Monthly Archives: January 2021

Eine gut geschilderte Hauptfigur in einem nicht ganz ausgereiften Roman


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Die 15jährige Paola fühlt sich in ihrer Haut nicht sehr wohl: sie findet sie ist zu groß, zu unansehnlich, monströs geradezu; ein Erlebnis in der Schule hat sie vor kurzem noch mehr davon überzeugt, dass sie mit ihrer Statur und ihrem Wesen nirgendwo hineinpasst. Am liebsten verbringt sie Zeit mit ihrem körperlich beeinträchtigten Bruder Richie, mit dem sie das soziale Wohnviertel durchstreift, das an ihr eigenes gut betuchtes Viertel angrenzt. Paolas Familie ist nämlich reich – ihr Großvater hat viele Gebäude in der Stadt gebaut, unter anderem auch das soziale Wohnviertel.  

Eines Tages ergibt sich dort eine Begegnung und ihr eigener Bruder freundet sich mit dem jüngeren Bruder eines Klassenkameraden an, die beiden beginnen Schach gegeneinander zu spielen. Auch zwischen ihr und dem Klassenkameraden bahnt sich eine neue, verwirrende Vertrautheit an, doch Paola will nach den letzten Erlebnissen in der Schule niemandem mehr vertrauen, auch wenn sie spürt, dass im Wohnviertel und der Gestalt Antonios ein ganz neues Leben auf sie wartet …

Gleich vorweg muss man sagen, dass Raffaella Romagnolo in ihrem Buch einen ungewöhnlichen Drahtseilakt wagt. „Dieses ganze Leben“ ist über weite Strecken ein Coming-of-Age-Jugendroman, in dem manche Beziehungen ein bisschen zu non-ambivalent dargestellt sind. Womit ich meine: die Charaktere zeigen wenig Entwicklung und Variation in ihrem Verhalten, sie bleiben ihrer Ausrichtung verhaftet. Manche Konflikte werden während der Handlung intensiviert, andere nur im passenden Moment mal aufgerufen, aber gar nicht wirklich thematisiert.

In manch anderen Punkten ist das Buch aber ambitionierter. So schildert die Autorin mitunter bewundernswert anschaulich das Innenleben der Protagonistin und man hat am Ende das Gefühl, das zwar vieles unbefriedigend offen/unverhandelt bleibt, aber die Entwicklung Paolas durchaus sehr stimmig und gelungen ist.

Der Knackpunkt ist halt, dass dadurch viele andere Figuren und Handlungselement zum Ornament verkommen. Man hat das Gefühl, alle Elemente der Story schlagen sich vor allem in Paola nieder und sind abseits davon oft relativ eindimensional. Jetzt kann man argumentieren, dass das doch das Verhältnis einer Teenagerin zur Welt gut wiedergibt: was sich nicht direkt auf sie bezieht (und sie erzählt ja die Geschichte) ist nun mal Beiwerk.

Das mag sein und ich glaube, dass es Leute gibt, die mit dieser Leseerfahrung dann auch zurecht sehr zufrieden sind. Mich hat es ziemlich genervt (auch das passt aber eigentlich zum Teenager-Tunnelblick), wie sehr die anderen Charaktere streckenweise ernstgenommen werden, aber trotzdem nie aus ihren Rollen ausbrechen, sondern immer schön der Definition der Protagonistin verhaftet bleiben, so als würde sie letztendlich alles durchschauen und immer Bescheid wissen.

„Dieses ganze Leben“ ist ein teilweise starker, teilweise aber auch ziemlich luftiger Roman. Als Geschichte schön und teilweise schlimm, als Roman zu wenig ausgearbeitet.  

Eine Machtstudie, auch im 21. Jhd. noch immer aktuell


Der Tyran

Der Tyrann, das ist eine sehr klassische Figur, zu finden vor allem in Geschichten über die Antike – das letzte Mal, dass jemand einen modernen Herrscher im großen Stil einen “Tyrannen” nannte, war wohl 1865, als John Wilkes Booth Abraham Lincoln ermordete und im Anschluss die lateinische Wendung “Sic semper tyrannis” (“so ergeht es den Tyrannen”, angeblich von Brutus zu Caesars Ermordung geprägt) ausrief. 

