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Das sozialistische Licht in finsteren Zeiten


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Während der Großteil der winzigen amerikanischen Linken im Jargon und Klischees gefangen blieb und sich darauf beschränkte, ein ums andere Mal vergangene Schlachten neu zu inszenieren, die für den Durchschnittsamerikaner keinerlei Relevanz mehr haben, machte sich Jacobin daran, das sozialistische Projekt durch eine unverbrauchte Sprache und Ästhetik zu bereichern, und schreckte nicht davor zurück, sich gelegentlich auch einmal über sich selbst lustig zu machen. (Aus dem Vorwort)

Obwohl (oder gerade weil) Donald Trump derzeit im Weißen Haus regiert und seine Gegenkandidatin bei der letzten Wahl eher die konservative Seite der Demokratischen Partei repräsentierte, ist in den USA in den letzten Jahren wieder eine stärkere linke Bewegung entstanden, die sich nicht scheut Worte wie „Umverteilung“, „Sozialismus“ oder den Namen Karl Marx in den Mund zu nehmen.

Als Flaggschiff dieser Bewegung wird (neben Persönlichkeiten wie Bernie Sanders und gewerkschaftlichen Gruppen) immer wieder das Magazin Jacobin genannt, dass 2010 von dem damals 21jährigen Bhaskar Sunkara gegründet wurde. Mittlerweile hat die Print-Ausgabe eine Auflage von 30.000 Stück und die Website monatlich mehr als eine Millionen Klicks. Noam Chomsky nannte die Zeitschrift „a bright light in dark times“ und mit dem Ada Magazin ist sogar schon eine Schwesterzeitschrift in Deutschland entstanden.

Im Suhrkamp Verlag ist nun eine von Loren Balhorn (Redakteur bei Ada und Jacobin) und Bhaskar Sunkara herausgegebene Anthologie mit Beiträgen aus acht Jahren Jacobin erschienen – Interviews, Essays, Streitschriften, aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer.

In diesem Modell der sozialen Gerechtigkeit lautet das Ziel also nicht, dass die Reichen nicht so viel und die Armen mehr verdienen sollten, sondern dass die Reichen verdienen können, so viel sie wollen, solange ein angemessener Prozentsatz von ihnen Frauen sind oder Minderheiten angehören.“ (Walter Benn Michaels)

Den Anfang macht ein Interview mit Walter Benn Michaels aus dem Januar 2011. In einem sehr ausgewogenen Gespräch, bei dem der Interviewer (Sunkara) oft kritisch nachfragt, vertritt der Literaturtheoretiker und Autor Michaels die Ansicht, dass die Gleichberechtigungsdebatten und -gesetzte in den USA neoliberale Positionen stützen, zumindest aber von ihnen instrumentalisiert werden. Seine These ist, dass die soziale – oder anders gesagt die Klassen- – Frage die vorrangige ist und der Umsturz der neoliberalen und kapitalistischen Hierarchien das wichtigste Ziel, das letztlich allen Emanzipationsbewegungen zugutekommt.

Mike Beggs zeigt in seinem Text „Ein Zombie namens Marx“ wie sich die Philosophien und Ideen des Vordenkers auf den Gebieten “Kapital” und “Arbeit” in die heutigen Zeiten integrieren lassen, wo sie anpassbar sind und wo sie ganz neu gedacht werden müssen.

Sehr gelungen ist auch der nächste Essay, in welchem der Autor Peter Frase vier mögliche Zukunftsversionen für unsere heutigen Gesellschaften entwirft, vor allem anhand von zwei grundsätzlichen Parametern: 1. sind es Gesellschaften die noch egalitärer oder noch hierarchischer geworden sind? Und 2. sind es Gesellschaften, deren technologische Errungenschaften die Ressourcenfrage gelöst haben oder sind es Gesellschaften, die sich in dieser Frage mit einer Knappheit konfrontiert sehen? Die vier möglichen Kombinationen sind nicht nur interessante Gedankenspiele, Dystopien und Utopien, sondern zeigen vor allem, welche Anlagen in unseren Gesellschaften bereits vorhanden sind – und sich ohne ein Umschwenken und Überdenken verselbständigen könnten.

Der Kabarettist Volker Pispers sagte in einem seiner letzten Programme (in etwa): Wer wissen will, auf was für Zustände wir uns in Europa zubewegen, wenn wir Dynamiken wie die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich und die immer größere Abwertung der Arbeit nicht in den Griff kriegen, muss nur über den Ozean blicken: die USA sind uns ein Stück voraus was den radikalisierten Kapitalismus angeht; aber kein riesiges Stück. Frase Text zeigt, was man sich, auf der Grundlage der US-amerikanischen Realität, für Szenarien vorstellen kann, ja: vorstellen muss.

Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur ungleich verteilt. (William Gibson)

In „Rot und Schwarz“ setzt sich Seth Ackermann mit den zeitgenössischen Möglichkeiten und Perspektiven, sowie den historischen Versäumnissen der Planwirtschaft auseinander.

Nach einem kurzen Rundumschlag vom Herausgeber Bhaskar Sunkara, der die Selbstverliebtheiten der zersplitterten, linken Bewegung anprangert und einen knappen Abriss der gemeinsamen Themen, auf die man sich konzentrieren sollte, gibt, folgt ein Text von Alyssa Battistoni mit dem Titel „Zurück in keine Zukunft“.

Dieser Text hat es in sich, denn im Prinzip ist seine Kernaussage: Es ist eigentlich schon zu spät. Die Mühlen mahlen so schnell … selbst wenn man sofort mit aller Kraft versuchen würde sie zu stoppen, könnte das Getriebe immer noch genug Schwung haben, um unsere Zukunft zermalmen. Und wir sind weit davon entfernt, das Getriebe anzuhalten – wir streiten meist darüber, wo das Wasser herkommen soll, das die Mühlen antreibt.

Battistoni weist im Zuge ihrer schonungslosen Klarstellung auf ein Grundproblem des Lebens in kapitalistischen Systemen hin: den Leuten wird gesagt, sie können es schaffen (besser wäre vielleicht, man würde ihnen sagen, dass der Planet, dass die Menschheit es noch schaffen kann, wenn…), wenn sie sich anstrengen, gut genug sind.

Dieser auf die persönliche Zukunft gerichtete (und auf sie verengte, fixierte) Blick, in der man zu reicheren Höhen emporsteigt – die so tun als wären sie durch keine Umstände bedingt, als ständen sie einfach jedem zur Verfügung – verstellt den Menschen den Blick auf die allgemeine Gegenwart und die allgemeine Zukunft. Darüber hinaus: die Zugänge zu dieser ominösen, reicheren Zukunft sind (sofern es sie überhaupt gibt) limitiert und oft längst schon reserviert. (Man fühlt sich an Kafkas Torhüter-Parabel erinnert …)

Fazit: Wir haben immer noch nicht begriffen, was auf dem Spiel steht.

Wenn man die Leute ausbeuten will, gibt es keinen besseren Trick, als sie davon zu überzeugen, dass sie lieben, was sie tun.

Miya Tokumitsus Text widmet sich der innewohnenden Heuchelei von Aphorismen wie „Tu, was du liebst“ oder „Wenn du magst, was du tust, musst du nie arbeiten.“ Sie sieht darin einen Trick, der eine Flut von freiwilliger Selbstausbeutung und letztlich auch eine Abwertung verschiedenster Arbeitsbereiche zur Folge hat. Ist man ein schlechterer Mensch, wenn man seine Arbeit nicht liebt? Drückt sich Liebe in bedingungsloser Hingabe, in Qualität, in Pflichtbewusstsein aus? Wer legt das fest? Fragen wie diese, und andere, verhandelt der Text.

Sam Gindin legt in seinem Text „Den globalen Kapitalismus beseitigen“ eine Liste mit neun Dingen vor, die einem helfen, sich im Bauch der Bestie zu organisieren, von der Mikro- bis zur Makroebene; der Text punktet vor allem durch seine Klarstellungsrhetorik.

Der folgende Beitrag von Adam Stoneman ist eine ebenso klare Stellungnahme, die sich gegen den Geltungskonsum von Rich Kids auf Instagram richtet, dessen Wurzeln er bis in 18. Jahrhundert (zu Ölgemälden, auf denen die bessere Klasse abgebildet ist) zurückverfolgt.

Keeanga-Yamahtta Taylors Beitrag schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Walter Benn Michaels im ersten Interview. Auch er sieht die Emanzipation von Minderheiten, besonders der afroamerikanischen Bevölkerung, als etwas, dass sich nicht von der Suche nach einer allgemeinen Lösung für soziale Fragen trennen lässt. Er zitiert Martin Luther King, der in seinem letzten Gespräch mit Harry Belafonte sagte:

Wir haben lange und hart für die Integration gekämpft, was in meinen Augen richtig ist, und ich weiß, dass wir gewinnen werden. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir uns in ein brennendes Haus integriert haben.

Zwei letzte Highlights: als erstes der Text von Charlie Post, der in „Wie Donald an die Macht kam“ seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass es vor allem eine enthemmte, unter den Folgen der neoliberalen Ordnung leidende Gruppe von Mittelschichtlern war, die Trump an die Macht gebracht hat – aus Furcht vor dem sozialen Abstieg ergriffen sie die Gelegenheit, einen Mann zu wählen, der versprach, für weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und für eine bessere Lage der amerikanischen Wirtschaft allgemein zu kämpfen.

Auch wenn das Argument als alleinige Begründung wohl nicht greift, offenbart es einen wichtigen, immer wieder problematischen Effekt in neokapitalistischen Gesellschaften: Die Menschen, die in ihnen leben, stellen meist nicht die generelle Verteilung des Wohlstands infrage, sondern fürchten nur, dass ihr eigener Anteil an diesem Wohlstand sinken könnte. Sie glauben, sie müssten gegen die sein, die ihren Platz in der Hierarchie einnehmen könnten – statt zu begreifen, dass die Hierarchie das größte, vielleicht sogar einzige Problem ist.

