Man sollte das Leben leben und nicht versuchen, es zu verstehen. Wer geneigt ist diesem Satz zuzustimmen, dem*der ist von der Lektüre der Romane von Kazuo Ishiguro eher abzuraten, insbesondere von einer Lektüre der „Ungeströsteten“.
„Die Unerhörten“, das wäre auch ein guter Titel für dieses Buch gewesen, auch wenn es den Originaltitel „The Unconsoled“ nicht ganz korrekt wiedergeben würde. Aber es geht in diesem Buch um die Unvereinbarkeit von Leben und Anspruch, Leben und Vorstellung, Leben und Sehnsucht, Leben und Traum. Und wie ließe sich diese Diskrepanz besser ausdrücken als mit dem Wort unerhört, in dem sowohl der Furor, das Klaffende dieser Diskrepanz steckt, als auch die schlichte Feststellung, dass es niemanden gibt, an den wir uns mit diesem Furor, diesen Sehnsüchten, dieser Ungerechtigkeit wenden können. Das menschliche Leben bleibt unerhört, in zweierlei Hinsicht.
Das Unerhörte, das war auch die Domäne eines anderen Autors, den man nicht jedem*r zur Lektüre empfehlen kann und der bei Ishiguros Buch eindeutig Pate stand: Franz Kafka. Ishiguro hat aber gar nicht erst versucht diesen Meister des Satzes und Stils zu kopieren oder gar zu potenzieren (außerhalb der deutschen Sprache ist dies wohl auch nur schwer möglich), vielmehr hat die Motive seiner Werke geschickt aufgefächert.
So ist vieles in „Die Ungetrösteten“ nicht mit jener genuinen Bedrohlichkeit aufgeladen, die in den meisten von Kafkas Werken, vor allem in den Romanen, so unabwendbar präsent ist (wie etwa bei Julio Cortázar. Obgleich es auch in den Ungeströteten immer wieder kurze Momente gibt, in denen sich eine Situation kafkalike zu verdichten droht). Ishiguro konzentriert sich weniger auf die Vergeblichkeit der Umstände und vielmehr auf die Vergeblichkeit des Individuums – und überführt damit auf gewisse Weise die Thematiken von Kafkas Werk in die Nachkriegsmoderne.
Denn wo es bei Kafka die Bürokratie, die unkörperhaften Autoritäten waren, von denen das Chaos ausgeht, liegt bei Ishiguro die Wurzel des Chaos eben im Individuum selbst und seinen Beziehungen zu anderen Individuen, nicht in den Fragen nach dem Platz im System, sondern den Fragen nach dem guten Leben, den richtigen Prioritäten, den Wegen, für die wir uns, völlig unabhängig von irgendeiner Autorität, entscheiden.
„Die Ungetrösteten“ spielen viele Aspekte dieser Problematik des Individuums und seiner Haltlosigkeit im Angesicht seiner Möglichkeiten und Verpflichtungen durch – mitunter langatmig, ermüdend, dies sei eingestanden. Aber letztlich lässt sich manches Thema nur mit dieser ausufernden Tendenz erschließen. Oder anders gesagt: Man kann nicht immer einfach nur eine Geschichte erzählen, manchmal muss ein Schicksal zugespitzt werden, muss ein Text über die Grenzen der anschaulichen Darstellung hinaus ins Erschöpfende sich strecken, um den Kern einer Erkenntnis wirklich offenlegen, berühren zu können.
Ishiguro gelingt es eine ganze Palette unterschiedlicher Dilemmata und Lebensbrüche in seine Erzählung zu weben, während sein Protagonist wie in einem endlosen (Alp-)Traum, kopflos und doch immer voller Absichten, Ideen und Hoffnungen, durch die Kulissen dieser Dilemmata stolpert, zum Teil Protagonist, zum Teil nur Anlass für die anderen Figuren, ihre Zweifel, Traumata und Ängste offenzulegen. Wie bei Kafka ist die Lektüre dieser Havarie nicht durchgehend unterhaltsam (obgleich es herrliche und erschütternde Momente gibt), zumindest nicht, wenn man nicht mitbedenkt, worauf die einzelnen Darstellungen abzielen: Life in a nutshell. Alle sind auf der Suche nach der Perle und verstehen nicht, dass sie sie nie finden können, weil sie überall ist und nirgendwo, zu groß um aufgelesen, besessen zu werden und ständig sieht man sich in ihr gespiegelt.
Ich hoffe nun kann jede*r selbst entscheiden, ob er das Abenteuer dieses Buches wagen will. Belohnt wird man vielleicht nur mit der Erkenntnis, dass man selbst auf die eine oder andere Art und Weise ein*e Ungeströtete*r ist. Wie viel das Wert ist, wer kann das sagen. Eine intensive Erkenntnis ist es aber nichtsdestotrotz.
Schön, aber warum diese Sternchen? Heißt das, ich lebe im Zeitgeist? habe mich dem Druck angepasst? Muss man Pipi Langstrumpf und Robinson Crusoe umschreiben? Danke jedenfalls für deine Bemühung uns Lesern zu sagen was du über deine gelesenen Bücher denkst. Du machst das gut. Grüße, Ernestus
Lieber Ernestus,
danke für den Kommentar. Freue mich, wenn Leser*innen meine Buchbesprechungen als gewinnbringend empfinden.
LG
Timo
P.S.: Warum keine Sternchen? Robinson Crusoe überhaupt je gelesen? Warum so ein großes Gewese darum machen, dass manche Gepflogenheiten sich halt ändern, vor allem wenn man selbst davon nicht wirklich tangiert wird (es sei denn man besteht darauf, völlig unnötigerweise empört darüber zu sein, statt sich über Dinge zu empören, die wirklich empörenswert sind).