Heute sprechen wir von Autokraten, Diktatoren, Alleinherrschern, etc. – der Tyrann ist eher zum Sinnbild häuslicher Herrschaft und Unterdrückung geworden, ein Synonym für Patriarch (wobei ein Diktator oft auch ein Patriarch ist). Das Wort scheint nicht mehr genug Kraft zu besitzen, um den modernen Formen von Allmachtsphantasien im Zeitalter von Überwachungsstaaten, Massenvernichtungswaffen, etc. gerecht zu werden.

Doch Stephen Greenblatt brachte den Tyrann (inspiriert, wie er im Nachwort schildert, durch die Wahl Donald Trumps) wieder aufs Tapet und zwar anhand der Tyrannendarstellungen des nicht ganz unbekannten Dichters und Dramatikers William Shakespeare. Angereichert mit vielen Passagen aus seinen Stücken erstellt Greenblatt ein Psychogramm des Durchschnittstyrannen, seiner Strategien und Wünsche, seiner Unzulänglichkeiten und Fehler.

Er beginnt mit Shakespeares frühem Stück-Zyklus, der sogenannten York-Tetralogie mit “Heinrich VI.” (in drei Teilen) und “Richard III.”, in welcher der Dramatiker den Aufstieg des Tyrannen Richard Plantagenet vor dem Hintergrund der Rosenkriege beschreibt. Das Motiv des unansehnlichen Richard, der Grund warum er nach Macht strebt und dabei vor nichts zurückschreckt, ist (so stellt Shakespeare es dar) seine mangelnde Selbstliebe, die er durch äußere Erfolge und Macht zu kompensieren versucht. Er glaubt nicht, dass Nähe oder Zuneigung anderer für ihn vorgesehen sind, also lebt er ohne sie und genießt stattdessen kleinere und größere Grausamkeiten. Dies führt natürlich dazu, dass er am Ende zwar ganz oben, aber auch ganz allein dasteht.

Von diesem Tyrannen mit Minderwertigkeitskomplex geht es dann zum Tyrannen wider Willen. MacBeth strebt nicht aus sich heraus nach der Krone, vielmehr sind es eine Kombination aus Gelegenheit, den Einflüsterungen seiner Frau, sowie die Prophezeiung dreier Hexen (er werde eines Tages über Schottland herrschen), die ihn zum Königsmörder und Ursupator machen. Kaum auf dem Thron ist sein einziger Wunsch, irgendwie die innere Sicherheit wiederzugewinnen, die ihm durch das Handeln gegen seine Ideale und Bedenken abhandengekommen ist. Er versucht diese innere Sicherheit durch äußere Sicherheit zu erreichen, also indem er seine Macht absichert. Dabei muss er aber immer weiter Grenzen überschreiten und Brücken abbrechen, bis er schließlich nur noch instinktiv und paranoid handelt, dem Wahnsinn verfällt.

Schließlich ist da König Lear, der alte weiße Mann-Tyrann. Er ist es gewohnt, dass man alles für recht hält und umsetzt, das er befiehlt. Die Meinungen anderer sind ihm egal und auch in seiner Senilität und offenbaren Unfähigkeit wird er von nur wenigen seiner Berater wirklich offen kritisiert. Sie tragen seine fatalen Entscheidungen mit, obwohl sie das Reich zugrunde richten.

