Monthly Archives: August 2021

Von Glanz und Ende einer Kindheit unter dem Zeichen von Kramp und Desaparecidos


Desaparecidos, mit diesem Namen werden in einigen Ländern Südamerikas, in denen es in den 60er, 70er, 80er und 90er Jahren Militärdiktaturen gab, zur damaligen Zeit von der Regierung verschleppte und ermordete Personen bezeichnet. Es sind “Verschwundene”, bei denen Familie und Freunde vom einen auf den anderen Tag nicht mehr wissen, was mit ihnen geschehen ist.

Was hat dieser Hinweis mit María José Ferradas Romandebüt um einen Eisenwaren-Vertreter und seine Tochter zu tun? Nun, alles und nichts. Die genauen Zusammenhänge zu verraten, das würde einem Spoiler gleichkommen, aber zusammenfand lässt sich sagen: Über weite Strecken ist “Kramp” die Erzählung einer Kindheit, bei der die oben genannten Verbrechen gegen Ende hin eine Art Katalysator darstellen, die das Ende der Kindheit und auch das Ende einer Vater-Tochter-Beziehung einleiten und beschleunigen.

Zum Inhalt:

Die namenlose Ich-Erzählerin wächst damit auf, dass ihr Vater D. von Dorf zu Dorf fährt, um in Eisenwarenhandlungen Produkte der Marke Kramp anzupreisen. Ihre ganze kindliche Welt ist erbaut auf den Lebensweisheiten des Vertretergewerbes und einer magischen Fülle von Schlössern, Fuchsschwänzen (eine Säge), Türspionen, Nägeln und anderen Produkten aus dem Katalog der Marke Kramp. Droben im Himmel kann nur ein großer Baumeister sitzen, die Sterne am Himmel sind glänzende Heftzwecken und ein Haus, das mindesten zu 80 % aus Kramp-Produkten besteht, kann niemals einstürzen.

Schnell will die Erzählerin ihrer Faszination rund um die Uhr nachgehen und aus Vater und Tochter wird ein Vertreter*innengespann, bei dem die Tochter vor allem für den subtilen Druck auf die jeweiligen Verkäufer*innen zuständig ist, indem sie sie durchdringend anschaut, manchmal auch Kummer in ihren Gesten zum Ausdruck bringt, während der Vater mit ihnen verhandelt. Sie lernt die Lebenswelt der Vertreter noch genauer kennen und trifft sogar einige Kollegen ihres Vaters, mit denen dieser sich in Cafés oder auch bei Kund*innen und in Hotels trifft. Bald hilft sie auch D. Kollegen S. beim Verkauf von Drogerieartikeln. Und dann ist da noch der Filmvorführer E., mit dem der Vater befreundet ist und den er ab und zu mitnimmt zu Dörfern, in denen E. versucht, Geister zu fotografieren …

Vorangestellt ist dem Roman ein Zitat aus dem Film “Paper Moon” aus dem Jahr 1973. Oberflächlich gesehen hat das Buch von Ferrada mit diesem Film über einen Trickbetrüger und ein Findelkind lediglich gemein, dass die Erzählerin des Buches, ebenso wie das Findelkind, sehr früh zu rauchen beginnt und man in ihren Versuchen, die Ladenbesitzer*innen zu verunsichern, auch eine Art von Trickbetrug sehen könnte, zumal der Vater (und später ein Kollege) oft behaupten, dass sie krank oder ihre Eltern tot sein.

Man könnte es aber auch so sehen, dass beide Geschichten Tragödien im Gewand einer Komödie sind. Über weite Strecken ist Ferradas Buch durchzogen von der kindlichen Freude am Kramp-Weltbild, das für die Leser*innen natürlich in vielerlei Hinsicht eine eigenwillige Komik besitzt. Zwar tauchen früh erste Anzeichen auf, dass es Dinge gibt, die im Argen liegen (hier spielt vor allem die Mutter der Erzählerin eine Rolle, deren Schicksal mit dem der Desaparecidos verknüpft ist, aber auch disfunktionale Familienverhältnisse werden angeschnitten, Alkoholismus, Armut, etc.), aber über 2/3 des Buches federt die tiefe Zuneigung der Erzählerin zum Milieu und zur Tätigkeit ihres Vaters diese dunkleren Aspekte ab.