Das zweite Highlight ist ein Interview mit Bernie Sanders, das ebenso wie das erste ausgewogen und kritisch daherkommt und Sanders als einen klugen Denker, eine große Persönlichkeit zeigt, aber eben auch als einen schon auf seine Themen und Positionen eingeschworenen Menschen.

Allen muss die Wirtschaft nutzen, nicht nur den Reichen. (Bernie Sanders)

Diese Anthologie liefert sehr wichtige Beiträge zu aktuellen Debatten, vor allem was Kapitalismus und Neoliberalismus angeht. Jacobin ist zwar ein US-amerikanisches Magazin, aber viele Themen sind in unserer globalisierten Welt auch auf europäische Kontexte anwendbar. Einige Beiträge erschließen sich wohl nicht jeder/m Leser*in – ich zumindest hatte bei einigen Ausführungen zur Wirtschaftstheorie meine Probleme. Dennoch ist es im Kern eine Anthologie, die jede Person lesen kann und man nimmt mit Sicherheit immer etwas mit.

Wer macht hat, hat Recht – und warum es nicht so sein sollte


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„Macht bestimmt erheblich unser Leben, doch wird verdrängen oder mystifizieren sie, und je mehr wir das tun, desto hilfloser gehen wir mit ihr um. […] Das Gefährliche an der Macht ist nicht, dass sie obsessiv wirkt, sondern dass sie peinlich ist und verleugnet wird. Sie füllt den Verhandlungsraum nahezu komplett aus, doch alle müssen so tun, als spiele sie keine Rolle, und diese akrobatische Heuchelei bindet einen Großteil ihrer Konzentration und Kraft. […] Theoretisch scheint heute klar zu sein, dass Macht ebenso wenig wie Sexualität etwas Dämonisches ist. Man akzeptiert sie als zwingenden Bestandteil jeder höheren Ordnung und hält »nur« ihren Missbrauch für schädlich. Doch wer stellt im konkreten Fall fest, wann die Grenze zwischen Ge- und Missbrauch überschritten wurde? Und wer spricht es aus?“

Autoritäten umgeben uns, begegnen uns ständig, folgen uns auf Schritt und Tritt. Und wir folgen ihnen, ihren Weisungen. Nicht immer und allein aus blindem Gehorsam, vielmehr akzeptieren wir Autorität dort, wo als einzige Alternative (scheinbar oder tatsächlich) Willkür oder Chaos droht. Und auch, weil wir uns Privilegien oder zumindest den Nicht-Entzug von Privilegien erhoffen/versprechen.

Dennoch sind Autoritäten ein Problem, sogar eines der zentralen Probleme menschlicher Gesellschaftsstrukturen. Sie tendieren nämlich dazu, Systeme (und die Menschen darin) zu korrumpieren: oft wird Macht dann nicht mehr als Aufgabe im Dienste des Systems, sondern als Attribut des eigenen Selbst, der eigenen Wünsche, Vorstellungen und Ideen betrachtet – und zusätzlich als Schutz für diese eigenen Ambitionen, als Garantie für Unangreifbarkeit und Profit.

Wenn man einmal davon absieht, dass eine gewaltbefreite Welt, ohne Machtkonzentrationen und -ausübung, womöglich die einzig denkbare Welt ist, in der es auch keine Korruption, keinen Machtmissbrauch geben kann, bleibt die Frage: wie kann man dieser, anscheinend immanenten, toxischen Entwicklung innerhalb von Machtstrukturen entgegenwirken oder, und damit kommen wir zu diesem Essays von Petra Morsbach, wie kann man ein/e bereits von Machtmissbrauch durchdrungene/s Position/System enttarnen. Oder, anders gesagt: wie zwingt man die Menschen dazu, den Elefanten im Zimmer zu bemerken.

Um Machtmissbrauch und die Sprache seiner Verschleierung (und Aufdeckung) in der Praxis zu verdeutlichen, schildert Morsbach drei Fälle. Zunächst geht es um die öffentlichen Fälle „Groër“ und „Haderthauer“, zuletzt um einen internen Fall in der bayrischen Akademie der schönen Künste. Erstere sind Fälle aus dem Umfeld von Kirche und Politik, die, aufgrund der Initiative von verschiedenen Einzelpersonen, ein hohes Maß an Belegen/Dokumenten aufweisen, über den Fall selbst, aber auch den Versuch der Aufdeckung, des Widerstandes. Der letzte ist Morsbachs persönlicher Fall, in dem sie die Einzelperson war, die Belege und Dokumente sammelte und den Widerstand probte. In allen drei Fällen erzählt sie anhand der Dokumente eine Geschichte des Machtmissbrauchs, seiner Dimensionen und Folgen.

Gleichzeitig deckt sie mit diesen drei Fällen ein breites Feld an Motiven ab. Im ersten Fall (Groër) wird die Macht zum Ausleben der eigenen Sexualität auf Kosten anderer genutzt und zusätzlich dazu, Menschen zu dominieren. Im zweiten Fall (Haderthauer) ist Profitgier, kombiniert mit Ausbeutung, das Motiv hinter dem Missbrauch. Im letzten Fall schließlich eine Mixtur aus Geltungssucht und dem Verlangen nach Kontrolle. Die ersten beiden Fälle (und auf gewissen Weise auch der dritte) stellen klar: Machtmissbrauch ist nicht selten auch ein Missbrauch von/an Menschen.

Morsbach zeigt klug auf, dass die genannten Motive zwar am Anfang des Machtmissbrauches stehen, aber bald nicht mehr das einzige Problem darstellen. Denn wenn der Machtmissbrauch, nebst seiner Motive, offengelegt wird, zeigt sich (in allen drei Fällen), dass die Institutionen (seien es nun kirchliche Räte, staatliche  Einrichtungen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse oder eine Gruppe von Funktionär*innen in einer Akademie) nicht den Machtmissbrauch zu bekämpfen beginnen, sondern den Anschein von Machtmissbrauch und die Anschuldigungen, die zu diesem Anschein geführt haben (der zumindest in diesen drei Fällen kein Anschein ist, sondern faktisch belegt).

„Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir vieles nicht wissen, sondern dass wir vieles nicht wissen wollen, weil es den aktuellen Kriterien der Eigenliebe widerspricht. […] Warum verteidigt man mit gewaltiger Energie lieber den Anschein der Ordnung als die Ordnung selbst? Warum verzichtet man ohne Not auf eigene Rechte, zum Schaden unserer kostbaren, demokratischen Kultur? Offenbar wirken hier Antriebe, die alle rationalen Bekenntnisse unterlaufen, ohne dass das überhaupt bemerkt würde. Im Essay folgte ich den Spuren dieser Antriebe in der Sprache, die in realen Konflikten gesprochen wurde; denn die Sprache scheint mehr zu wissen als der Mensch. […] Oft können wir gefahrloser ethisch handeln, als wir meinen. Die Frage ist, was uns hindert.“

Was hindert uns? Auch Morsbach findet auf diese Frage keine abschließende Antwort, aber viele Teilantworten. Sie stellt, neben dem Dokumentieren der Fälle, viele Überlegungen an und nimmt sich Zeit für Exkurse, was ihre sehr gewissenhaften Auf/sarbeitungen manchmal etwas zerfasern lässt, aber letztlich bewirkt, dass man als Leser*in eine vielschichtige Auseinandersetzung erlebt, die nicht nur Faktisches beinhaltet, sondern auch Ideen, Philosophisches, etc.

Viele Probleme, die das Buch festmacht, hängen mit Gruppendynamiken zusammen, mit Abhängigkeitsverhältnissen oder schlicht mit vorauseilendem Gehorsam. Ein Thema, das Morsbach vielleicht etwas stiefmütterlich behandelt, ist die Identifikation der Menschen mit ihrer Rolle und wie diese Rolle auch durch Narrative aus den Medien und durch Selbstdarstellungen von anderen geprägt wird.

„Die Erfahrung zeigt aber, dass ein pauschaler Angriff – so nachvollziehbar er sein mag – meist erfolglos ist, denn er stellt das System infrage, in dem sich alle eingerichtet haben. Das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit ist so groß, dass Menschen grundsätzlich Kritik nur schwer aufnehmen können, aus Angst, die Strukturen würden gefährdet. […] Anscheinend neigen Gruppenmitglieder in Stresssituationen dazu, Hierarchien als beruhigend und Kritik als Gefahr wahrzunehmen. Dabei ist diese Blickverengung gefährlich. […] Hierarchische Starrheit erweckt nur oberflächlich den Anschein von Stabilität. Untergründig führt sie zu einer Umverteilung der materiellen und immateriellen Güter zugunsten der Mächtigen, also eben nicht der Festigung, sondern dem Verlust von sozialer Balance und Sicherheit.“

Wo Morsbach dagegen über die Maßen brilliert: die Analyse der Sprache. „Der Elefant im Zimmer“ ist allein deswegen schon lesenswert, weil Morsbach einen guten Blick dafür hat, welche Allgemeinplätze, Finten, Gefühle, Absichten, Überlegungen, Denkfehler und Fallstricke hinter sprachlichen Wendungen und Formulierungen stehen. Und so zerlegt sie, entschieden und doch sachlich, die Statements und Briefe, sogar Rechtstexte und andere striktere Dokumente, und zeigt auf, wie darin die Sprache diejenigen entlarvt, die sich mit ihr die Wahrheit vom Leib zu halten versuchen.

Neben den drei Fallbeispielen, dem eigentlichen Essay, enthält das Buch ein Nachwort und einen Katalog von 33 kondensierten Überlegungen (teilweise zugespitzt auf Empfehlungen) zu Machtmissbrauch und Widerstand, sowie eine Corona-Nachbemerkung und einen Anhang mit detaillierten Nachweisen. Es ist eine beeindruckende Arbeit und wird, so hoffe ich, viel gelesen und viel beachtet werden.