Greenblatt beschäftigt sich auch noch mit den Dramen “Julius Caesar”, “Das Wintermärchen” und “Coriolanus”, aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen. Es gelingt ihm auf jeden Fall, ein sehr umfassendes Portrait der verschiedenen Tyrannenausführungen von Shakespeare herauszuarbeiten. Aus diesen verschiedenen Ansätzen und Ausführungen extrahiert er dann die Kernmerkmale tyrannischer Herrschaft: wie sie überhaupt eintreten kann, warum sie gestützt und befördert wird (oft aufgrund von Eigeninteressen, bei denen die Interessenten die Dimensionen des Tyrannencharakters unterschätzen) und warum sie so fatal ist (letzteres ist vielleicht offensichtlich, die ersten beiden Punkte aber eigentlich auch).

Vieles davon hat Hand und Fuß, vieles lässt sich leicht auch auf Personen und Situationen der heutigen Zeit übertragen. Greenblatt zeigt, dass Shakespeare ein Meister der Typisierung war, der oft die Gefahren seiner eigenen Zeit durch Schilderungen weit zurückliegender Ereignisse umreißen wollte – und dabei Figuren und Plots schuf, die sogar noch die Gefahren und Charaktere unserer Zeit ganz gut abbilden, nicht in jeder Facette, aber von der Idee her.

Insofern ist das Buch tatsächlich eine gelungene Machtstudie für das 21. Jahrhundert, auch wenn es auf 400 Jahre alten Stücken beruht. Wer von Shakespeare (und Greenblatt) begeistert oder einfach nur in mancher Hinsicht belehrt werden will, der sollte das Buch auf jeden Fall lesen.

 

 

Ein Set von 20 Poesie-Postkarten, schön illustriert


Postkartenbuch-Gedichte

Die Autor*innen:

Wilhelm Busch (2x), Gustav Falke, Erich Mühsam, Eduard Mörike (2x), Gottfried August Bürger, Franz Grillparzer, Rose Ausländer, Ernst von Wildenbruch, Hilde Domin, Heinrich Heine, Heinrich Zille, Christian Morgenstern (2x), Joseph von Eichendorff, Joachim Ringelnatz (2x), Kurt Schwitters und das bekannte “Dû bist mîn, ich bin dîn” eines anonymen Minnedichters.

Die Auswahl ist eigentlich schön, das Geschlechterungleichgewicht (18:2) fällt allerdings negativ auf – und das, obgleich es durchaus tolle kurze Gedichte von Autorinnen wie bspw. Mascha Kaléko, Emmy Hennings, Else Lakser-Schüler, Marie von Ebner-Eschenbach und v.a. gibt.

Davon abgesehen ist die Durchmischung wie gesagt gut: es gibt Anrührendes und Witziges, Charmantes und Weises, manchen Klassiker und ein paar unbekanntere Verse. Die Postkarten lassen sich größtenteils gut und sauber vom Heftrahmen lösen und das Papier hat eine schöne, stabile Dicke; auch die Oberflächen der Karten fühlen sich schön an. Die durchgehende Farbgestaltung in Gelb und Blautönen empfinde ich als gelungen.

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Ein Buch über das Leben, was es ist, wie man es führt


Maschinen wie ich

Man nennt sie Uchronien, oder, einfacher, Was-wäre-wenn-Geschichten. Was wäre geschehen, wenn Antonius die Schlacht bei Actium gewonnen hätte? Was wäre geschehen, wenn Wilhelm der Eroberer bei Hastings verloren hätte? Was wäre geschehen, wenn die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen hätten? – dies drei Beispiele für Fragestellungen, mit denen sich sogar die Geschichtswissenschaft beschäftigt (wenn auch meist nur, um ex negativo darauf hinzuweisen, warum die faktischen Ereignisse die Weltgeschichte auf eine bestimmte Art beeinflusst haben). Johannes Dillinger hat ein interessantes Buch über Uchronien in Geschichtswissenschaft, Film und Literatur verfasst, das ich jeder Person, die das Thema interessiert/fasziniert, empfehlen kann.

