Unter dem neuen Reiter Podcast “Erlesen” findet man ab jetzt die erste Folge. Dort spreche ich über Lektüren, neue und alte Bücher und Literatur im Allgemeinen.
Monthly Archives: April 2021
Diese Siege über uns selbst …
Es ist eines dieser Bücher, die -schwupps- vorbei sind. Vielleicht haben gerade Interview/Gesprächsbände das so an sich, weil man das Gefühl hat, einer Konversation beizuwohnen und nicht Handlungsabläufen, Spannungsbögen, die steigen und fallen, folgen muss. Jedenfalls gingen bei mir schon die André Müller-Bände immer schnell um und auch “Die Herzlichkeit der Vernunft” hat bei mir nur einen Tag gehalten.
Doch dieser Tag war dann geprägt von vielfältigen Überlegungen, auch im Nachhinein. Ich musste unwillkürlich an Jorge Luis Borges und seine Gespräche mit Osvaldo Ferrari denken, die erst jüngst wieder im Kampa Verlag auf Deutsch aufgelegt wurden. Ähnlich wie dort, drehte sich auch bei Kluge und Schirach das Gespräch immer um Grundsätzliches, aber mit einer Lässigkeit und Sprunghaftigkeit, die dem Gespräch etwas fast schon Revueartiges verleiht – die Geschichte und die großen Ideen paradieren vorbei, mit Pomp und Grazie.
Im Buch enthalten sind fünf Gespräche, nebst einem Text von Kleist, der einem der Gespräche nachgereiht ist, weil er in ihm erwähnt wird (was ich allerdings für nicht so wichtig halte, aber gut). Den Titeln nach geht es in den Texten um die Persönlichkeiten Sokrates (und die Bescheidenheit), Voltaire (und die Toleranz), Kleist (und das Wissen), sowie die Themen Terror (und das Rechtswesen) und Politik (und die Langsamkeit).
Natürlich sind diese Titel vor allem Ausgangs- und Angelpunkte, um die herum Schirach und Kluge ein Feuerwerk an Anekdoten, Ideen und Exkursen abbrennen. Dabei geht es, wie bereits erwähnt, mitunter etwas sprunghaft zu und in manchen Fällen hat man eher das Gefühl, dass die beiden Gesprächspartner voreinander dozieren, statt wirklich miteinander zu sprechen, gezielt aufeinander einzugehen.
Das würde stören, wäre man einer dieser Gesprächspartner, aber als Beisitzer*innen wird den Leser*innen so allerhand geboten, vom kleinen Aperçu bis zur grundsätzlichen Erläuterung. Schirach tut sich natürlich vor allem auf dem Gebiet des Rechts hervor, immer wieder bringt er aber auch anderswo gute, knappe Erläuterungen an, während Kluge mehr die Universalgeschichte zitiert, wie immer es sich gerade anbietet, hintergründig, schelmisch, weise.
Am Ende bleibt wenig Markantes, aber man hat doch das Gefühl, sein Bewusstsein in mancher Hinsicht erweitert und geschärft zu haben. Es ist zudem ein Büchlein, dass man sicher mehrfach zur Hand nehmen kann und nicht weglegen wird, ohne wieder von einem interessanten Gedanken in Beschlag genommen worden zu sein.
Nicht zuletzt ist das Buch ein teilweise anrührendes Dokument zum Dilemma “Mensch”, diesem Wesen, das so viel erreicht hat und doch immer noch an den kleinsten Hindernissen scheitert. In einer Nebenbemerkung spricht Schirach von der Ideengeschichte als Geschichte der “Siege über uns selbst”. Das finde ich ist sehr passend gesagt und genau diese Siege über uns selbst führen Kluge und Schirach auf vielfältige, teilweise komische, teilweise eindringliche Art und Weise vor.