Bei der Lektüre habe ich selbst wieder an ein oder zwei Momente aus meinem Leben zurückgedacht, bei denen auch ich mit Machtmissbrauch in Berührung kam (keine ernsten Fälle, aber doch üble Schikanen). Und auch ich verhielt mich dann abwechselnd kämpferisch und zurückhaltend, je nachdem wie öffentlich mein Widerstand zutage getreten wäre. Natürlich reicht Erkenntnis nicht immer aus für Mut, aber ich glaube doch, dass Mut zum Teil durch Erkenntnis erwachsen kann. Und wie Morsbach Schilderungen zeigen, reicht oft ein kleiner Widerstand, um zumindest eine Menge Aufruhr und Aufmerksamkeit zu generieren. Die Personen, die Widerstand leisten, setzen sich dabei einer Vielzahl von Schmähungen und sicher auch Repressionen aus. Und oft bleibt nur der moralische Sieg und von moralischen Siegen kann man sich wenig kaufen. Aber vielleicht bereiten derlei Aktionen zukünftige Wege aus dem Machtmissbrauch. Wege auf denen der Elefant aus dem Zimmer geschickt werden kann.

Wie es sich verhielt, verhält


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„Die Verantwortung freier Menschen liegt darin, den Konstanten des Lebens zu trauen und sie zu feiern – Geburt, Kampf und Tod sind Konstanten genau wie Liebe, auch wenn uns das nicht immer so scheinen mag – und das Wesen von Veränderung zu erfassen, zur Veränderung bereit zu sein. […] unmöglich, wenn man von Konstanten ausgeht, die keine sind – Sicherheit zum Beispiel oder Geld oder Macht.“

(James Baldwin in „Nach der Flut das Feuer“, 1963 – in diesem Buch zitiert von Deniz Utlu, geb. 1983)

Gute, divers angelegte Anthologien zu gesellschaftlichen Themen sind selten und wichtig. Ich habe in den letzten Jahren einige spannende gelesen, die sich u.a. mit Fremdenfeindlichkeit und (Alltags-)rassismus („Eure Heimat ist unser Alptraum“, Ullstein 2019), Sexismus, sexual harassment und Misogynie („Sagte sie“, Hanser Berlin 2018) und Diversität im Stadt(er)leben („FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte“, Verbrecher Verlag 2019) auseinandergesetzt haben. 

Mit „Wir. Gestern. Heute. Hier.“ ist nun eine Anthologie bei Piper erschienen, in der, so der Untertitel, „Texte zum Wandel unserer politischen Werte“ versammelt sind. Ein sehr allgemeiner Titel, der auf vieles hoffen lässt. Und in der Tat wird einiges in den Texten verhandelt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ein leichter Schwerpunkt auf einem Phänomen liegt, das aus unterschiedlichsten Perspektiven (die natürlich noch andere The- und Problematiken mit sich bringen) beleuchtet wird: Der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1989/1990 (oft mit Begriffen wie „Wende“, „Wiedervereinigung“ und „Mauerfall“ in Verbindung gebracht, die in ihren Implikationen auf die ein oder andere Weise durchaus problematisch sind), sowie die damit verbundenen Ereignisse und, vor allem, die Folgen.

Dieser Fokus erweist sich aber schnell als Feature, nicht als Fehler, da sich im Spiegel dieses Knackpunktes der jüngeren deutschen Geschichte ein sehr vielfältiges Bild der Gegenwart und ihrer Hintergründe, und somit vieler, wenn auch nicht aller, gesellschaftlichen Probleme der letzten 30 Jahre (und davor) (re)konstruieren lässt. 

„Die autoritäre Phantasie, die heute ganz Deutschland bedroht: Viele von uns Wendekindern sahen sie damals schon bei unsren Freunden und Verwandten. Und wir standen hilflos vor einem West-Mainstream, der das alles für vernachlässigenswert hielt.
Wenn sich unsere Generation heute meldet und versucht, ihre Erfahrungen in das kollektive Gedächtnis einzuspeisen, dann ist das nicht nur eine Privatsache, dann geht es nicht nur um Kindheitsaufarbeitung. Es geht darum, einen Teil Deutschlands sichtbar zu machen, der das ganze Land immer stärker prägt. […] Zeit, davon zu erzählen.“

(Christian Bangel, geb. 1979)

1990, dieses Datum steht im Kleinen für das Ende der Teilung der beiden deutschen Staaten, im Großen aber für den Anfang einer neuen Epoche mit vielen, ausufernden Entwicklungen: Globalisierung und digitale Revolution, Krieg gegen den Terror und arabischer Frühling (mit anschließenden Bürgerkriegen), Massen an Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger und das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich, Finanz- und Eurokrise, Fridays for Future und neuer Rechtsruck. Ich will nicht behaupten, dass all diese Entwicklungen ihren Ursprung im Ende des Kalten Krieges haben/danach erst begannen, aber in vielerlei Hinsicht traten sie nach seinem Ende verstärkt zutage/änderten sich danach Gegebenheiten, die ihnen Vorschub leisteten. 

Es gibt einige Texte in der Anthologie, die sich direkt mit den Realitäten in Ostdeutschland (vielfach: der Perspektivenlosigkeit der Menschen und aufkommendem Rechtsradikalismus) auseinandersetzen, meist in autobiographischer Manier, aber auch fiktiv – u.a. von Christian Bangel, Antje Rávik Strubel, Daniel Schulz, Miku Sophie Kühmel, Jan Böttcher, Julia Schoch, Lukas Rietzschel. Darüber hinaus gibt es einige sehr gute Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex Heimat/Fremde (und auch: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus), u.a. von Deniz Utlu, Katerina Poladjan, Senthuran Varatharajah, Kathrin Röggla und Stephan Thome. Letzterer erzählt von einem Heimatfest, dem Grenzgang in Biedenkopf, bei dem eine als „Mohr“ bezeichnete Person die Prozession anführt. Thome begibt sich auf die historische Spur dieser Gestalt, die von Kritiker*innen als rassistisch, von den Einwohner*innen schlicht als Tradition verstanden und proklamiert wird. Beide machen es sich dabei, wie Thome zeigt, zu einfach. Sein Text legt auf faszinierende Weise Problematiken zu den Ideen von Heimat, Identität und Tradition frei.

„Wenn wir Heimat mit Ausdrücken wie Vertrautheit und Geborgenheit assoziieren, zielen wir auf die Entlastungsfunktion einer Umgebung, in der wir uns problemlos zurechtfinden. Weder gibt es Sprachbarrieren, noch besteht die Gefahr, sich zu verlaufen. In dieser Problemlosigkeit liegt eine subtile Gratifikation, die ich mir nicht verdienen muss, sondern sie erhalte, eben ohne etwas zu tun – ich bin richtig, nämlich zu Hause. […] Dass Identität aus der Anverwandlung des Fremden resultiert, ist ein Gedanke, mit dem man sich in Deutschland eher schwertut. Vor allem die kulturelle Identität gehört für uns eher in die Nähe des Erbes als der Arbeit, sie ist mehr Zustand als Prozess, wir fragen nach ihrem Wesen statt nach ihren Möglichkeiten und sehen uns am Ende genötigt, zu verteidigen, was eigentlich zu entwickeln wäre.“

(Stephan Thome, geb. 1972)

Ein weiterer Text, den ich hervorheben möchte, ist der Essay „Aufwach(s)bilder in Schichten“ von Ulrike Draesner, ein eindringlicher, in seinen Ausschlägen poetischer, ungeheuer widerständiger Text, der viel abdeckt, vom Altnazitum über Rassismus bis zu Sexismus. Es ist ein mäanderndes Gebilde, das seine Sprache abwechselnd fließen und stocken lässt und ein großartiges Beispiel für eine unverstellte, aber dennoch mannigfaltige Darstellung; ein Bericht über die problematischen Zustände in allen Zeiten, nach dem Krieg, vor 1990, nach 1990. 

„Um uns herum lebten Menschen aus dem Krieg. Der Nachbar hatte nur ein Bein. andere hatten zwei Beine und eine Gesinnung. Einer von ihnen schlug auf dem Gehweg nach meinen Beinen, als ich als Mädchen in Hosen an ihm vorüberging. Viele sehr schlecht gelaunte Menschen Menschen fuhren Straßenbahn. Ihre Hände waren aus Eisen. Dass sie Exnazis waren oder Noch Nochnazis, wurde später klar (s. die Witwen aus München und Argentinien).
Versehrte waren fast alle.
Eine brutalisierte Gesellschaft.“

(Ulrike Draesner, geb. 1962)

Von Tschernobyl bis Unterdorf, vom schnörkellosen Bericht bis zum feingliedrigen Arrangement, so groß ist die Bandbreite dieses Buches. Man könnte noch viel zu den einzelnen Texten schreiben, zu dem Strudel aus Erinnerungsfacetten, in den man bei Lara Hampes Text gerät, zu der Komik in David Wagners Telefongesprächsgeschichte, zu dem Titel von Julia Schoch („Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen“), zum schnell skizzierten und doch reichen Innenleben von Miku Sophie Kühmels Figuren, etc., etc. 

Eine letzte Erwähnung möchte ich dem vorletzten Text des Bandes zuteilwerden lassen, Helene Bukowskis „Teppichparadies“. Ein Bericht über ein Aufwachsen nach 1990, aber auch Bericht über den Wandel der Welt, wie man sie kennt und dann nicht wiedererkennt. Eine Meditation über Privilegien, Verhältnis(und Unverhältnis-)mässigkeiten und die Frage nach dem: was nun/was tun?, mit der uns die Autorin, nachdem viele Texte über die Vergangenheit reflektiert haben, in die Gegenwart, in die Zukunft entlässt: 

„Dort, wo ich liege, bin ich von all dem weit entfernt. Der ICE hält in Berlin an vielen Stellen. Man könnte fast glauben, niemand hätte was zu befürchten. Das Leben hier in einer Blase, bequem. Für mich sogar noch bequemer als für andere. Durch meine Hautfarbe und die Sprache, die ich spreche. Niemals verdächtigt aufgrund des Aussehens. Ich falle durch kein Raster. Muss nicht gerade ich deshalb etwas riskieren?“

(Helene Bukowksi, geb. 1993) 

Blaue Stunden


JENNY

Die JENNY (ihres Zeichens Anthologie für junge Literatur, herausgegeben von Studierenden des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien) erschien im Herbst 2018 zum sechsten Mal (mit dem wohl existenzialistischsten Cover aller Ausgaben) und ist wieder voller eigenwilliger Aphorismen, die als Buchstabensuppe auf der blauen JENNY-Farbe schwimmen – und, natürlich: voller Texte.