Allerdings findet Dillinger nur wenige der von ihm angeführten literarischen Werke wirklich bemerkenswert. Und in der Tat ist die Uchronie dort eher selten anzutreffen (sie ist auch abzugrenzen von Utopien und Dystopien, die in der Zukunft und nicht in alternativen Zeitlinien spielen und von Filmen und Büchern, die trotz einer Abänderung der Vergangenheit keinen Fokus auf die historischen Entwicklungen abseits ihres Plots legen). Meist sind dann auch nicht gut durchdacht und die historische Plausibilität wird im Verlauf oft zugunsten der Handlung vernachlässigt.

Dennoch gibt es ein paar spannende Beispiele, am bekanntesten sind wohl Robert Harris „Vaterland“ und „The man in the high castle“ von Philip K. Dick, wobei letzteres keine Uchronie im strengen Sinne ist. Dieter Kühns Grotesken in „Ich war Hitlers Schutzengel“ wären vielleicht noch zu nennen, viele weitere Titel kann man dem Buch von Dillinger entnehmen. Das erschien 2015 und enthält daher nichts zu Ian McEwans neustem Roman „Maschinen wie ich“. Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass Dillinger auch an diesem etwas auszusetzen gehabt hätte – aber ich glaube, er hätte auch anerkennen müssen, dass McEwan in mancherlei Hinsicht eine wunderbare Uchronie verfasst hat.

Einer der Gründe, warum meiner Meinung nach „Maschinen wie ich“ eine tolle Uchronie (und ein tolles Buch) ist: McEwan übertreibt es nicht. Sein England der frühen 80er Jahre ist kein wahnwitziger Ort, in dem die historische Kurskorrektur zu einem epischen Konflikt oder einer anderen Ausnahmesituation geführt hat. Eigentlich scheint sogar alles recht gewöhnlich, sieht man von der Tatsache ab, dass der Protagonist Charles Friend sich schon auf den ersten Seiten einen humanoiden Roboter mit künstlicher Intelligenz zulegt.

Der Mensch erschafft bei McEwan also schon Maschinen nach seinem Ebenbild (sogar unterteilt in Geschlechter, die einen heißen Adam, die anderen Eve). Möglich ist das, weil der Pionier der Computerwissenschaft, Alan Turing, sich nicht 1954 infolge einer quälenden Hormonbehandlung (dieser „chemischen Kastration“ musste er sich aufgrund einer Verurteilung seiner Homosexualität als Straftat unterziehen) umbrachte, sondern stattdessen auf vielen Feldern (Quantenmechanik, Logik, Computerintelligenz) weitarbeitete und ihm mit einigen Kolleg*innen weitreichende Durchbrüche auf diesen Feldern gelangen. Er machte diese Informationen öffentlich zugänglich, damit alle von ihnen profitieren konnten. Und so führten seine Entdeckungen auch zu der ersten Konstruktion von künstlicher Intelligenz.

Auf der anderen Seite aber sind die neusten Errungenschaften auch der Militärdiktatur in Argentinien zugänglich, die nun, mit spezieller Raketentechnik im Rücken, keinen Grund sieht, die Falkland Inseln nicht ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben. Maggie Thatcher will das (wie auch in realen Historie) verhindern und entsendet die britische Flotte, was in der Folge zu turbulenten politischen Verwicklungen führt …

Während die Geschichte der britischen Politik und Gesellschaft die Story immer begleitet (und genau in dem Maße bedingt, wie es Politik in westlichen Gesellschaften meistens tut, wenn man zur Mittelschicht gehört: es ist Gesprächsthema und hin und wieder auch wichtig, aber nicht permanent) liegt der Fokus eindeutig auf den Verwicklungen, die sich für den Protagonisten Charles aus dem Kauf seines neuen Androidenbegleiters ergeben. Denn der schaltet sich sehr bald in das Leben seines neuen „Besitzers“ ein, stellt die Ehrlichkeit von dessen neuer Freundin Miranda infrage und entwickelt eine Persönlichkeit, nebst einem Interesse für Kultur und Moral. Alles kein Bein(oder Mittelhand)bruch, denkt man, aber langsam und still wird Adam zum Freund, aber auch zum Nebenbuhler, zum Gewissen und zum nervigen Mitbewohner, zum Geldverdiener und zum Katalysator verschiedenster Entwicklungen …

