Monthly Archives: May 2020

Brandtbeschleuniger (von Marcus Neuert, ursprünglich auf Fixpoetry)


Gerade mal ein gutes Jahr nach seinem letzten Gedichtband Ab hier nur Schriftenbei Aphaia hat der sehr produktive Dichter und Rezensent Timo Brandt schon wieder eine Sammlung seiner Lyrik veröffentlicht, diemal beim österreichischen Limbus Verlag, welcher sich durch optisch besonders ansprechende Bücher hervortut, auch wenn sie immer ein wenig nach alten Insel-Bändchen aussehen. Zu Brandts ja oft mit Konventionen und Zitaten spielenden Versen passt das letztlich auch besser als die etwas ausladende Aphaia-Mitlesebuch-Reihe, die beim Blättern mit ihrer dünnen Einbandkartonage immer irgendwie ungünstig zwischen den Fingern herumflappt, und wenn Brandt zwischendurch mal wieder, wie er es gern tut, ordentlich abrilkt und -georget, hat man wirklich für einen Moment das Gefühl, hundert Jahre zurückversetzt zu sein in ein großbürgerliches Wohnzimmer mit hoher Decke, von der ein wenig der Stuck rieselt.

Auch Sinnspruchhaftes, mit Bedeutung Aufgeladenes kommt einem aus Timo Brandts neuem Werk nicht selten entgegen, gerade genügend überzeichnet, um zu konstatieren, dass er das wohl ___STEADY_PAYWALL___ nicht so ganz ernst meinen kann, auch wenn schlichte Gemüter darin nichts weiter als mehr oder weniger gelungene Plagiate altvorderer Dichtweisen erkennen mögen, etwa wenn er sich direkt an seine Lesenden wendet:

“[…] Dein Antlitz werd’ ich nie berühren / und dir die Maske nicht entreißen. / Blindlings werde ich dich führen. / Wie du es nennst, so soll es heißen . […]”

Und wie soll man das nun nennen? Da es tatsächlich in dem ganzen Gedicht keine wirklich entpeinlichende Brechung gibt, gilt es, das Günstigste anzunehmen: ein leichtes Grinsen im Gesicht des Dichters beim Vortrag. Dies vorausgesetzt versprühen diese Verse allerdings durchaus einen altklugen Charme, der in der augenzwinkernden Aufforderung gipfelt:

“[…] Sei du, / was ich nicht bin. / Du / stehst hier drin.”

Solche Zeilen kontrastieren scharf mit denjenigen verarbeiteten Eindrücken, die den Dichter ganz offenbar ehrlich ergriffen haben wie das sich direkt ans obige Beispiel anschließende Gedicht “Hamburger Hafen (für Lena)”, in welchem Brandt zu so schönen Bildern findet wie diesem:

[…]Bring einen Windstoß mit, / eine Sehnsucht, die du angerempelt / hast, bevor du am Hafen saßt, am letzten / wirklich leichten Ort der Welt”

Es ist dieses ständige Changieren zwischen Camouflage und Entblößtsein, das Timo Brandts Gedichte charakterisiert und aus dem eine häufig anzutreffende Lebenshaltung seiner Generation zu sprechen scheint, Dichotomien aus intellektueller Kühle und Gefühligkeit einerseits, aus konventionalisierter Pose und sichtbar gewordener Verletzlichkeit andererseits. Es ist das Agieren in und das Reagieren auf eine Welt, in der sich eine Geschlossenheit nur noch durch ihre Behauptung manifestieren kann, wohl wissend, dass sie (die Welt) im nächsten Moment an einer vermeintlichen Kleinigkeit zu implodieren imstande wäre (und diese Einschätzung ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen, wie uns die aktuellen Corona-Verwerfungen eindrucksvoll vor Augen führen).