Den Anfang macht Martin Peichl mit „Eine Topographie der Abschiede“, eine Sammlung kurzer Texte, die auf pointiert-poetische Art mit ihren Stichworttiteln interagieren. Das liest sich dann bspw. so:

            Fallhöhe
Jedes Mal, wenn ich dich sehe: ein Gefühl, als wärst
du ein paar Zentimeter gewachsen.

Agil und teilweise auch ganz schön clever, zumindest nicht ohne doppelte Böden, ist dieses kleine Verzeichnis. Manches wirkt mitunter, gerade wenn es um Amore geht, allzu vertraut, was aber die poetischen Dimensionen von Peichls Deklinationen nicht schmälern soll.

Ich hör vielleicht was. Das Knallen und Schrillen und Brennen brennt sich durch, aber die Jalousien sind ja zu, ich zieh die Füße an die Brust. Die erste Handgranate gab es in China schon im ersten Jahrtausend, das stand in einem Kinderbuch. Du bist bei den Pattexjungs, da bin ich sicher.

In Fiona Sironics „Molly / Da sind ja Löcher“ sind wir dann schon jenseits der Abschiede, hier ist schon Postapokalypse angesagt: Draußen wird geschossen, drinnen, hinter Jalousien und schwarz angemalten Fenstern, eine leicht verwahrloste Szenerie. Kaum etwas funktioniert noch. Und nicht nur das Ich im Text, sondern der Text selbst scheint fragil zu sein, wie nach einem betäubenden Schlag, Sätze und Motive wirken hier und da wie in Spiralbewegungen gefangen. Aber Stück für Stück zeichnet sich ein Bild ab und diese Apokalypse ist nicht turbulent und abenteuerlich wie ein HD-Film, sondern trist und ansatzlos, was eindringlich inszeniert wird. Es dominieren Körperlichkeit und ungenaue Konturen. Eine stechende und beißende Lektüre.

das schönste tor des jahres
2000 schoss ein gnu

in meinem herzen hausen bloß
kanye west (den schmeiß ich raus)
und michelangelo

Die Assoziationsräume die Stephan Roiss Gedichte entfalten sind gleichsam riesig und winzig; ersteres, weil ein Haufen Verweise sich darin auftürmt, die Funken in alle Richtungen fliegen, letzteres, weil in diesen Verweisstrukturen auch eine gewisse Beliebigkeit steckt, der nicht entgegengewirkt wird. Sie sind rasant und skurril, diese Texte, aber bei aller Spritzigkeit und dem energischen Ton nicht wirklich originell.

Als er betäubt und verfroren aus dem Zugfenster in den nebligen Tag blickte, versuchte er sich erneut vors innere Auge zu halten, welcher seiner Tage bisher still genannt werden durfte.

Beeindruckender ist da der Text von Laurenz Schönthaler, eine Art Versuch über den still(st)en Tag, der mit seinen knappen bis elaborierten Sätzen, die mitunter sehr auf ihre eigenständige Konsistenz zu pochen scheinen, zart an manche Prosa von Peter Handke erinnert, ähnlich objektivierende und abstrakte Töne anschlägt, diese aber mit Melancholie und kleinen Eruptionen unterfüttert. Ein wunderbarer Satz aus dem Text:

Beim Lesen fremder Texte wurde ihm versichert, dass eine ungewusste Sprache in ihm ruhte und dass eine gewisse Form des Erwachens bisher noch ausgeblieben war.

Leon Wienhold weist uns bereits mit seinem ersten Satz (was für ein Bild …) in die Dynamik seines kurzen Prosatextes ein:

Ein Elefant aus Mahagoni, die Zeit, die es braucht, bis er versunken ist in Honig.

Behutsamkeit, die in „Honig“ federführend ist, wird hier, zusammen mit einer kleinflammigen Sehnsucht, geradezu bekennend, zelebriert. Der Text bleibt allerdings eine zurückhaltende Meditation, die sich nicht verausgabt in ihren Motiven, und somit auch der Gefahr entgeht, ins Manieristische abzudriften. Vielmehr erzählt er, halb abgewandt, von einer Großmutter, vom Sterben, von der Zeit, die uns verschluckt, süß und zäh.

Das Versprechen an etwas zukünftig Besseres hält sich hartnäckig. Das Streben danach nimmt Stück für Stück die Erinnerung ein.

Stefan Langers 13 Sprechstücke, gesammelt unter dem Titel „Protein“, lassen sich schwer auf einen Nenner herunterbrechen. Sie arbeiten gleichermaßen mit Darstellungen und mit Überlegungen, mit Innen und Außen, mit Direktheit und Kommentar. Es sind mitunter Stücke gegen und über den Wahn, gegen Norm und Konform, aber sie werden auch sinnlich, es gibt sowohl abstrakte als auch konkrete Passagen. Wird hier ein Individuum zerlegt? Ist „alles Kommende Zurichtung“ wie der Untertitel ansagt? Die Stimmenvielfalt lädt zu unterschiedlichen Interpretationsansätzen ein.

über den Alpen gehen die Lifte wie
gondelnde Granaten, die zur Sprengung in
den Hang geworden sind, ganz oben versagen
uns die Beine, denn wir schweben fast und
sind noch nie so nah gewesen einem Grund

Manon Hopfs drei „Geländefluchten“ kombinieren lapidare Tonlagen mit starken Bilden und das I-Tüpfelchen besorgt eine Nuance ländlichen Abscheus. Atmosphärische Lyrik ohne große Schnörkel und dennoch mit jenen Spuren von Eigensinn, die jede Lyrik haben und verfolgen sollte.

Merk dir das, sagte Mathilda. Merk dir die lila Tage. Ich erkannte aber, von oben, auch halb verweste Tierkadaver in den Lavendelfeldern, brennende Müllberge, Raubkatzen, rostende Militaria aus den Weltkriegen, Trickbetrügerinnen, Ölfilme, Verletzte mit eiternden Wunden.

Johannes Koch (es hat mich gefreut, mal wieder einen Text von ihm zu lesen) erzählt in „Lila ist die Farbe unserer sorglosen Tage“ eine Art schwelgende und alles andere als sorgenfreie (wenn auch von Sorglosigkeit durchzogene) Geschichte zwischen Dystopie und Utopie, in der die Truckerin Mathilda einige Kinder, die auf Raststätten von den Eltern zurückgelassen wurden, aufnimmt und mit ihnen durchs Land fährt. In Kochs Text funkelt immer wieder eine berückende Schönheit auf, leicht mystische Tendenzen, ein slapstickhafter Witz schaltet sich immer wieder ein, trotzdem wirkt die Szenerie nie friedlich, ein Tick Bedrohung schnippt neben dem Takt.

der große Auftritt der Ratten & Maden. Rotwein aus Humpen in den
Hühnerkopf geschlürft, nachm Selbstmord auf der Bühne lieben dich
die Diebe und die Mädchen, du Dragoman, du drogensüchtiger Satyr
& Dionysosextremist, du fröhlicher Toter, du Volkstribun & Corps-
Sstudent, du Assassine mit Jakobinermütze unter der Pickelhaube

Lasse Jürgensens furiose Gedichte, die wie die Fundamentfanale einer neuen Beat-Generation in die Eisen steigen, sind die Art von Aufstand, den ich mir lieber ansehe/-höre, als davon zu lesen. Aber Scherz beiseite – es wirkt wirklich so, als hätte der Autor ein bisschen viel Beat Generation oder Uli Becker gelesen. Trotzdem, die Gedichte machen schon Spaß und die Schlussakkorde gelingen meist vorzüglich. Als Grantkapitel der Ausgabe nett, aber eben ein bisschen over the top für meinen Geschmack. Wer’s mag: einfach draufloslesen.

Ich zeigte ihr, wie man russische Comics schaut. An die Heizung gelehnt, mit den Wollsocken und der Tasse heißen Schokolade. Sie erlaubte es mir, auf ihrem Bett zu sitzen und Schopenhauer zu lesen.

Geradezu süß ist Carlo Maximilian Engeländers „Schopenhauer im Winter“ – der Text über die im Kiosk geschlossene Freundschaft zwischen einem schrägen Vogel und einer jungen (innerlich alten) Dame, der sich wie eine O Henry-Geschichte mit Anleitung gegen Winterdepressionen liest und außerdem zu sagen scheint: werdet nicht so schnell erwachsen, dann kommt ihr nur auf dumme Gedanken.

niemand prognostiziert einen
namen. dem du nicht hörig bist, passgenau
dem zungenschlag nach, dieser behörde. und
nicht, wie dein vater dich nannte. genannt haben
dich viele. und viel mehr ist nicht übrig, als
eine haarlocke.

Ronya Othmanns Gedichte scheinen mitunter die von ihnen angesprochenen Phänomene und Abläufe zu zerkleinern, als könnte man so den Dingen beikommen, sie mundgerecht machen oder ihre zersetzende Wirkung betonen – als ließen sich durch Sprache die Wesenszüge einer Sache in Puzzleteile verwandeln, die Leser*innen zusammenstecken können und schon haben sie vor sich ein Bild des Phänomens.

mit deinen ständig wallenden erkenntnisschüben verletzt du mich zutiefst, denn. dein wahnsinn reißt mir die adern aus dem arm wie elektrische leitungen. reißt sie raus. bindet sie zu. bindet sie dreimal um mich herum. zu. gibt mir die enden – wenigstens.

Hannah Bründls „wenn wind – ein monolog für eine stimme“ hat etwas von einer Tirade, aber auch von einem sinnlichen Streifzug. Die Dinge werden ausgehöhlt, aber auch balanciert; viel Schmerz ist da oder doch eher mehr Leere? Das lyrische Ich will sich nicht einer Autorität unterwerfen, aber Widerstand scheint vergeblich, vielleicht wegen der Sehnsucht, die doch dazwischenfunkt? Zwischen Entkörperung und gepresstem Ich-sein protokolliert Bründels Sprache schwer zu fassende Abgründe, in denen man oft schon drinsteckt, wenn man sie entdeckt; das Hängenbleiben und Fallen.