McEwan ist ein großartiges Buch gelungen. Selbst wenn man den uchronischen Aspekt weglässt, ist es tolles Werk über Moral, Kunst, Gefühle, kurz: über das Menschsein. Wie McEwan das beschreibt, anhand der Dreieckskonstellation von Adam, Charles und Miranda darstellt, auf allen Ebenen, ist hohe Romankunst. Es gibt in diesem Buch alles: Spannung, Intensivität, Witz und Schönheit. Und bei all dem zeigt McEwan immer wieder, dass er ein Händchen für Charaktere hat. Er spielt sie nicht gegeneinander aus, um einen billigen Punkt zu machen, sondern führt uns mitten in ihre Zwiste und Versuchungen, Ideen und Ängste.

Es wird viel verhandelt in „Maschinen wie ich“, von den hohen Fragen was Leben bedeutet und wie man es erkennt, wie man es richtig führt, bis zu Fragen, warum man Rache will und wie das Zeitgeschehen uns gleichsam angeht und nicht angeht. Alles in allem: ein Buch, in dem man sich sehr mit seinem Menschsein konfrontiert sieht. Ich wüsste nicht, was man von Kunst mehr verlangen könnte.

In einer unsicheren Welt …


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Die Welt ist unsicherer geworden. Nein, das stimmt eigentlich nicht, eigentlich ist sie sicherer geworden, zumindest für die meisten Menschen in Europa, vor allem in Westeuropa. Und doch erlebt gerade dieses Westeuropa, 70 Jahre nach dem letzten verheerenden Krieg, den eine populistische Partei anzettelte, eine neue Welle von Populismus, Antisemitismus und Extremismus.

Diese Übel wurden nicht, wie manche anmerken und propagieren (Propa(ganda)-gieren im wahrsten Sinne des Wortes), eingeschleppt. Sie haben ihren Ursprung in einem Gefühl der Machtlosigkeit, das trotz allem Wohlstand und aller Sicherheit in unseren Gesellschaften Einzug gehalten hat. Zwar leben wir in Europa in einer sicheren Welt, dank der medialen Omnipräsenz wissen wir aber, dass diese sichere Welt bereits wenige Zentimeter hinter unseren Grenzen enden kann. Und was im Moment noch draußen vor der Tür ist, kann plötzlich auch drinnen im Raum sein.

Wir leben also tatsächlich in einem “Königreich der Angst”. Noch nie konnte die Menschheit vor so vielen Dingen gleichzeitig Angst haben und noch nie konnte diese Angst gleichsam so signifikant und gleichsam irrational sein. Wir wissen Bescheid über das, was überall auf der Welt passiert und kennen auch die Gründe, warum es passiert – und warum auch wir davon betroffen sind/sein werden. Und doch sind die wenigsten Menschen in der Lage, etwas zu ändern oder sie zögern oder sie verdrängen schlicht, dass etwas getan werden müsste.

Tief drin kann der Mensch auf Angst nur auf zweierlei Weisen reagieren: Flucht oder Angriff. Resignation oder Wut. Und so nehmen einerseits die Schuldzuweisungen zu, andererseits die Ignoranz – die sich auch beide noch bedingen. Wie kann dieser Teufelskreis bezwungen werden?

Martha Nussbaum zeigt in ihrem großartigen Buch, wie die Mechanismen der Angst unser Denken und Handeln, unsere Politik und unser Weltbild durchdringen. Und sie zeigt auch auf, wie wir unseren Fokus verschieben und unser Denken und Fühlen neu ausrichten können. Jede/r sollte dieses Buch lesen!