Dazu passt die brandtsche eklektizistische Bandbreite, innerhalb derer an Slampoetry und spoken word erinnernde Reime und Assonanzen (“Auf den Hügeln in den Senken / Ohne Flügel die wir uns nicht schenken / Ab Steinen die wir schleudern / In der Zeit und wie wir sie vergeuden”) mit fast schon hermetischen Sprachbildern kontrastieren (“[…] Du bist Wunde, gelegt darauf, ins Licht.[…]”), die einmal von großen, immer wieder neu zu bestimmenden Begrifflichkeiten wie Schönheit, Scheitern, natürlich auch von Liebe erzählt und im nächsten Gedicht winzige Detailbeobachtungen unter ihr poetisches Objektiv legt. Da schrammt mitunter der Antschel-Paul ganz knapp an der Engelmann-Julia vorbei, und der Herr Geheimrat aus Weimar tanzt in Köln einen jener klassischen schwarzen Tangos mit Rolf Dieter aus Vechta. Nicht unbedingt innerhalb ein und desselben Gedichtes, aber doch quasi in Rufweite. Das kann man irritierend nennen. Das kann man kühn nennen. Ein Ausdruck von großer Belesenheit, von Begeisterung für Sprache und ihre Möglichkeiten sind diese Gedichte allerdings ganz zweifellos.

Am eindruckvollsten wird das Brandtsche Schaffen in jenen Versen, in denen er das Schwere, mühsam poetisch Errichtete unvermittelt abwirft und kleine luzide Zeilen die notwendige Luft zum Atmen bekommen:

“mitten auf der strecke endet kein gleis. / warum eigentlich nicht? sieh doch hinaus / auch hier könnte man ankommen”

Oder wenn ihm mit der nötigen Lakonie und leisen Ironie so schöne Mitternachtsgedichte gelingen, in welchen es “immer wieder Chopin [ist], / der uns das mit der Sehnsucht erklärt.”

Was letztlich noch nicht ganz geklärt erscheint an den Gedichten Timo Brandts ist ihr Anspruch an sich selbst. In “Keine Kunst” bezeichnet es das lyrische Ich als Wichtigstes, “[…] dass es wahrer ist / als jeder Vers, der innovativ / wirkt und so bejubelt wird. […]”.In gewisser Weise gleichermaßen schlicht wie programmatisch endet das Gedicht mit einer impliziten Antwort:

“Bevor man vergisst, / was schön ist, / sollte man es / schreiben. // Bevor man vergisst, / was wichtig ist, / sollte man es / sagen.”

Zur Retrospektive der Werke von Miranda July/ to the retropsective of the works of Miranda July


Miranda July

Deutsche Version:

Miranda July ist wohl eine der faszinierendsten Künstler*innenpersönlichkeiten des 21. Jahrhunderts. Autorin, Regisseurin, Musikerin, Performancekünstlerin, Schauspielerin – und auch mit dieser Fülle an Begriffen lässt sich ihr Werk nicht ganz umfassen.

Nun liegt im Prestel Verlag zum ersten Mal der Versuch einer Retrospektive vor. Ich sage Versuch, meine damit aber nicht, dass der Katalog misslungen ist. Aber ich glaube, er darf als Versuch begriffen werden, als Fenster auf das Werk von July, nicht aber als Tür, durch die man all die darin verhandelten Werke ungehindert betreten und umfassend abschreiten kann. Wir reden hier schließlich auch von Filmen, Performances, Installationen, etc. Der Katalog tut sein Bestes, die Dimension der Werke zu würdigen und die Ausblicke, die er gewährt, werden wohl viele Leser*innen dazu animieren, schnellstmöglich nach einer Tür Ausschau zu halten.

Den Auftakt, vor der Auswahl der Werke aus den Jahren 1992-2020, bildet ein Gespräch zwischen July und Julia Bryan-Wilson, über Julys Kindheit, ihr Werk und dessen Motive. Die folgende Werkauswahl enthält sowohl Originalausschnitte aus Skripten, Fotomontagen, etc. als auch dokumentarische Fotos von Filmdrehs, Perfomances, etc., sowie eine größere Menge an Kommentaren von Mitwirkenden und Zeitzeugen.

Kurzum: für Fans von July und für diejenigen, die mit der ganzen Faszination ihres Werkes konfrontiert werden wollen, ist dieses Buch ein Fest.

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English version:

Miranda July is probably one of the most fascinating artists of the 21st century. Author, director, musician, performance artist, actress – and even this abundance of terms cannot fully encompasse her work.

The Prestel Verlag has now made a retrospective of her work. I say try, but I don’t mean that the catalog is bad or lacks substance. But I think it can be seen as an attempt, as a window on the work of Miranda July, but not as a door through which one can enter and fully admire all of the works in it. After all, we are talking about films, performances, installations, etc. The catalog does its best to show the dimensions of the work and the views and aspects it provides will probably encourage many readers to look for a door as quickly as possible .