Auch in “Paper Moon” erleben die Zuseher*innen eine heiter dargebrachte Story, deren Elemente (Verlust der Eltern, Rücksichtslosigkeit, Wirtschaftskrise, Trickbetrug, Eifersucht, etc.) aber eher auf eine Tragödie hinweisen. Während der Film allerdings bis zum Ende immer ein bisschen über den Dingen schwebt, sich auf und ab bewegt, werden die Leser*innen des Buches gegen Ende hin, zusammen mit der Erzählerin, unabänderlich auf den Boden der Tatsachen geholt.

Würde man das Buch auf autobiografische Ansätze zurückführen, wofür es mir aber jetzt an Informationen fehlt, so könnte sich in dieser Abweichung zwischen Film und Wirklichkeit auch das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenseins ausdrücken: In der Kindheit kann alles noch irgendwie richtig sein wie es ist (muss es vielleicht sogar, in unseren Köpfen) und es kann einfach so weitergehen, denken Kinder, und Erwachsenwerden heißt, dass man lernt, dass manche Dinge nicht richtig sind wie sie sind und dass es nicht immer so weitergehen kann.

“Kramp” ist eines dieser Bücher, bei denen man erst gegen Ende merkt, wie raffiniert sie gebaut sind und wie geschickt sie uns bestimmte Themen untergejubelt haben. Es wirkt zunächst wie eine launige Posse, eine Wiederbelebung des magischen Realismus mit einem Schuss Oulipo, wird aber letztendlich zu einem Text, der Grundsätzliches dort verhandelt hat, wo man als Leser*in davon überzeugt war, dass er sich exzentrisch seinen Themen auslieferte.

Die Frauen in der Revolte


Schon im Vorwort macht die Autorin Valentina Grande klar, dass der Titel ihres (und Eva Rossettis) Comicbandes natürlich nicht enzyklopädisch gemeint ist und Frauen, die die Kunst revolutioniert haben keinen Anspruch auf vollständig erhebt. Die vier Kapitel des Bandes sollen ein möglichst anschaulichen Einblick in die Welt der feministischen Kunst und ihre Akteurinnen liefern und deren Anteil an der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts würdigen und bekannter machen.

Im Zentrum der Kapitel stehen die Künstlerinnen Judy Chicago, Faith Ringgold, Ana Mendieta und die Guerrilla Girls, eine Gruppe von anonymen Künstlerinnen und Aktivistinnen. Allerdings wird in den einzelnen Lebensgeschichten auch Bezug auf andere bekannte Künstlerinnen Bezug genommen (bspw. Miriam Schapiro, Marina Abramovic, Yoko Ono, Georgia O’Keeffe oder Eva Hesse; hinten im Buch gibt es dann noch eine Portraitliste). Meist greift Grande ein paar zentrale Augenblicke im Leben der Frauen heraus und entfaltet von dort ein kleines Panorama ihres Wirkens. Dabei geht es auch um verschiedene Aspekte, von Körper über Rassismus, Identität bis zu der Frage von Repräsentation.



Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen enttäuscht war von den einzelnen Darstellungen der Lebens- und Werkgeschichten, die mir wie Abrisse und nicht wie echte Auseinandersetzungen erscheinen. Der grafische Teil ist dagegen in jeder Hinsicht schön gestaltet und die Informationen, die man erhält, sind wohl auch mehr als Einstieg in eine tiefere Auseinandersetzung gedacht. Trotzdem finde ich, dass das Buch leider nicht wirklich den Tatbestand der Graphic Novel erfüllt. Eine treffendere Bezeichnung wäre vielleicht Short Cuts oder etwas in der Art gewesen.

Abseits dieser Kritik bin ich natürlich sehr froh, dass es dieses Buch gibt und gerade als Anstoß zur weiteren Beschäftigung ist es zu empfehlen – und als Würdigung der Künstlerinnen ohnehin eine feine Sache. Ich lege das Buch also allen ans Herz, die auf feministische Kunst aufmerksam werden oder eine schön gestaltete Hommage an einige Vertreterinnen bei sich im Bücherschrank haben wollen.