Auswahl aus Johann Jakob Sprengs Deutschem Wörterbuch
Also, Hand aufs Herz (nicht direkt drauf natürlich, lieber auf die Haut darüber) verehrte Leser*innen, wissen Sie was fucken bedeutet? Sie glauben vielleicht es zu wissen und sind dann basserstaunt, wenn Sie erfahren, dass es „diebischer Weise zu sich stecken“ bedeutet. Oder zumindest bedeutet hat.
Sprache ist und war schon immer ein sich ständig veränderndes Konzept, voller regionaler Modifikationen und Eigenheiten. Immer wieder werden zweckmäßige und hippe Begriffe Teil des Wortschatzes – und andere Worte verschwinden oder fristen ein abseitiges Dasein in eher obskuren Publikationen und Kreisen.
Nun gibt es aber zum Glück Aufzeichnungen, die gesamte Literatur der Vergangenheit ist im Prinzip auch eine Fundgrube verschwundener, aus der Mode gekommener Begriffe und Redensarten. Und es gibt Sammler, die diese Fundgrube bereits erschlossen haben oder dies zumindest versuchten.
Johann Jakob Sprengs Wörterbuch, im Original ein Monstrum von über 100.000 Artikeln, stellt sich in dieser Auswahl schon als maßgebliches Werk eines solchen Erschließers da und zugleich eine wunderbare Reise in die verschiedenen Kosmen der deutschen Sprache, vom Schweizer Tiefland bis an die Nordsee, vom vergessenen Kompositum bis zur sehr schrägen Mundartvariante.
So lernt man, dass ein Rasenkux ein unerbautes Feld ist, ein Commentichen nicht etwa ein niedlicher Kommentar, sondern eine Senf-Schüssel, eine Stammblütsche keine Wurst, sondern das untere Ende eines gestutzten Baumes und yselen zufrieren bedeutet.
Es gibt natürlich auch viele weniger aufregende Begriffe (dass ein „Schriftdieb“ ein Plagiator ist, versteht sich nicht nur von selbst, es ist auch nicht unbedingt ein bereicherndes oder schönes Wort), aber dennoch macht es Spaß in dem Buch zu blättern und auch immer wieder die von Sprenger mit einem Stern versehenen (besonders wertvollen) Worte zu bestaunen.
Alles in allem: ein tolles Buch, das in keiner Bibliothek fehlen sollte, zumindest in keiner von Wörterbuchfreund*innen.
Eine intensive, kluge, tolle Lektüre
Es kommt vor, dass schon die ersten Absätze eines Buches eine freudige, bange Erwartung in mir entfachen: ist dies etwa eines der Bücher, dessen Inhalt ich nicht bloß nachvollziehen kann, vielleicht sogar durchdringen, sondern das mich und meine Gefühle, Erlebnisse, Gedanken auf direktem Wege zu ergründen weiß, das in den Kern meiner eigenen Sehnsüchte, Erfahrungen und Fragen vorstößt?
Nicht oft tritt diese Erwartung auf und noch viel seltener trifft sie zu. Aber man kann von ihr nicht lassen, denn welche Lektüren wären kostbarer als jene, die einem so nahegehen (oder -gingen)? Zumindest ich erwische mich dabei, dass ich solche Bücher mit einer ganz besonderen Zärtlichkeit umhege, auch Jahre später noch.
Vor zwei, drei Jahren dachte ich, ich wäre wieder auf ein solches Buch gestoßen: als ich die ersten Seiten von Erich Wolgang Skwaras „Die heimlichen Könige“ las. Doch stellte sich bald heraus, dass das Buch, obgleich es sicher kein schlechtes ist, die Intensität, mit der es einsetzte, nicht durchhalten konnte und alsbald in Wiederholungen verfiel, sich verzettelte. Aber seitdem trug ich ein Gefühl mit mir herum, dass die ersten Seiten beschworen hatten und die Erwartung, irgendwo könnte ich es ausgedrückt finden. Und mit einem Mal kommt Daniela Engists „Lichte Horizonte“ daher und serviert mir das Gefühl, nein: haut es mir um die Ohren, legt es mir heiß auf die Haut.