Eine wichtige Schrift, die Rassismus auf den Punkt bringt


How to be an antiracist

„Genauso funktionieren rassistische Ideen und Mechanismen – und generell jede Form der Intoleranz: Wir werden dahingehend manipuliert, dass wir die Menschen als das Problem sehen und nicht die Politik, die sie hereinlegt.“

Es gleicht einem schweren Urteil, wenn man heute jemandem unterstellt, eine Aussage oder eine Handlung sei „rassistisch“. Als Feststellung kann eine solche Aussage kaum gelten – fast immer wird sie als Angriff, zumindest als Feindseligkeit ausgelegt. Anders gesagt: ein unaufgeregter, neutraler Diskurs über Rassismus ist kaum möglich. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, schließlich reden wir von massiver Ungerechtigkeit, jahrhundertelanger Unterdrückung und fortdauernder Marginalisierung. Andererseits wäre ein halbwegs sachlicher Diskurs über Rassismus wichtig, damit es nicht einfach nur um Schuldige und Opfer, sondern um die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft gehen kann.

Erstmal ist Rassismus kein Schimpfwort, sondern die geäußerte, verinnerlichte oder zumindest unbewusst angenommene Überzeugung, dass es so etwas wie Merkmale gibt, die bestimmte Menschengruppen teilen und – dies der verwerfliche Aspekt des Ganzen, der Rassismus zu einem Übel macht – das man von diesen Merkmalen und der Zugehörigkeit zu jener Menschengruppe Rückschlüsse auf den Charakter und Status eines einzelnen Menschen ziehen kann.

Es gibt diese Überzeugung in verschiedenen Ausprägungen: es gibt vehemente Verfechter und es gibt Gesellschaften in denen bestimmte Formen des Rassismus sehr präsent sind, geradezu verankert, so zum Beispiel in großen Teilen der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber letztlich hat fast jeder Mensch hier und da rassistische Tendenzen. Sie gehören zu den normalen Vorurteilen, dem schematischen Denken, mit denen wir die Welt einteilen, erklären. Teilweise beruhen Vorurteile auf eigenen Erlebnissen, die wir haben, teilweise bekommen wir sie anerzogen, von den Eltern oder den Gesellschaften, in denen wir leben – zumindest werden wir mit einigen so oft konfrontiert, dass wir sie teilweise übernehmen, wenn wir nicht das Glück haben, Erfahrungen zu machen, die den uns umgebenden Meinungen widersprechen. Wir sind also alle, auf gewisse Weise, Rassisten/Rassistinnen. Leugnen ist dabei der erste Schritt in die falsche Richtung.

„Leugnen ist der Herzschlag des Rassismus, der quer durch alle Ideologien, Races und Nationen pulsiert. Er schlägt in uns. Viele, die Trumps rassistische Ideen anprangern, leugnen ihre eigenen.“

Wie können wir der Falle entgehen, einen Rassismus gegen den anderen auszuspielen und wirklich antirassistisch werden, also uns von Vorstellungen lösen, die glauben, ein Individuum über seine Hautfarbe, seine sexuelle Orientierung, seine Herkunft, sein Geschlecht, etc. definieren zu können, nicht über seine individuellen Meinungen und Handlungen?

Nun, hier in Ibram X. Kendis Buch finden wir eine Anleitung zu genau diesem Thema. Es ist eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund des Rassismus in den Vereinigten Staaten, aber auch ein Leitfaden für die Bekämpfung rassistischen Denkens und Handelns, spezifisch und generell.

„Ich glaube nicht mehr länger, dass eine schwarze Person nicht rassistisch sein kann. Ich lasse nicht mehr jede meiner Handlungen davon bestimmen, wie ein imaginärer »weißer« oder »schwarzer Richter« sie beurteilen würde, versuche nicht mehr, weiße Menschen davon zu überzeugen, dass ich ein gleichwertiger Mensch bin, und Schwarze Menschen davon, dass ich eine Race gut vertrete. Ich schere mich nicht länger darum, wie die Handlungen anderer Schwarzer Menschen auf mich zurückfallen, denn keiner von uns ist ein Repräsentant von Race, und kein Individuum ist verantwortlich für die rassistischen Vorstellungen eines anderen.“