Der Geschichtenermöglicher


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Bob Dylans 80. Geburtstag ist nun schon eine Weile her und ebenso meine Lektüre dieses Buches (lange fiel es mir schwer dazu etwas zu schreiben; immernoch, wie man wohl sehen wird) mit Geschichten rund um den Sänger mit der quäkigen Stimme und der gewaltigen Fantasie. Den Homer unserer Zeit nennt ihn der Herausgeber Maik Brüggemeyer und noch so einiges anderes, das meiste davon ist allerdings sehr treffend, es ist ein schönes Vorwort, das gerade in seiner Schönheit ein bisschen seinen Schatten auf manche der folgenden Texte wirft.

Denn der Ausbund an Geschichten, der diesem Vorwort dann folgt, ist einerseits beachtlich, andererseits dermaßen wild durcheinandergewürfelt, dass dem Rezensenten schon das Wort “beliebig” auf der Zunge liegt, er sich schon aufs Nörgeln einstellt – aber, halt. Moment.

Denn ist nicht gerade das die einzig richtige und mögliche Form der Huldigung, wenn es um Robert Zimmermann geht: die facettenreiche? Ist der Facettenreichtum nicht auch seine größte Stärke, seine Wandel- und Unberechenbarkeit? Insofern ist die Heterogenität des Bandes gerechtfertigt, vielleicht sogar notwendig.

Trotzdem gibt es natürlich Texte, die herausstechen und andere, die nicht so recht zu überzeugen wissen. Die erste Geschichte von Frank Goosen hat noch eine schlichte, aber wirksame Manier (davon gibt es einige im Buch) und Simple Twist of Fate von Marion Brasch arbeitet gut mit den diffusen Aspekten von Dylans Musik. Aber Tom Kummers Geschichte zu Ballad of a thin man fand ich zum Beispiel reichlich profan, ebenso erschien mir Judith Holofernes Kurzauftritt zu I want you ein bisschen luftleer.

Sehr interessant fand ich dagegen den Text von Stefan Kutzenberger, in dem er, ausgehend von dem Song Let it be me von Dylan, die Geschichte einer Paarbeziehung und gleichsam noch die Geschichte eines übergreifenden Narratives in Hollywoodfilmen, an denen dieses Paar beteiligt ist, erzählt.

Komisch und herrlich ist auch Michael Köhlmeiers Episode über ein Treffen zwischen Dylan und der Schachlegende Bobby Fischer. Und geradezu wundervoll, wie Ilona Hartmann sich einfach vom Topos Dylan löst und trotzdem die Berührungen seiner Musik in ihrer Geschichte mitschwingen lässt.

Auch Stella Sommers Text hat mir gefallen, er ist persönlich und schlägt doch am Ende einen wunderbaren Bogen zu einem der wichtigsten Aspekte von Dylans Anfängen, nämlich dem Einfluss, den Woody Guthrie auf ihn hatte; ich glaube Dylan würde es sehr begrüßen, dass er Erwähnung findet.

Bei manchen Texten ist mir etwas zu viel Selbstdarstellung enthalten (bspw. Knarf Rellöm und Bernadette la Hengst), bei manchen vielleicht auch zu wenig. Einer der wenigen wirklich originellen Texte (was für sich noch nicht unbedingt eine Qualität ist, hier allerdings schon) stammt von Jan Brandt, Darin wird eine alternative Bewegung mit Meinungen von außen, zu ihrer Konzeption und ihren Aktionen, konfrontiert. Ich mag den Text, weil hier auch die Ambivalenz ins Dylans Musik eine Rolle spielt, in eine Geschichte übersetzt wird.

Hat Dylan den Beatles das Kiffen nähergebracht? Hatte er ein geheimes Aufnahmestudio im Süden von Mexiko? Und worum zum Teufel geht es denn nun in “Ballad of a thin man”? Nun, das sind jedenfalls alles gute Geschichten, die von ihm und um ihn, und letztlich geht es bei Dylan ja darum: er erzählt gute Geschichten, die irgendwie alle Rätsel sind und irgendwie alle Parabeln; und gibt auch Anlass zu guten Geschichten, ist, wie Brüggemeyer im Vorwort schrieb, ein Geschichtenermöglicher.

Diese Anthologie zollt dieser Qualität mit ihrer Vielfalt an Texten Respekt und weiß durchaus zu unterhalten, nicht immer, aber oft genug.

Dem eigenen auf den Grund, die Gründe


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Wenn du dem Kern der Geschichte nicht nahekommen kannst, dann stimmt etwas mit der Erzählweise nicht.