The prelude, before the selection of works from 1992-2020, is a conversation between July and Julia Bryan-Wilson about July’s childhood, her work and its motifs. The following selection of works contains original excerpts from scripts, photo montages, etc. as well as documentary photos from film shoots, performances, etc., as well as a larger amount of comments from contributors, friends and contemporary witnesses.

In short: for fans of July and for those who want to be confronted with the full fascination of their work, this book is a feast.

Zu “Die Schule am Meer” von Sandra Lüpkes


Die Schule am Meer Es ist schon ein besonderes Buch, mit dem Sandra Lüpkes uns da beglückt hat. Ich habe schon einige Bücher über die Zeit der Weimarer Republik gelesen und auch einige Romane, die in dieser Zeit spielen (hervorzuheben sind hier u.a. „Die neuen Bekenntnisse“ von William Boyd und „Das Brandmal“ von Emmy Hennings, Lion Feuchtwangers „Erfolg“ und Romane von Irmgard Keun und Vicki Baum).

Die meisten dieser Bücher spielen jedoch in Städten (meist in Berlin) oder haben deren Bevölkerung im Blick und das Gesellschaftspanorama ist dadurch immer etwas zu fixiert, zu wenig fließend, da vor allem Gruppen genannt und gegeneinander ausgespielt/sich gegenübergestellt werden. Dies eben ist die große Qualität von „Die Schule am Meer“, das hier, in dieser Darstellung einer Enklave, eines Mikrokosmos, alle bekannten Konflikte der Zeit vorhanden sind, aber von Individuen ausgetragen werden, die nicht nur eine Zugehörigkeit haben, sondern vielschichtige Figuren sind.

Das verwässert aber die Problematiken und auch die langsame Zuspitzung der Ereignisse und Umstände nicht, sondern intensiviert im Gegenteil die Konflikte und ihre Wirkungen auf die Leser*innen; die individuelle Tragödie geht unter die Haut, weil sie erfahrbar ist und mit einer konkreten Geschichte verknüpft, die ein vielfältiges Identifikationspotenzial bereithält.

Insofern ist dieses Buch, wie gesagt, ein Glücksfall. Es gibt zwar durchaus einige Kritikpunkte, die angebracht werden können (so wurde hier und da einiges an Potenzial verschenkt, was die Beziehungen zwischen den Figuren angeht und überhaupt erscheinen manche Figuren in einer Szene sorgsam entworfen, in einer anderen etwas zu schematisch), aber alles in allem ist dies tatsächlich ein Roman, von dem man sagen kann, dass er einen neuen Aspekt bereithält, ein neues, interessantes Licht auf die Zeit der Weimarer Republik, ihre Gesellschaft, ihre Ideen, ihre Charaktere wirft.

Wünsche, Träume, dann und wann auch nicht zu saumselig


stille-trommeln“Traum von
Namen nackt wie die Dinge die
sie verhüllen”

Ich finde, es ist etwas ungeschickt, wenn der Verlag auf den Rückendeckel dieses Gedichtbandes schreibt, dass die Texte darin als “Antwort und Reaktion auf ihre erzählerische Prosa entstanden sind”.

Das schreckt nicht nur Leser*innen ab, die diese Prosa nicht kennen, es wirkt auch wie ein Eingeständnis, dass diese Text nicht für sich stehen können. Mit diesem Gefühl bin ich in den Band gestartet – und losgeworden bin ich es bis zum Ende nicht.

“Wer möchte es nicht
glauben dass das Gute
Schöne und Wahre sich schütteln lässt
wie Pflaumen vom Baum
aufs Blatt ins Gedicht”

Sentimentalität, das beschreibt einen Zustand, ein Verhalten, in dem auch der kleinste Gegenstand, die kleinste Erinnerung, einen Anlass für Glorifizierung, große Fragen und/oder Rührung darstellt, in jedem Fall für eine als überzogen wahrgenommene Gefühlsverlautbarung.

Die Lyrik, ob es ihr gefällt oder nicht, wird sich in Teilen auch immer im Umfeld dieses Gefühls bewegen, es ist eine ihrer Naturen. Oder, anders gesagt: die Sentimentalität ganz aus der Lyrik zu verbannen, würde ihr viel nehmen, zumal der einzig probate Ersatz für Sentimentalität Zynismus ist, und der ist auf Dauer, zumindest wenn er gegen nichts antritt, genauso unausstehlich wie schrankenlose Sentimentalität.

