Zu Beginn des Romans „Blaue Frau“ sind die Leser*innen mit einer Situation konfrontiert, zu der erstmal keine Erklärung gereicht wird, sondern die ganz für sich steht: ein Zimmer, eine Frau. Sie ist in einer ihr fremden Gegend und harrt anscheinend aus. Sie ist erschüttert, tief in ihrer Psyche. Immer wieder erscheint ihr eine blaue Frau, eine Art Geist oder Projektion, wobei zunächst unklar ist, ob diese einen Schmerz oder eine Hoffnung verkörpert (oder beides in einem).
Diese Anfangssituation des Buches ist klug inszeniert: Die unmittelbare und doch schleichende Konfrontation mit der Lage, in der sich Antje Rávik Strubel Protagonistin Adina befindet, bringt den Leser*innen ihre Person sofort nah, macht sie greifbar. Sie steht erstmal für sich. Auch, dass so zunächst das Opfer und nicht die Tat im Fokus steht, verändert die sonst übliche Dynamik in einem Buch über Missbrauch.
Denn ein solcher Missbrauch ist der Schatten, das von Anfang an auf die Stimmung des Buches drückt, seine Atmosphäre erzeugt. Adina ist eine missbrauchte Person, in mehrfacher Hinsicht, körperlich, aber auch ihre Träume wurden missbraucht. Sie war schon weit gekommen: aus dem rückständigen tschechischen Dorf, wo sie aufwuchs, gelang ihr der Sprung nach Berlin, wo sie sogar eine Mentorin fand und eine Zukunft in Aussicht hatte. Aber dann geschahen Dinge, die sie zur Flucht nach Helsinki bewogen und nun ist sie einerseits ohnmächtig, andererseits befeuert von dem Wunsch nach Gerechtigkeit oder vielmehr: nach Sichtbarkeit.
Denn Unsichtbarkeit ist das zentrale Thema von Strubels Roman: die Unsichtbarkeit der Träume von Frauen, die Unsichtbarkeit von Frauen im Rechtssystem und die Unsichtbarkeit von Osteuropäerinnen im Besonderen. Und die aus diesen Enttäuschungen und Verwundungen resultierende Unsichtbarkeit von Liebe und Zuneigung in den Augen derer, die immer und immer wieder die Machtverhältnisse aufgedrückt bekommen, bis sie als ständige Opfer dazu gezwungen sind, fast ausschließlich in ihnen zu denken.
Ich muss zugeben, dass ich mich am Anfang mit dem Buch schwergetan habe und erst gegen Ende die Klugheit des Aufbaus und des Bogens, den Strubel schlägt, wirklich honorieren konnte. Es ist also eines dieser Bücher, die einen für ein bisschen Geduld und Einlassung fürstlich entlohnen. Und es ist ein Buch, dass jede*r, der sich mit feministischen Themen auseinandersetzen will und auch bereit ist, dabei eine vielschichtige Materie zu durchstreifen, lesen sollte.
Ich habe es von vorne bis hinten geliebt.