. Alles wird anders, nichts ändert sich.“

und zu Max Frischs frühem Roman „Die Schwierigen“ und Frisch genereller Behandlung von Identitätsfragen in seinem Werk.

„Wer die Frage nach der eignen Identität stellt, stellt das Konzept der Identität selbst in Frage. Das Wort Identität bedeutet unteilbar, aber jede Frage öffnet einen Spalt. Denn wer ist es, der sie stellt? Wer oder was kann diese Frage stellen, wenn nicht jener Teil meines Bewusstseins, der offenbar nicht zu diesem ungeteilten Teil gehört, der sich Identität nennt. Die Frage selbst teilt das Subjekt in etwas, das ist, und etwas, das sein könnte.“

Bärfuss tritt in diesen Texten weder als Prediger, noch als Zweifler auf, vielmehr wirken seine Essays wie eine noch nicht ganz abgeschlossene Suche nach einem Startpunkt, nach einem Übergang zwischen Gedanken und Aussage. Er arbeitet dennoch vortrefflich die Kernstücke der jeweiligen Werke heraus, ihre Epizentren, legt die Kante dieser Bücher und Autoren frei, die noch scharf ist (es handelt sich allerdings leider nur um Autoren).

Im dritten Abschnitt drehen sich die Texte um gesellschaftspolitische Fragen und Themen, über Wahlverdruss, Freiheit bis zu einer Auseinandersetzung mit ökonomischen Realitäten (nebst zweier Oden über Lehrer*innen und Schüler*innen). Dieser dritte Abschnitt mit seinen zunehmend engagierten Tönen, die auch in den Texten der ersten beiden Abschnitte im Nachhinein das Engagement hervorblitzen lassen, bereitet den letzten vierten Abschnitt vor, in dem es noch einmal in drei Texten um die Fragen nach der Verbindung von Moral und Kunst geht.

„Ich sage nur, dass sich die Erfahrung, von der die Dichtung spricht, in kein System bringen lässt. Ein System versucht im Gegenteil jede Erfahrung auszuschließen. Die Erfahrung wiederholt sich nicht, sie ist nicht in die Zukunft transponierbar, sie ist definiert durch das einmalige Auftreten. Was sich wiederholt, schafft keine Erfahrung. Sie lässt sich nicht systematisieren, sie besteht aus dem Unerwarteten, aus dem Unvorhergesehenen.“

Die Bahn der Texte, beginnend beim Eigenen, Persönlichen, über das Abgebildete, Theoretische, hin zur Praxis in größeren Zusammenhängen, die über einen selbst hinausgehen, wird hier im letzten Abschnitt zur Kreisform, hier wird der Schriftsteller (der/die Schriftsteller*in) zu einem gemeinsamen Nenner der drei Abschnitte, der sich aber ständig neu zu allen Aspekten positionieren muss. Jeder Text ist eine ganz eigenständige Positionierung in diesem Sinn.

Kaum einer von Bärfuss Texten ist komplett zu Ende gedacht, es sind Einlassungen, Anstöße, aber sehr gut formulierte und bestechende Einlassungen, die keinen übergroßen Geltungswillen, dafür aber Stoff für jede Menge Gedankenspinnen bereithalten und eine klare Position in einem Thema einrichten, ohne es komplett zu erschließen. Diese offene Dichte macht diese Texte für mich so bemerkenswert und sehr, sehr lesenswert.

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