Es ist die Krux intensiver Lektüren, dass ihre Beschreibung große Begriffe zu verlangen scheint, die für die Leser*innen, die bisher nicht diese Erfahrung gemacht haben (oder vielleicht auch nicht machen werden – nicht jede*n haut jedes Buch aus den Socken), schlicht wie Geheischtes, Abstrahiertes, Ominöses wirken. Ich werde mich also bemühen, nicht allzu hoch zu greifen, bitte aber um Nachsicht.
Eigentlich ist der Plot von Engist Buch ziemlich unspektakulär: Eine (Mitte-Ende) vierzigjährige Frau, seit 20 Jahren verheiratet, Mutter zweier Kinder und seit kurzem auch Romanautorin, hat bei einem Festival einen französisch-deutschen Chansonnier kennengelernt, mit dem sie jetzt auch über E-Mail in Kontakt steht („Gut gegen Nordwind“ lässt nicht grüßen, keine Sorge). Vor dem Hintergrund des intensiven, erotisch untermalten Austausches mit ihm, lässt sie ihr ganzes Liebesleben noch einmal Revue passieren, spürt ihren eigenen Sehnsüchten von damals und heute nach, erforscht die Illusionen und Wirklichkeiten ihres Begehrens, die Geschichte ihrer verpassten Chancen und ambivalenten Entscheidungen.
So weit so gut, aber derlei verspricht noch nicht unbedingt eine anregende, intensive Lektüre. Das „Lichte Horizonte“ aber genau das ist, eine in jeder Hinsicht anregende und immer wieder intensive Lektüre, verdankt das Buch einer Kombination aus der Intelligenz der Autorin und ihrer Bereitschaft, dahin zu gehen, wo sich Kitsch und Kunst, Gefühlsgewalt und bloßes Flirren, verständlicher Schmerz und undeutlicher Jammer auf engem Raum tummeln und man sehr behutsam und doch entschlossen vorgehen muss, um das eine vom anderen zu trennen.
Engist findet genau den richtigen Ton – besser gesagt die richtigen Töne, sie variiert ihren Stil gekonnt – um sich in diesem Raum zu bewegen. Mit unverschämter Leichtigkeit erforscht sie die Welten der schön-schmerzlichen Vergangenheit, kombiniert die Weisheit von Lektüren mit dem schmalen Stich der hartnäckig(en,) übersehenen Fragen und führt uns vor, wie Umstände ein Leben kreieren, warum aber die Essenz dieses Lebens immer jene dünne Haut aus Wünschen, Empfindungen und Gedanken bleibt, an der alles Faktische und Wirkliche letztlich nur anbrandet wie das Wasser an den Klippen, die nicht nachgeben, bis sie eines Tages hinabstürzen.
Noch etliche weitere Vorzüge könnte man nennen, z.B. wie geschickt Engist die intime und schonungslose Stimmung des Werkes aufrechterhält, indem sie mit dem autobiographischen Gehalt des Buches spielt. Wie sie überhaupt die Spannung und Intensität des Buches durch eine gute Balance aus Erinnerungs- und Handlungspassagen erschafft, durch Verdichten im einen und Ausführen im anderen Moment. Weitere Vorzüge werden die Leser*innen selbst auffinden müssen.
Am Ende bleiben viele Fragen (mindestens so viele wie die Anzahl der Steine, die man am Strand sammelt), viele zitierwürdige Passagen, mit denen man ein eigenes Zitatenbuch starten könnte – und, nicht zuletzt, viel vom Buch auf die Leser*innen übertragene Sehnsucht, Nostalgie, sowie der Wunsch sein Leben (neu) zu gestalten. „Lichte Horizonte“ ist ein Buch, das zur Einkehr anstiftet und zugleich hungrig macht auf das Lebendige, Erfüllende, Haltlose. Kurzum: ein richtig gutes Buch, zumindest für jene, die nicht nur unterhalten, sondern auch erschüttert und inspiriert werden wollen. Die es mögen, wenn ein Buch Wellen schlägt in einem. Und unter die Haut geht.