Was soll sie denn denken, Anton, wenn die Uhr, sagen wir, auf dem Bett liegt. Leg die Uhr doch in den Kleiderschrank, aber nimm die Batterien vorher aus der Uhr, denn sonst tickt die Uhr im Schrank noch dumpfer und sie wird fragen.

Bei Artur Krutschs monologischer Prosa „Auf Trebe irgendwo da draussen, in ein andres Paar blaue Augen“, bekommt man schon beim Lesen Komplexe – oder direkt eine handfeste Krise. Eigentlich ist da ja nur eine Küchenuhr, die eine eventuelle, peinliche Stille beim Besuch des neuen Kaffeegastes mit ihrem etwas zu lauten Ticken erfüllen könnte. Aber wohin mit der Uhr? Diese Frage gestaltet der Text verflixt und neurotisch aus, in vollendeter Manier, die einen fixen Gedanken auf die Spitze treibt. Kopfschmerzausrastgänsehaut!

Sitz 5C lese ich mich ein
Schnee im August Umriss
einer Kirche steht heute
Santa Maria Maggiore
ob meinen Wünschen
Pläne folgen

In den Gedichten von Frieda Paris flattert die Poesie von Wort zu Wort, von Vers zu Vers wie von Zweig und Zweig, auf der Suche nach Sonnenlicht, nach Bleiben, nach Herznahrung, nach Gründen zum Singen vielleicht. Lichtdurchflutet sind ihre Texte, werfen aber genauso tiefe Schatten. Sie sprechen von einem Unterwegs, da ist eine Sehnsucht namens Meer, das vielleicht auch ein Bild für die Ferne ist, die noch in der Nähe lauern kann. Mit diesen Gedichten kann man träumen, stolpern, stillstehen.

Wie immer sagte ich dann; Ich möchte eigentlich lieber nur ein Bier trinken, und wie immer sagt Josef dann;
Jetzt habe ich aber schon angefangen alles klein zu schneiden.

In Anna Neatas Text gibt es Wurstsalat und einen heißen Sommer. Der eine macht den/die namenlose Protagonist*in fertig, der andere wird von Josef fertig gemacht, denn Wurstsalat hilft vielleicht (ist er dafür bekannt? Hilfreicher Wurstsalat?). Ach ja: es gibt auch Josef, er ist sogar Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die unter der brütenden Hitze vor sich hinköchelt; er erklärt und liebt und sorgt. Es gibt wenig Bewegung, wenig Handlung – kein Wunder, bei der Hitze! Dennoch ist es ein sehr sympathischer Text, er wirkt irgendwie herrlich selbstlos, herrlich unarrogant, ein bisschen traurig, ein bisschen heiter.

Adrianna Bugatti, fünf vor sechzig, von Sehnen durchzogenes Gesicht, fehgraues Haar, klitoral selbstbefriedigt, vaginal verdrossen, engagierte Vito für Renovierungsarbeiten in ihrer venezianischen Villa. Er tapezierte, bohrte, schwitzte in dem Haus und seinem Unterhemd, während sie sich wünschte, er ginge zu ihrem Frauenzimmer über.

Tja, so geht es dann weiter – als dritter kommt in Helena Este Adlers „Aale, die von Herzen kommen“ später noch Lorenzo hinzu, Adriannas aalglatter, bis in die Haarspitzen gelackter Ehegatte. Insgesamt wirkt der Text als hätten Fellini und David Lynch sich vorgenommen eine illustre Telenovela zu drehen und sich schon sehr früh auf Trash geeinigt. Sicherlich einer der verstörend-unterhaltsamsten Texte, die ich seit langem lesen durfte. Irgendwo zwischen banaal und banaalisch.

Erinnere mich: lerne Knoten binden
Nur abgetuscht alle Bilder
Verschläft sie die Anfangswandlung
Es bleibt eine folgende Reise:

Im Sommer aufgetaucht

Den Schlusspunkt dieser JENNY-Ausgabe setzt Helene Sued mit „Erntebeginn“, ein sehr zerfaserter Text, in dem jede Zeile wie ein loser Faden daherkommt. Ganz werde ich nicht schlau aus diesem Gespinst.

In der Hoffnung, dass Textausschnitte und Beschreibungen Lust auf mehr gemacht haben, überlasse ich das letzte Urteil den Leser*innen, die sich hoffentlich auf diese Ausgabe stürzen werden und sich ein, zwei blaue Stunden um die Ohren hauen.

In launisch lauschenden Gewässern, mit vielen Sehwegen


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„Und schon beginnt Arbeit,
man webt den Thron, das Tau, auf dem man sitzt – Text,
ein Strickpulli, eine Angelschnur, an der man sich
fortlaufend die Zähne ausbeißt, am Hauptfaden.
Wie gut es uns steht, engmaschig, am gesetzten Ende,
Anfang von Saison, von Biographie.“

Auf der ersten Seite, noch vor dem eigentlichen Text, befindet sich in „Phosphor, ein Übergeben“ (neben drei Zitaten, eins von Rilke, zwei von Hilde Domin, die ein interessantes Zwiegespräch halten) eine Definition des Wortes phōsphóros (dem griechischen Ursprung des Namens Phosphor), das „lichttragend“ bedeutet (wegen dem Leuchten des weißen Phosphors bei der Reaktion mit Sauerstoff).

Doch auch ganz oben auf dieser ersten Seite, wo noch einmal der Titel des Werkes steht, gibt es noch etwas zu entdecken, nämlich einen mit Klammern versehenen Untertitel: „(Ein auf dem Kopf stehendes Fermatenzeichen ist eine besetzte Barke).“ In der Tat sieht die Fermate, stellt man sie von den Füßen auf den Kopf, aus wie ein mastloses Schiff. Sie ist ein Zeichen der Musiknotation, ein Aushalte/Innehalten-Zeichen, das die Musiker*innen anweist, hier eine kurze Pause zu machen, den Einsatz zu verzögern; so entsteht ein Raum für das Nachklingen, aber auch für die Erwartung; gleichsam kann es wohl auch für eine Unterbrechung stehen, eine Irritation, die bspw. einen neuen Blick auf das Verhältnis von Klang und Stille ermöglicht.

„Nicht geschieden,
flackert, wabert
der Sinn, gebunden
durch
die Potenz:
nicht abreißen lassen,
wir halten, wir halten mehr
als wir sollten“

Es ist also einiges, was Katharina Kohm uns schon von Anfang an mit auf den Weg gibt – was dazu führt, dass sich die von manchen Versen und Worten aufgeworfenen Bezüge schon zu Beginn mannigfaltig verzweigen.

Phosphor hat dreizehn Kapitel, die jeweils (bis auf das erste und das letzte), mehrere eigenständige Texte beinhalten, die sich in Form und Ton nicht selten unterscheiden. Gleichzeitig ist das ganze Buch ein Text, in dem es wiederkehrende Motive und Narrative gibt.

Dieser Gesamttext gleicht ein wenig einem Flusslauf: es gibt Katarakte, dann wieder ruhigere Stellen mit glatten Oberflächen, dann wieder einen langsam sich steigernden oder plötzlich einsetzenden Sog.

Wer genau spricht, in den einzelnen Gedichten, ist nicht immer auszumachen. Die Pronomen wechseln von Textabschnitt zu Textabschnitt, im Ganzen könnte man fast von einem Pronomenflimmern sprechen: mal geht es um ein angesprochenes Du, an anderen Stellen steht ein Wir im Mittelpunkt, dann wiederum ein auf sich fokussiertes Ich.

„Käferartig
trinken wir Tau
am frühen Morgen,
bleiben schwer
unter Chitin.

Wir stoßen mit der
Mistkugel überall an,
wenn wir die Wege
queren,
rauchen wir Glück.“

Vor allem in den Passagen, in denen es ein Wir gibt oder die auf andere Weise eine breitere Gruppe anzusprechen scheinen, herrscht oft ein mahnender, klärender Ton. Hier wirkt der Text nicht selten wie ein Monolog, eine eigenwillige Bestandsaufnahme, eine groß angelegte, traumwandlerische Dekonstruktion. Immer wieder entfacht sich hier eine Gesellschaftskritik, die sich von ruhigen Darlegungen bis zu drastischeren Feststellungen erstreckt; diese Kritik (oder vielleicht eher: Entzifferungswut) entzündet sich an den Fragen des wahren Lebens im Falschen wie sich der Phosphor am Sauerstoff (der Lebensgrundlage) entzündet.

„Wir raten schlecht.
Man will sich in der Regel nicht wandeln. Die gekratzte
Sicherungskopie der Zeit hallt an den Wänden der
Erinnerung und verhakt sich wie Vinyl und springt über
Spuren, läuft aber rund, spielt dasselbe Thema des
gefügten Materials. Repeat one.
Die Schädeldecke stockt vor lauter Updates, vom
Überschreiben wird dem analogen Lied laufend
schwindelig.“

Die Bewegungen, die die einzelnen Gedichte vollziehen und die das Werk als Ganzes unternimmt, sind immer wieder überraschend. Teilweise kommt einem der Text wie ein Zweiggespinst vor, eine fruchtbehangene Sprache, von der ich als Leser Sätze pflücke, wie etwa:

„Es geht um das andere Verstehen, das Stehen bleiben.“

„Wir sind Chronisten, deshalb können wir denken.“

„Bis in den Enddarm bestehen wir aus Unverdautem,

aus potenziell dazwischen Gedichtetem“,

welche fast schon die Struktur, in der sie sich befinden, zu reflektieren scheinen – oder zumindest die Gedanken, die sich Leser*innen dazu machen könnten.

Manchmal steigert sich die Stimme des lyrischen Ich in ein fast schon komisches Schimpfen, das aber dann mitunter zu einem eindringlichen Auseinandersetzen gerinnt. Auch auf der Mikro-Ebene bleibt die Bewegung faszinierend: zwei ähnlich-klingende oder sonst wie aufeinander verweisende Worte können gemeinsam zu einer Weiche werden, die den Text in neue Bahnen lenkt; manchmal verbinden sich zwei Motive zu einem neuen oder schon mal aufgeworfenen Narrativ; aus zwei Details entsteht ein Komplex oder umgekehrt.