Aber zurück zu Hahn. Ich habe den Begriff der Sentimentalität überhaupt erst ins Spiel gebracht, weil ich mich gefragt habe, ob das die Gedichte adäquat beschreibt. Bisher hätte ich, was Hahn angeht, immer gesagt: Sie enthalten fast immer ein bisschen Sentimentalität, verstehen es aber blendend, diese auf links zu drehen, plötzlich spitz und schneidend zu machen oder zumindest kurz vorm Kitsch mit einem Lächeln, mit Ironie, Witz oder Klugheit auszustatten.

“Ach einmal noch
es rausschnippen aus
dem Brustkorb raus
aus dem Rippengitter
in die Wiese kicken
das rote Klümpchen
runter rollen
ins Wasser ans
andere Ufer”

In diesem neuen Band aber verwischen die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst bei Hahn hier und da dann doch. Das habe ich schon oft so gesehen, diese Verwischung, sie ist nicht selten ein Beikraut des Alterswerks – und als solches auch weder zu verachten, noch zu belächeln, in Maßen.

In manchen Gedichten hält Hahn Maß und dann haben ihre Verse zwar etwas Nostalgisches, aber verstehen sich wie sonst auf Witz und Verstand und können, obgleich sie von vielen Lyrikleser*innen als leichte Kost bezeichnet würden, unterhalten und zum Nachdenken bringen.

Aber in manch anderen Texten, da gibt es keine Brechung, da wird uns die “noch am Halme wogenden Gefühle” präsentiert, um Kästner zu zitieren, der einmal ein bitterböses Epigramm über solche Texte geschrieben hat. Hier fühle ich mich dann wieder an den Klappentext erinnert, bin aber mehr schlecht als recht damit getröstet, dass das alles vielleicht im Kontext von Hahns Prosa Sinn und Kunst ergibt.

“Ein Wort
ergibt zu viele andere Ihr sentimentales Flehen
aus dem Staub von Jahrhunderten”

Womit wir zur schwersten Frage kommen: ist der Band überhaupt empfehlenswert? Ich will, nicht etwa aus falscher Gutmütigkeit, sondern aus Überzeugung, betonen, dass es in diesem Band sehr wohl gute Gedichte gibt. In der Summe würde man die Texte wohl als hübsch, als nett bezeichnen, was auch abwertend klingt, hier aber nicht (unbedingt) so gemeint ist. Es sind Vierzeiler wie dieser, die den Band lesenswert machen, allerdings nur, wenn man über manche Texte einfach hinweglesen kann:

“In der Sonne sitzen nichts tun
abwarten sich wärmen lassen
reif werden wie der Apfel im Baum
Der Pflücker wird keinen vergessen”

Zu Johannes Wallys “Das Gewicht der Bilder”


Das Gewicht der Bilder „Menschen konnten über alles Mögliche Gewissheit erhalten, nur nicht über die wahren Gründe ihres Handelns.“

Es ist gar nicht so leicht, Johannes Wallys Roman „Das Gewicht der Bilder“ beizukommen. Augenscheinlich vollzieht sich in dem Buch eine ziemlich konventionell erzählte, stringente Geschichte über eine Liebe, den Optimierungsimperativ/gesellschaftlichen Leistungsdruck und die entscheidenden Momente, in denen sich in unseren Geschichten so etwas wie Schicksal verdichtet. Doch durch die Art, mit der manche Motive sich, fast klammheimlich, entfalten und auch weil sich die Perspektive während des letzten Drittels der Erzählung stark wandelt, wird aus dem zunächst simpel erscheinenden Konstrukt ein, zumindest in den Ausläufern, ungleich komplexeres Vexierspiel.

Die Geschichte beginnt in einem Fitnessstudio (ein kleines, keine High-End-Ketten-Einrichtung), wo die Protagonistin und Ich-Erzählerin Vanja, Ende 20, regelmäßig trainiert. Dort lernt sie auch Arthur kennen, besser gesagt: sie hat ihn schon kennengelernt, wir werden nur Zeuge der letztendlichen Vollziehung ihrer Annäherung. Alles deutet auf ein relativ schnell gedeihendes, nur mit den üblichen Abwehrreflexen gespicktes Glück zu zweit hin.

