Monthly Archives: July 2020

Zu einer Auswahl aus Katherine Mansfields Tagebüchern


Fliegen wirbeln tanzen Eines der ersten Bücher, die ich auf einem Flohmarkt kaufte, war eine vollständige Ausgabe der Tagebücher von Katherine Mansfield, herausgekommen bei der Deutschen Verlags Anstalt 1975. Hätte ich sie damals doch aufmerksamer studiert und nicht nur nach Anekdoten und Frivolitäten abgesucht! Hier hätte ich vielleicht, in der Jugend, Linderung für die Auseinandersetzungen mit meinen Gefühlen gefunden.

Denn derlei begegnet einem bei Katherine Mansfield in Hülle und Fülle: ein Bekenntnis der Gefühle, vom tiefsten Sturz & härtesten Boden bis zur großen Leichtigkeit & hohem Flug. Der Titel des Auswahlbandes bei Manesse „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben“ ist daher gut gewählt, er fängt ein wie bewegt diese Notate sind – wenngleich die vier Begriffe vielleicht etwas zu positiv besetzt sind.

Das Leben der Katherine Mansfield war kein leichtes, nicht nur, weil sie mitunter rücksichtslos gegen sich selbst war, sondern auch weil sie ein freieres und ungezwungeneres Leben führen wollte, als es den meisten Frauen damals möglich war. Immer wieder versuchte sie „ihrer Seele das Sklavische auszutreiben“, geriet dabei aber in Konflikt mit den Erwartungen anderer und auch mit ihren eigenen Ansprüchen, deren steten Wandel man in den Tagebüchern miterleben kann.

„Solange Menschen leben und sterben, werden diese Stücke relevant sein“, hat Harold Bloom über die Stücke Shakespears gesagt. Und solange Menschen zwischen Konventionen und Gefühlen, Ideen und Enttäuschungen ihr Dasein fristen, solange werden die Tagebuchaufzeichnungen von Mansfield von Bedeutung sein und vielleicht Trost spenden, vielleicht auch nur zeigen, wie recht man hat sich „verwundet zu fühlen von Umständen, die nicht vergehen wollen.“

Zu den Vorlesegeschichten von Peter Maiwald


100 kurze Vorlesegeschichen Der 2008 verstorbene Autor Peter Maiwald war mir bisher vor allem als Dichter ein Begriff, als Verfasser von so herrlichen Liebesgedichten wie diesem:

„Saßen in der weißen Wanne
und erklärten sie zum Meer.
Deine Körperinsel schob sich
langsam zu der meinen her.

Und wir wuchsen so zusammen
zu dem Lande, du und ich,
waren Dschungel, Wüsten, Meere
und so fremd entdeckten sich

Städte, Straßen, Häuser, Gärten,
Berge brachen Feuer aus,
Wasser fluteten durch Haus,
bis die Nachbarn sich beschwerten.“

Darüber hinaus hat er sich, nicht nur mit diesem Werk hier, anscheinend um die Kinderliteratur verdient gemacht. Das Buch „100 kurze Vorlesegeschichten“ ist ein wunderbares Sammelsurium, voller verspielter, dabei aber nicht infantiler, sondern eher dezent hintersinniger Geschichten, nicht selten von spaßiger Natur und mit gelind-ironischem Esprit.

Manche erinnern an die Geschichten Peter Bichsels, andere haben eher konventionellen Charakter. Es gibt, für meinen Geschmack, in manchen von ihnen allzu klare Fingerzeige und moralische Insignien, aber das ist bei Kinderliteratur ja keine Seltenheit – und überwiegt bei Maiwald letztlich nicht.

Am meisten gefällt mir, dass die Geschichten nur im geringen Maß auf phantastische Elemente zurückgreifen und vielmehr Erfahrungswelten beschwören, die gut nachvollziehbar sind, vor allem für Kinder. Wer auf der Suche nach Vorlesegeschichten für klein und groß ist, kann ruhig zugreifen.