Ein Übergeben, so lautet der Zusatz des Titels, und ich verstehe diesen Zusatz als „Überbringen“ wie auch als „Kotzen“, denn der Text klingt mal wie eine Handreichung, besonders in meditativen Passagen wie diesen:

„Man begehrt, was man jeden Tag sieht, oder zu sehen
gewohnt war, bis zu einem bestimmten Alter. Dann
sucht man, was man einst begehrte. Immer wieder.“

und dann wieder wie ein Wüten und Raffen – darin auch viel Körperliches, worin auch wiederum ein Verwinden steckt, das Verwinden einer Liebesgeschichte, die das lyrische Ich „überlebt“ hat; eine weitere Ebene, ein weiterer roter Faden, der sich durch den Band zieht.

„Über Nacht kommt der Winter
doch noch, Januar in Jade,
es liegt Schnee, die Sonne scheint;
ich habe Liebe überlebt
und werde über ihr alt.“

Ich muss ehrlich zugeben, dass es mir schwergefallen ist, die verschiedenen Fäden und Ebenen unter einen Hut zu bringen oder sauber voneinander zu trennen. Das Motiv der Barke/des Schiffes, das eine wichtige Rolle spielt (als Bild für die Lebenstüchtigkeit, aber auch verknüpft mit dem Eingangssatz über die Fermate), kann ich nur in Teilen mit der Liebesgeschichte zusammenbringen; das Motiv der Pferde, die zu Seepferden werden, das Motiv des Meeres als Lebensgrundlage, das Motiv der Äpfel (sowohl Aug-Äpfel, als auch Holzäpfel, Stechäpfel – darin schwingen potenziell noch religiöse Bezüge mit: Sündenfall, aber auch im Stech-Apfel die Dornenkrone), das Motiv der Käfer u.v.a. – in ihnen allen blitzen faszinierende Metaphorik und Überlegungen auf, die ich aber nicht auf einen Nenner bringen kann (dazu kommen noch eingeflochtene Zitate, die einzelne Teile wiederum in größere Kontexte stellen und die Arbeiten von Ruth Tesmar, die extra für diesen Band konzipiert wurden und mit den Texten wechselseitig korrespondieren).

Man braucht aber einen solchen Nenner auch nicht, um beglückt in Kohms Werk zu lesen, das einem vieles “übergibt”, das man drehen und wenden und genau in Augapfelschein nehmen kann, einen aber auch hineinzieht in sein Geschehen, seine Ansprüche und Aussprüche; man wird als Leser*in in viele Richtungen geschickt und muss diese Reisen gern unternehmen.

Ein besonderes Logbuch, ein Besinnungscontest, eine Verästelung und Verrätselung – man könnte „Phosphor, ein Übergeben“ mit vielen Namen belegen, keiner würde es wohl ganz zu fassen kriegen. Aber letztlich findet sich in dem Text selbst ein kleines Eingeständnis – dahingehend, dass das Gedicht selbst gar nicht wissen kann, was es meint, worauf es abzielt, wohin die Reise mit ihm geht, was es auslöst.

„Das Gedicht; es weiß nicht mehr, wo es herkommt. Wie
der Pfeil der sich an den Bogen nicht erinnert und nicht
an die Hand, an die Augen, die sein Ziel bestimmen
wollten. Es trifft bewusstlos ins Ziel, oder verfehlt es.“

“O stelle deine Füße in mein Herz”


„Ein hölzern Würfelhaus ist meine Ruhe.
Die leiseste Besorgnis macht mein Haus schwanken,
Die leiseste Besorgnis …
Da ist der Augenblick, in dem ich alles verspielen
Oder gewinnen kann.
Und lächle ich,
gelingt mir dies nach meinem Willen.“

Eine meiner intensivsten frühen Lektüren verdanke ich einer abgenutzten Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe von Emmy Hennings Tagebuch „Das Brandmal“, nach wie vor eines der besten autobiographisch-motivierten Werke, die ich gelesen habe: haltlos, sirrend und doch geradezu furchterregend genau in seinen Beobachtungen, seinen Beschreibungen von Körperlichkeit.

Ich stieß in der Folge auch auf einige Gedichte von Hennings, meist in Anthologien zu Dada oder Liebeslyrik – es waren allerdings immer dieselben vier oder fünf Texte. Umso erfreuter war ich, als ich sah, dass im Wallstein Verlag eine kommentierte Gesamtausgabe ihrer Gedichte erscheinen würde – mit dem stattlichen Umfang von über 600 Seiten.

„In mich hineingeliebt hast du das Leben
Du hauchtest dein Gedicht in mich.“

Das lyrische Werk von Hennings hat dann aber auf knapp 380 Seiten Platz; der Rest sind umfassende Erläuterungen/Kommentare zu jedem einzelnen Text, seiner Entstehung und dem Bearbeitungsprozess, sowie den Motiven und Hintergründen – außerdem ein Nachwort der Herausgeberin Nicola Behrmann (die andere Herausgeberin ist Simone Sumpf; Mitarbeit: Louanne Burkhardt).

In diesem Nachwort heißt es an einer Stelle:

„Ihre eigene Dichtung hat Hennings zeitlebens mehr als freien Gesang und gläubiges Spiel und weniger als ein »Werk« verstanden.“

Etwa 80% von Hennings „Werk“ sind gereimte Gedichte (die man sich durchaus gut als etwas Vorgetragenes vorstellen kann). Mindestens ein Drittel dieser gereimten Gedichte muss man außerdem der religiösen Dichtung zuschlagen – davon ein Großteil Nacherzählungen von Begebenheiten des neuen Testamentes und Gedichte zu Feiertagen, außerdem zahlreiche Gedichte über und an Maria, die Mutter Gottes – eine Figur, die Hennings immer wieder umgetrieben hat.

Dieser religiös inspirierte Teil ihres Werks mag manche Leser*innen überraschen, die Hennings (falls überhaupt) vor allem als eine der ersten weiblichen Bohemiens, als Vortragskünstlerin, Verfechterin freier Liebe und Teil der Dadaistischen-Bewegung kennt (u.a. Mitbegründerin des Cabaret Voltaire), die mit Drogen experimentierte und als Person gilt, die ihrer Zeit voraus war.

„Einmal deuteten unsere Prisma-Augen den Regenbogen.
Offenbarten Gott, der über Bergeskurven ging im Abendfrieden.
Sahen die Engel in den tiefen Tälern leuchten.
Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen
Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank.“

„Du kannst den Sonnenaufgang machen.
Schaff neu mein Herz und mein Gesicht.
O, wolle es noch einmal ragen,
Dein erstes Wort: Es werde Licht!“

So wichtig all dies für ihr Leben auch gewesen sein mag und so sehr es das Bild von Hennings in der Nachwelt prägte (woran man wieder mal sieht, dass das Ikonische die Unordnung der meisten Lebensläufe wegzuwischen versteht), in ihrem lyrischen Werk hat sich wenig davon niedergeschlagen – zumindest in ihrem gereimten lyrischen Werk. Es gibt ein paar Prosagedichte aus dem Nachlass, allen voran das Fragment „Dagny“, in dem die schillernde Welt mit Dada und Drogen etwas präsenter sind.

Ansonsten ist Hennings lyrisches Werk, trotz unbestreitbarer individueller Qualitäten – von Wortschöpfungen bis zu ungewöhnlichen Dynamiken –, eher orientiert an Dichtungen wie denen von Hermann Hesse, dem sie zeitlebens eine große Bewunderung entgegenbrachte und dem sie regelmäßig Texte von sich schickte; auch Rilke meint man in dem ein oder anderen Gedichte herauszuhören.

„Wir halten uns umfangen
Und Wasserrosen rings umher.
Wir streben und wünschen und wollen nichts mehr.
Wir haben kein Verlangen.
Geliebter, etwas fehlt mir doch,
Einen Wunsch, den hab ich noch:
Die Sehnsucht nach der Sehnsucht.“

Vielleicht am besten Vergleichen lässt sich Hennings allerdings mit einer Dichterin, die zur selben Zeit wie sie in Finnland lebte (wenn auch sehr viel früher starb): Edith Södergran, die, wie Hennings, unbändige Liebesdichtungen verfasste, aber eben auch mythisch-phantastische, zum Teil religiös inspirierte.

Beide Dichterinnen verbindet vor allem der rigorose Ausdruck ihrer Sehnsüchte und ihr ambivalentes Verhältnis zu klassischen Motiven des „Weiblichen“. Södergran war hier drastischer, imaginierte auf der einen Seite Amazonenkriegerinnen und beklagte offen die Kluft zwischen der Liebe als herrlicher Vorstellung und der Realität des ausgelieferten Frauenlebens und schrieb auf der anderen Seite Gedichte, in denen sie ihrer emotionalen Bedürftigkeit schillernd und wortgewaltig, bis zur Unterwerfung, Ausdruck verlieh.

Hennings dagegen webt die Ambivalenzen umsichtiger ein, wenn sie bspw. das geläufige Motiv der Blume, die für die weibliche Unschuld (und gleichsam für Anziehung, Schönheit) steht, hinterfragt und damit gleichsam den Schönheits-/Jugendanspruch an Frauen und ihre generelle Objektifizierung:

„So ist die Rose: sie duftet und blüht.
Sie träumt von ihrer Mädchenzeit.
Warum nur tut sie mir so leid?
Sie senkt ihr Haupt, wird weich und müd.

[…]

Schon weit von mir. Ich bin geblieben.
Mein Blut ist länger als die Rosen rot.
Die Seele nur will ewig lieben,
Will überleben jeden Rosentod.“

„Wo es am innigsten blüht, blüht die Lust.
Was weinst du, weil du leben mußt?
Was singst du, weil du stirbst, mein Herz?
Wo es am innigsten blüht, blüht der Schmerz.“

Ebenso wie bei Södergran spielt bei Hennings außerdem das Gegensatzpaar Freiheit-Gefangensein eine nicht unbedeutende Rolle: die Freiheit als Dichterin, die Freiheit in der Imagination auf der einen und das Gefangensein als Frau, als Körper auf der anderen Seite – wobei dieser Konflikt in Hennings lyrischem Werk nur in einigen wenigen Texten wirklich zutage tritt und sonst eher religiös transzendiert wird.