Doch Arthur, charmant und lebenslustig, entpuppt sich schnell als ein Getriebener, der nach einer Zeit der Arbeits- und Erfolglosigkeit unbedingt eine neue Geschäftsidee umsetzen will. Doch er braucht jemanden, der für einen Kredit bürgt, der ihm den Einstieg ermöglichen soll. Aufgrund einer Verkettung von Umständen, die auch mit einem Unfall und wohl auch dem Wunsch nach einem restlos-verbindenden Element zu tun haben, bürgt Vanja, trotz ihrer sich als wacklig herausstellenden Anstellung, für den Kredit und Arthur beginnt mit einem gemeinsamen Bekannten der beiden ein vielversprechendes kleines Business im Bereich der Getränkeindustrie. Doch schon bald scheint ihm die Erfüllung seines Wunsches und die viele Arbeit über den Kopf zu wachsen – und mit einem Mal ist alles anders …

Obgleich das Buch mit Roman betitelt ist, könnte man bei „Das Gewicht der Bilder“ auch von einer Novelle sprechen, denn der Text hat ein sehr überschaubares Personal und ist sehr linear erzählt. Zur Novelle passt auch, dass es letztlich ein Ereignis (“eine unerhörte Begebenheit”, wie Goethe einmal sagte) ist, welches die Weichen stellt und dessen Folgen zu dem zentralen Wendepunkt in der Handlung führen, der ebenfalls ein Merkmal der Novelle ist. Zudem ist die Protagonistin, wenngleich involviert, meist eine außenstehende Beobachterin der Prozesse.

Die Protagonistin Vanja ist neben ihrem Beruf (Lehrerin) auch Malerin – ihre Spezialität ist es, Gemälde zu malen, die dem Anschein eines Fotos nahekommen. Fotos halten zwar nur Momente fest, aber werden oft nicht nur als Momentaufnahme, sondern als Darstellung eines Ganzen wahrgenommen, als charakteristisches Element des Dargestellten. Das Gewicht der Bilder liegt dabei allzu oft in der Waagschale, die sich zu unseren Wünsche und Vorstellungen hin neigt, zumindest, wenn das Foto derlei ermöglicht.

Dieses Motiv von Schein und Sein findet sich auch in der Erzählperspektive. Vanja ist die einzige Quelle für Informationen, wir erfahren nur, was sie erfährt und vollziehen die Dinge vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nach. Eine Weile scheint diese Rezeptionsart gänzlich unbedenklich, auch weil Wally eine geschickte Erzählführung und eine bestechende Dialogkunst an den Tag legt, was sich allerdings oft erst in späteren Kapiteln gänzlich offenbart.

Man könnte noch weiter aushohlen, was die Psychologie von Vanja betrifft und auch die scheinbar nur am Rande vorangetriebene Geschichte über den frühen Verlust ihres Vaters mit ins Bild ziehen. Auch über das Zusammenspiel einiger Motive, bspw. der Fitnessstudiokultur und der Idee von Romantik als zwei Seiten einer Optimierungsidee, könnte man sicher noch einige Worte verlieren, auch unter dem Aspekt, dass wir oft wie jemand wahrgenommen werden wollen, als der/die wir uns dann erst im Nachhinein oder von da an fühlen können.

Fest steht: „Das Gewicht der Bilder“ wirkt zwar zunächst wie eine relativ simple, auf Bodenständigkeit bedachte Geschichte, aber in vielen Abschnitten tun sich vielschichtige Überlegungen und Anregungen auf. Wally schreibt geradlinig, aber sein Stil ist nicht ohne kleine Finessen und erfüllt vor allem die Aufgabe, die Leser*innen auf gelungene Art im Unklaren zu lassen, während alles sehr klar wirkt, bis zum Kipppunkt.

Nicht zuletzt konfrontiert er uns durch dieses Kunststück mit unserer eigenen Vorstellung, mit jener gern gehegten, scheinbaren Gewissheit, dass unser Blick auf die Ereignisse nichts unerschlossen lässt, das für uns von Belang ist. Dass wir aber oft trotz vieler Einsichten ohne die Zusammenhänge macht- und ahnungslos sind, das führt Wally am Beispiel seiner Protagonistin wunderbar vor. Die Macht der Bilder, an die wir glauben wollen, weil sie unsere Bilder sind oder uns so zwingend und eindeutig erscheinen, ist groß. Aber Bilder täuschen uns oder: wir täuschen uns in ihnen.