Eine Sammlung von Meister(innen)erzählungen


Deutsche Meistererzählungen Wer sind die deutschsprachigen Meister der Erzählung? Dieser Auswahlband meint Antworten auf diese Frage gefunden zu haben. Aber ist mit „Erzählung“ die Novelle, die Kurzgeschichte, das Märchen, die Anekdote gemeint? Alle gleichermaßen, wenn man sich den Inhalt anschaut. Leider fehlt ein Vor- oder Nachwort, das auf diese Genrefrage Bezug nimmt. Auch wäre es spannend gewesen, zu erfahren, nach welchem Prinzip der Herausgeber Kim Landgraf die Texte ausgewählt hat. Weil eine Einleitung fehlt, erscheint die Auswahl leider ein bisschen willkürlich und auch der Klappentext hilft nur bedingt weiter:

„So ist diese Sammlung gedacht: ausgewählte Köstlichkeiten probieren, kennen lernen, wiederentdecken und anhand kleiner Leselisten die Reise dort fortsetzen, wo der Weg am besten gefällt. Die Auswahl reicht von Goethe bis in die Gegenwart, Bekanntes mit Unbekanntem, Kurzes mit Längerem mischend.“

Ein Blick auf den Inhalt:

Das Märchen (Johann Wolfgang von Goethe)
Kannitverstan & Unverhofftes Wiedersehen (Johan Peter Hebel)
Ritter Gluck (E.T.A. Hoffmann)
Das Bettelweib von Locarno (Heinrich von Kleist)
Die drei Nüsse (Clemens Brentano)
Das Schloss Dürande (Joseph von Eichendorff)
Lenz (Georg Büchner)
Die Kuh (Friedrich Hebbel)
Der kleine Häwelmann (Theodor Storm)
Wie wir draußen spielen (Theodor Fontane)
Krambambuli (Marie von Ebner-Eschenbach)
Der letzte Brief eines Literaten (Arthur Schnitzler)
Das Märchen der 672. Nacht (Hugo von Hofmannsthal)
Der Riese Agoag (Robert Musil)
Ein Bericht für eine Akademie (Franz Kafka)
Die wilde Miss von Ohio (Joachim Ringelnatz)
Nachts schlafen die Ratten doch (Wolfgang Borchert)

macht klar, dass der Begriff Gegenwart hier anachronistisch verwendet wird – Wolfgang Borchert als Gegenwartsautor zu bezeichnen, das wirkt irgendwie veraltet (was den Begriff Gegenwart ad absurdum führt). Ein zweites Manko ist der arge Männerüberhang – was die Goethezeit angeht, da ist er noch verzeihlich ist, aber spätestens im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert gab es einige Meisterinnen der Erzählkunst; Literatinnen von Annette von Droste-Hülshoff bis zu Marie Luise Kaschnitz zu ignorieren, solcherlei lässt diese Auswahl nicht im besten Licht erscheinen.

Über den Rest lässt sich streiten. Immerhin wurden die anderen Versprechen des Klappentextes (Bekanntes/Unbekanntes, Kurzes/Längeres) ganz ordentlich umgesetzt. Dennoch nimmt sich das Buch mehr wie eine Sammlung von Namen aus, eine Deutschunterrichtsfibel und nicht wie eine fesselnde Reise durch die deutsche Erzählkunst.

Hoffmann und Kleist haben Besseres geschrieben (Geschichten, die auch ihre Sonderstellung in der deutschen Literatur besser zur Geltung bringen), gleiches gilt für Storm oder Schnitzler. Warum so wichtige Erzähler*innen wie Thomas Mann oder eben Annette von Droste-Hülshoff fehlen, erschließt sich mir nicht; sie sind eigentlich unverzichtbar.

Natürlich gibt es einige Highlights. Krambambuli, Lenz, das Unverhoffte Wiedersehen oder auch Kafkas Bericht sind ohne Zweifel Klassiker und Perlen deutschsprachigen Erzählens. Musils Text und Goethes Märchen waren erfreuliche Entdeckungen. Das schönt den Gesamteindruck.