Schon zu Lebzeiten bekannt waren jedoch ihre Gefängnisgedichte, die aber vor allem tatsächliche Gefängnisinsassen und -insassinnen zum Thema haben:

„Da draußen liegt die Welt, da rauscht das Leben.
Da dürfen Menschen gehen, wohin sie wollen.
Einmal gehörten wir doch auch zu denen,
Und jetzt sind wir vergessen und verschollen.
Nachts träumen wir Wunder auf schmalen Pritschen
Tags gehn wir einher gleich scheuen Tieren.
Wir lugen traurig durchs Eisengitter
Und haben nichts mehr zu verlieren“

Ein letztes gemeinsames Motiv von Södergran und Hennings ist das Gefühl, einsam zu sein unter den Menschen, unverstanden und fremd dem Zeitgeist, was bei beiden die Hinwendung zu größeren Ideen, spirituellen bzw. phantastischen Vorstellungen sicher begünstigt hat.

„Ich bin des Schweigens Königin,
Wenn ich dir still am Munde hange.
Was mag es sein, das ich verlange?
Du wirst mir sagen, wer ich bin.

Bin ich nur deine Lauscherin
Und du das Wunder, welches glänzt,
Das nur mein Amen leis begrenzt?
O, sag mir, wie ich einsam bin …

Drei Gedichtbände sind von Hennings zu Lebzeiten erschienen. Es ist fraglich, ob sie allein mit ihnen eine Bekanntheit hätte erreichen können, die ihren Namen bis in unsere Zeit getragen hätte. Was aber keineswegs heißt, dass ihr lyrisches Werk nicht lesenswert ist – ganz (!) im Gegenteil.

Es liegt oft eine schöne Inbrunst in ihren Versen und eine an Naivität gemahnende, aber, für mich zumindest, erfrischende und mitunter bestechende Einfachheit, der es immer wieder gelingt, Gefühle und Fragen und Ängste eindringlich vorzubringen. Nicht jede/r mag sich für ihre religiösen Dichtungen erwärmen können, aber dazwischen finden sich genug andere Texte, in denen es um Liebe, Sehnsucht, Glück, Freiheit, Hoffnung und Leid geht.

Hennings lyrisches Ich ist meist eines, das trotz aller Hemmnisse und Widerstände und Unmöglichkeiten für das Verbindende und zu Erhoffende wirbt, ja mitunter plädiert. Solche Gedichte, die (man darf und muss es ganz unironisch feststellen) vor allem zu Herzen gehen, die braucht es auch heute, vielleicht mehr denn je.

„Und jede Frucht sehn sich zu reifen,
Von Sonnenstrahlen warm berührt.
O, Seele, könntest du begreifen,
Was dich zum Blühen hat geführt!“

„O Welt, die ich suche, fühlst du nicht:
Über dir meine hungernden Augen?
Klopfte mein Herz vor deiner Tür,
Vor deinem liebeumschleierten Hause?
Wohnst du so hoch, kleine Welt?
Ich fliege dir zu.
Wohnst du so tief, kleine Welt?
Ich falle dir zu.
Wo du auch sein magst.
Einmal trete ich über deine Schwelle.
Dann bin ich bei dir und frage dich zärtlich:
Bist du die Heimat? Nimmst du mich auf?“

All dies hier, im Licht, geht mit


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„Lichtstrahlen wärmten uns den Rücken
schoben uns an wie warme Windhände
auf dem Weg unsere Schatten vor Augen
rhythmisch bewegt durch unser Gehen

[…]

Blieben verhaftet unseren Schatten
dem mühsamen Weg nach oben zur Kuppe
wo alle Richtungen wieder offen
wir uns drehten zur Sonne“

Fast schon programmatisch klingt der Titel von Sandra Hubingers zweitem Gedichtband: „wir gehen“. Und tatsächlich ist der Titel in Teilen auch Programm: ein nicht näher definiertes Wir bewegt sich durch Landschaften, gemeinsame Tätigkeiten, später Erinnerungen. Aber der Reihe nach.

Im ersten Kapitel sind es vorwiegend herbstliche und winterliche Umgebungen, die vollzogen werden. Lichtzustände, Farben, feinste Be- und Entzifferung von Auswüchsen, Abläufen – wie ein große Kulisse, die in die eigene Blutbahn gespült wird, zieht das Außenweltliche vorbei, zieht uns hinein in seine Gegebenheiten. Oder sind wir es, die in einem bestimmten Moment aus einer bestimmten Konstellation von Natur eine Gegebenheit machen?

„Eine Nebelhaut schwamm über dem Mischwald
unser Atem dampfte uns voraus als würden wir
gezogen von einer Lokomotive so schwarz wie
der Acker ringsum da stapften wir querfeldein“

Der Mensch kann sich als momentane Auswirkung seiner eigenen Handlungen wahrnehmen. Kann der Mensch auch die Natur als momentane Auswirkung ihrer Prozesse wahrnehmen? Oder: kann er sie überhaupt anders wahrnehmen (begreifen kann er sie durchaus als etwas anderes, aber wahrnehmen)?

Vielleicht mute ich Hubingers Gedichten zu viel zu, wenn ich diese, sehr verwinkelten Fragen über sie stülpe. Aber wenn sie auch nicht auf sie abzielen, setzen sie sich doch auf beeindruckende Weise mit ihnen auseinander – auf welche Weise unsere Wahrnehmung zur Natur durchdringt und wie die Natur unsere Wahrnehmung durchdringt.

„Schneeverwehungen in Gips gegossener Atem
Prozesse angehalten Zurechtgesponnenes mit
Seidenschlingen gebunden gefroren zu winzigen
Borsten die Behaarung junger Wolfsspinnen“

Schon im zweiten Kapitel wird diese Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Mensch-Natur noch auf andere Weise deutlich, denn jetzt wird der Naturkontakt intensiviert und gleichsam kultiviert: es geht ums Ernten, Jäten, Pflanzen. Die Erde bringt hervor und die Erde bleibt an den Fingern, unter den Nägeln, wenn man sie berührt, in ihr herumwühlt; sie nimmt auf und gibt.

Oft wird die Natur (in der Wissenschaft) als ein selbsterhaltendes (sich selbst erhaltendes) System begriffen, ein Apparat der besonderen, aber dennoch schematischen Art, in dem alles letztlich vorhersehbar ineinandergreift. Menschen glauben jedoch (in der Regel) an höhere Prozesse, eine ganze Kultur aus Vorstellungen/Hoffnungen ist entstanden, in der die höheren Möglichkeiten des Menschen zutage treten sollen. Hubingers Beobachtungen und Darstellungen erden diese Vorstellung auf eigenwillige und anschauliche Weise.

„Das Summen schwoll an als löste
sich vom Baum ein Pfropfen wir mieden
die Bestachelten in den Blüten
Flügelpaare motorisiert mit vollen Pollenhosen“

Ihre Gedichte gehen sehr nah heran an die Phänomene, schildern die Abläufe und Strukturen von Dingen und Erfahrungen, bis sich darin mitunter Konzentrationen von kaum fassbaren Einheiten und Verrückungen auftun.

Trotz des teilweise fast schon dokumentarischen Stils, gibt es immer wieder sehr starke Bilder, die umso größere Wirkung entfalten, weil man in den akribischen Darlegungen der Gedichte manchmal nicht mit ihnen rechnet.

„Die Treppe hinab schwenkten wir zwischen uns
die Büchertasche schüttelten sie dass die Wörter
von einem Buch ins andere sprangen
wie in unbekannte Häuser einstiegen“

Während im dritten Kapitel eher luftigere Töne angeschlagen werden und Vögel zu den unterschwelligen Protagonist*innen avancieren und im vierten Kapitel Strände und das Meer Einzug halten, ist das folgende Kapitel eine Besonderheit.

Die Gedichte in diesem fünften Kapitel sind inspiriert von Alan Weismans Buch „Die Welt ohne uns“, in welchem der Autor imaginiert, was passieren würde, wenn die Menschen von einer Sekunde zur nächsten von der Erde verschwinden würden, Schritt für Schritt – zunächst, was die nächsten Tage passieren würde, dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte und schließlich, was bleiben würde von unserer Zivilisation, nach tausenden von Jahren.

Diese Gedichte sind aber nicht nur besonders, weil sie von den Überlegungen des Buches inspiriert wurden, sondern auch, weil das charakteristische Wir/Uns der anderen Gedichte fehlt. Hier wird dann spätestens auch deutlich, dass der Titel „wir gehen“ auch anders gedeutet werden kann: nämlich als ein „wir verschwinden“.

Vor dem Hintergrund dieser zweiten Bedeutung bekommt auch die Auseinandersetzung mit der Natur in den vorangegangen Kapiteln eine zusätzliche Nuance: die Beobachtung ihrer Prozesse, deren Bestandteil auch wir eines Tages wieder sein werden (unfähig, die herausragende Position, die Warte der Beobachtung, zu halten), wird zur Vergegenwärtigung der Sterblichkeit, des Verschwindens trotz der Fülle, trotz aller Wahrnehmung, allen Aufnehmens.

„Unsere Bewegungen spalteten sich ab
von uns geweht über die Ebene gleich Rauch
sich tummelnde Phantome uns nachahmend
schwebten sie ins Unterholz wo es knisterte“

All dies Aufgreifen der Natur also nur ein geschickter Spiegel für die existenzielle Geworfenheit des Menschen? Natürlich nicht nur. Viel von dem, was ich hier ausgebreitet habe, kann man getrost als Metaphysik abtun, die ich für mich aus der Physis dieser Gedichte abgeleitet habe, die sich aber nicht zwingend aus ihnen ergibt. Ihre Sinnlichkeit, die weder wirklich grob noch wirklich fein ist, ihre ganz eigene, fast unbeteiligte Zärtlichkeit, ihre im „wir“ konzentrierte, aber nie ganz fassbare Teilhaftigkeit, die manchmal fast wie eine Teilnahmslosigkeit wirkt, das alles kann auch ganz für sich stehen, braucht keine Theorie zum Anlehnen.