Vermutlich gibt es kein Buch, dass angehenden Schriftsteller*innen beibringen kann, gute Bücher zu schreiben (es mag allerdings manche geben, die sie vor den ersten Fehlern bewahren und ihnen eine Menge Zeit sparen). Manche Autor*innen aber vermögen einen guten Einblick in ihr Handwerk zu geben und daraus lassen sich dann durchaus einige Rückschlüsse ziehen, was das Schreiben generell angeht; diese Einblicke taugen nicht als Richtlinien, aber vielleicht doch als Wegweiser.

Neben Mario Vargas Llosas Briefe an einen jungen Schriftsteller und Geheime Geschichte eines Romans ist Terézia Moras Nicht sterben bisher eines der besten Bücher, dass ich über das Handwerk des Schreibens gelesen habe. Natürlich gibt es zahllose Ratgeber auf diesem Gebiet (zu den besseren gehört hier noch Schreiben für ewige Anfänger von Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger), aber dergleichen erscheint mir oft zu anorganisch, statisch, beflissen.

Da sind mir Berichte aus der Werkstatt wie bei Llosa oder hier bei Mora lieber. Allein schon deshalb, weil sie neben den Einblicken in die Entstehung von Texten auch die Hintergründe und Verbindungen zum Leben des*der Schreibenden offenlegen. So kann man als Leser*in direkt eine der wichtigsten Grundlagen des Schreibens begreifen: dass dieser Tätigkeit keine Alternative zum Leben ist, keine andere Welt, sondern sehr eng mit dieser verbunden ist, nur aus einem Zwischenspiel heraus entsteht.

Manche meiner Recherchegänge bestehen ausschließlich aus Verirren. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise eben nicht das finde, was ich mir zu finden vorgenommen habe, sondern das, was wirklich da ist.

In fünf Kapiteln breitet Mora ihre literarische Biografie aus. Sie beginnt beim ersten Buch, dem Erzählband “Seltsame Materie” und schildert, warum die Erzählungen so und nicht anders entstehen konnten, wie die zentralen Erfahrungen ihrer Kindheits- und Jugendjahre die Texte inhaltlich aber auch formal prägten.

Schon dieses erste Kapitel bringt den Leser*innen die Essenz von guter Literatur nah: Notwendigkeit. Es mag hübsche Geschichten geben, unterhaltsame Bücher, die nicht aus Notwendigkeit, einem inneren Bedürfnis, einem Verlangen nach Bericht, nach Niederschrift, entstanden sind. Aber Kunst entsteht, so würde ich behaupten (und Mora würde da glaube ich zustimmen) aus Notwendigkeit (wobei nicht automatisch Notwendigkeit gute Kunst hervorbringt).

Auch die weiteren vier Kapitel halten zahllose anschauliche Details über das Schreiben, über Konzeption und Figurenaufbau bereit. Mora zeigt, wie bestimmte Entscheidungsprozesse vonstattengehen, warum sie an manchen Aspekten zunächst scheiterte und wie sie dieses Scheitern durch neue Ansätze überwand.

Wer sich dafür interessiert, wie Leben und Werk zusammenhängen und was es bedeutet, schriftstellerisch tätig zu sein, dem kann ich Nicht sterben nur ans Herz legen. Und wer Passagen wie die folgende gern liest, ist auch herzlich eingeladen, den neben allem anderen ist das Buch natürlich auch ein stilistischer Genuss, voller Erkenntnisse und Ideen, die wie nebenbei auftauchen und dennoch Eindruck hinterlassen.

Zusammengefasst kannst du dein Eigenes gefunden haben, aber das bedeutet noch lange nicht, das bedeutet keineswegs, nicht im Geringsten, dass deswegen etwa Extraraum und Extrazeit im Universum dafür entstanden wäre. Nix. Stattdessen: Tage, an denen sich alles und jeder dagegen verschworen zu haben scheint, dass du dein Eigenes tust. Von früh um 5, wenn du denkst, ihnen zuvorkommen zu können, bis um Mitternacht, wenn du schließlich aufgibst: Gezerr und Geschrei, wohin du dich auch wendest. [] Es ist weder mehr Raum noch mehr Zeit dafür, es ist nur da, was immer da war: das ununterbrochene Strömen der Welt, und das Wenigste davon ist so, dass es die Klarheit der Gedanken und Empfindungen fördert. Zwischen dir und der Welt besteht die ungleiche Situation, dass sie: ist, während du: versuchst, etwas zu tun.