„Als eine aus dem Takt geschlagene Partitur
erschien uns diese Natur wir notierten ihren
Pulsschlag ihre Fieberkurve den höchsten Ton eines
Singvogels das Pianissimo von rieselndem Sand“

Während im sechsten Kapitel eine fast endzeitliche Stimmung herrscht, in jedem Fall kryptischere, feingliedrige Motive dominieren, passiert im letzten siebten Kapitel ein weiterer Schwenk und entrückt das Geschehen in die Kindheit, in die Zeit der Spiele und Entdeckungen.

Diese letzte Transformation zeigt noch einmal, dass ich mir hier den Mund fusselig reden könnte und trotzdem einige Aspekte der Gedichte verfehlen würde. Diese Gedichte agieren scheinbar wenig und präsentieren doch so viel, vollziehen bloß nach und sind doch bemerkenswert vielschichtig, wenn man sich einmal anschickt, sie wirklich anzuschauen und nicht nur zu durchqueren.

„Mit dem Kompass einer Piratenkindheit
betraten wir das Hausinnere: die Nadel
schlug aus stach mehrmals in die Herzwand
als wir uns drehten um Achsen von

Erinnerungen die ächzten brachen
Himmelsrichtungen vergaßen doch zog
uns magnetisch die Wendeltreppe“

Ungefiltert: Liebeskummer und Depression


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„mein erster schwarm war Benny »Düsenjet« Rodriguez. dieser junge rannte so schnell, dass er zu fuß fliegen konnte. wäre ich ein tier, dann ein kolibri. wenn ich kolibri sage, meine ich, zuweilen vergessen meine hände, wie man etwas hält, werden zu zwei teetassen in einem erdbeben. ich bin ein gerassel zersplitterter knochen. wenn ich sage: mein körper, meine ich offene eingeweide und noch einiges mehr. […] sitzt du je am ende eines bettes und lauschst der drehung der welt? ich höre dieses lied überall. wenn ich sage: dieses lied, meine ich die zeit. die zeit ist eine heilige katastrophe in gestalt geerbter zifferblätter, die nicht zu meinen handgelenken passen. das einzige instrument, das ich zu spielen weiß, ist ein muskel. ich mag meinen körper am meisten, wenn ich mich nicht sorge, wie viel platz er einnimmt.“

Es war ein einziger Auftritt, der die Kanadierin Sabrina Benaim auf einen Schlag berühmt machte. 2015 trat sie beim NPS (National Poetry Slam) auf und trug dort ihr Gedicht „explaining my depression to my mother/wie ich meiner mutter meine depression erkläre“ vor. Bis heute wurde das Video des Auftritts 9,3 Millionen Mal angeklickt.

Im Video ist eine Performerin zu sehen, die mit ihrem Gedicht zu ringen scheint und es doch mit aller Leidenschaft vorträgt; eine Intensität, eine Unbedingtheit liegt in ihrer Stimme, die bricht und dann wieder hervorbricht, hinter der man (auch wenn es eine Performance sein mag) Angst in großen Wellen anbranden hört. Es ist beeindruckend und schmerzhaft, sich diesen drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden langen Dialog anzuhören. Ein kleiner Ausschnitt:

“mom,
my depression is a shapeshifter
one day it’s as small as a firefly in the palm of a bear
the next it’s the bear
on those days I play dead until the bear leaves me alone/

mom,
meine depression ist eine gestaltwandlerin;
an einem tag ist sie so klein wie ein glühwürmchen in der tatze eines bären,
am nächsten ist sie der bär.
an solchen tagen stelle ich mich tot, bis mich der bär in ruhe lässt.

[…]

anxiety is the cousin visiting from out of town
that depression felt obligated to invite to the party.
mom, I am the party.
only I am a party I don’t want to be at./

die angst ist der cousin, der von außerhalb der stadt zu besuch kommt,
und die depression fühlt sich verpflichtet, ihn zur party mitzubringen.
mom, ich bin die party!
nur bin ich eine party, auf der ich nicht sein will.“

(auf Englisch kann man das ganze Gedicht hier nachlesen;)

2017 erschien dann „Depression & Other Magic Tricks“. Der Titel wurde bei der deutschen Ausgabe (aus mir persönlich unbegreiflichen Gründen) geändert in „Das Leben und andere Zaubertricks“. Möglicherweise wollte man das Wort Depression umgehen (wobei es ja trotzdem auf dem Cover steht, als Teil des englischen Originaltitels). Was absurd wäre, wenn man bedenkt, dass es in Benaims bekanntesten Gedicht und auch in anderen Texten in dem Band darum geht, Tabus zu überwinden, ungefiltert über Schmerz und Angst und mental health zu sprechen, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Verharmlosung, die in der deutschen Übersetzung des Titels stattfindet, untergräbt außerdem dessen Ambivalenz.

Denn natürlich ist Depression kein Zaubertrick (das Leben auch nicht). Die Übersetzung von „magic trick“ trägt hier (meiner Meinung nach) zusätzlich zur Beschönigung bei. Zaubertrick – in dem Wort steckt etwas Schelmisches, Kindliches, aber auch Virtuoses und zu wenig von der Fremd- und Selbsttäuschung, die die das Wort ausdrücken soll. In Übersetzungen wie „andere Tricks/andere (dunkle) Täuschungen“ sähe ich mehr von der ursprünglichen Ambivalenz herübergerettet.

„an den tagen, da ich aufwache
& mein name ein beschönigendes wort ist
für deprimiert oder ängstlich oder was auch immer,
trinke ich meinen kaffee, während die unbelebten gegenstände
in meiner wohnung zu mir sprechen.

[…]

was man dir nicht sagt über selbstpflege:
dass sie dir das gefühl geben kann, der coach zu sein,
der spielführer & jeder … andere … spieler.
oh, & das maskottchen.
sie kann dir das gefühl geben, vornehmlich das maskottchen zu sein.“

Benaims Gedichte haben eben auch nichts Lockerleichtes, Selbstbewährtes. Vielmehr sind sie aufwühlende und nachhaltige Auseinandersetzungen. Nicht nur mit Depressionen, sondern auch mit der Abwesenheit des Vaters, unerwiderter Liebe und (physischer) Krankheit. Es sind schonungslose Reflexionen über das eigene Befinden und den Umgang damit; über die Mechanismen, in denen man gefangen ist. Manchmal ist ihre Bildsprache wuchtig und originell, dann wieder zart und sehr gemäßigt.

Dieser Wechsel ist ein bisschen so, als würde jemanden ein furioses, heftiges Klaviersolo spielen und dann plötzlich herumklimpern, melodisch zwar, aber sehr langsam, fast ohne Dynamik, sich vorantastend. Es gibt Gedichte von Benaim, die ein fortlaufender Prosatext  (wie das Gedichtbeispiel am Anfang) und andere, die lediglich so etwas wie kleine Notizen sind. Zwischen diesen Polen, zwischen Expressivität und Vorsicht springt ihre Sprache hin und her, mal nur ein Funke, mal ein unter Hochspannung gesetzter, leuchtender Kreislauf.

„ich befinde mich im lebensmittelgeschäft, weil ich traurig bin. ich
bin traurig, weil niemand in mich verliebt ist. niemand ist in mich ver-
liebt, aber jeder liebt mich. jeder liebt mich, weil ich gut darin bin, men-
schen ein gutes gefühl zu geben. ich bin gut darin menschen ein gutes
gefühl zu geben, weil ich häufig an mir selbst gearbeitet habe. ich arbei-
te an mir selbst, weil ich häufig traurig bin. ich bin häufig traurig, aber
wenn ich menschen ein gutes gefühl gebe, fühle auch ich mich für eine
kleine weile gut. ich fühle mich für eine kleine weile gut, bis ich einsam
werde.“

Ich würde Sabrina Benaim zu einer Gruppe von Dichterinnen und Performerinnen zählen, die in den letzten Jahren durch Texte und Auftritte gleichermaßen auf sich aufmerksam gemacht haben (wie etwa auch Koleka Putuma, von der 2019 ein starker Band bei Wunderhorn erschien, oder auch Kate Tempest, deren Bücher regelmäßig im Suhrkamp Verlag erscheinen). Bei allen drei genannten Beispielen haben die Texte einen starken politischen Aspekt, setzen sich mit Homophobie, Rassismus (Putuma), Kapitalismus, Entfremdung (Tempest) und mental health (Benaim) auseinander.

Vermutlich (hoffentlich) wird man einmal auf diese Gruppe von jungen Frauen zurückblicken und erkennen, dass sie wichtige Impulse für die Diskussionen der Gegenwart geliefert und geholfen haben, bestimmte Themen in die Gesellschaft hineinzutragen. Gleichwohl will ich Benaims Lyrik nicht nur auf den Aspekt der mental health-Thematisierung reduziert sehen. Ihr erster Gedichtband enthält letztlich Gedichte über all die Ängste und Hürden eines jungen Lebens: Selbstfindung, Zurückweisungen, Angst vor der Zukunft, Struggle mit der Kindheit, dem Aufwachsen, Perspektivlosigkeit, erste Verluste, erste Rückschläge. Ihre Texte sind nicht lebensklug, aber die vielen Konfrontationen darin machen aus ihnen so etwas wie einen Überlebens-Bericht, ein Soforthilfe Kit für die Verletzungen, die das Leben als (junger) Mensch mit sich bringt. Insofern ist die Übersetzung des Titels vielleicht doch gerechtfertigt (aber selbst dann wäre damit immer noch mehr verloren als gewonnen).

„um zu vergessen,
vergräbt sich das
artischockenherz in blättern,
hin zur quelle des wahren hungers,
um satt auszusehen,
um üppig zu erscheinen

*

meine großmutter sagt,
herzschmerz sei
eine hugrige raupe,
die gefüttert werden muss,
damit sie flügel ausbilden
& fortfliegen kann“

[…]

in meinem zentrum hängt eine kleine glocke,
ich weiß sie nicht zu läuten,
aber ich habe sie läuten hören.
ich kann nicht aufhören, daran zu denken,
wann sie das nächste mal läuten wird.“