Category Archives: Bekannte und wichtige moderne Dichter*innen

Zu “doggerland” von Ulrike Draesner


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Letztens lass ich einen elektrisierenden Gedanken (in Randall Munroes Buch “What if 2”), nämlich, dass alle jetzt lebenden Menschen zwangsläufig von ein paar wenigen hundert Menschen abstammen müssen, mit denen uns eine nie abgebrochene Fortpflanzungskette verbindet. Kein besonders überraschender Gedanke, aber doch elektrisierend, weil darin die generelle Erkenntnis steckt, dass unsere ganze unübersichtliche Gegenwart aus dem entstanden ist, was sich durchgesetzt und überlebt hat (während vieles andere auf der Strecke blieb). Wir stehen sozusagen nicht auf dem Höhepunkt der bisherigen Schöpfung, wir liegen hinter dem Nadelöhr (oder die Gegenwart ist sogar das Nadelöhr).

Und somit ist auch die Vergangenheit nicht einfach die Geschichte vom Wandel, der zur Gegenwart führt, sondern das Zuhause einer Vielfalt, die heute nicht mehr existiert oder nur noch in Fragmenten und Bruchstücken erhalten geblieben ist. “Doggerland” eine Region zwischen Norddeutschland und Großbritannien, vor über 8000 Jahren vom Meer verschlungen, kann als Sinnbild für diese riesige Vergangenheit, die nur in Teilstücken fortlebt, angesehen werden.

Zum einen lebt sie in den Mythen fort, den Geschichten um Atlantis und den Garten Eden, in den gräulichen Phantasien von Lebensraum und Germanentum. Aber man landet auch zwangsläufig in doggerland, zumindest abstrakt, wenn man sich rückwärts in der Sprache bewegt, in einem Raum, in dem sich das Angelsächische und Deutsche annähern, bis zwischen ihnen zahlreiche Funken von Bedeutung überspringen.

Was erhellen diese Funken? Manchmal nur eine fast schon kalauerische Verwandtschaft, aber oft genug kann man im Lichte dieser Funken einen Blick auf die Vergangenheit erhaschen. Wie in einem Teilchenbeschleuniger, werden die Sprachteilchen aufeinander geschossen, mit der ungeheuren Geschwindigkeit, die Jahrtausende in wenigen Sekunden überbrückt, und die Reaktionen reichen von Verpuffen, über Leuchten bis hin zu stabilen neuen Elementen, unbekannten Bausteinen der Wirklichkeit.

Wie viel kann uns die (Sprach)Geschichte über uns selbst sagen? Was aus der Vergangenheit tragen wir in uns mit und inwieweit sind wir diesem Erbe verpflichtet? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, aber Draesner liefert mit Doggerland eine Möglichkeit, sich auf ihren Grund zu begeben. Man muss sich teilweise auf ihre Assoziationen einlassen, teilweise kann man aber auch seine ganz eigenen Wege gehen. In jedem Fall erwartet einen eine spannende Reise.

Zu “Averno” von Louise Glück


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Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.”

Wer kennt es nicht, das berühmte Hölderlin-Gedicht, in dem sich die Hoffnungen und Ängste sich im Sinnbild der Jahreszeiten treffen. Was bei Hölderlin sehnsuchtsvolle Beschreibung der Natur im Geiste des Ideals ist, war bei den alten Griechen und später Römern noch teilweise ein Werk der Götter, vor allem einer Göttin, nämlich Demeter.

Die verfiel nämlich in einen solchen Gram, als ihre Tochter Kore/Persephone vom Gott der Unterwelt, Hades, geraubt wurde, dass alle Pflanzen auf der Erde zu verblühen begannen und die Temperatur stetig sank. Zeus erreichte mit seinem Bruder Hades schließlich einen Kompromiss: Die eine Hälfte des Jahres (Sommer und Frühling) verbringt Persephone bei ihrer Mutter auf der Erde, die andere Hälfte des Jahres als Hades Frau in der Unterwelt (Herbst und Winter).

Was hat das alles mit Louise Glück und “Averno” zu tun? Nun, der Kratersee galt den Römern einst als Eingang zur Unterwelt. Und genau wie bei Hölderlin (bspw. im Titel) noch die alte Sage von Persephone mitschwingt – die Idee von einem halben Leben an der Schwelle des Todes, einem halben Leben umgeben von der Erfüllung des Lebens – ist sie auch bei Louise Glück sehr präsent.

Sie ist die Figur, die zwischen den beiden Gegensätzen steht, die Naht zwischen Tod und Leben, die auch wir sind, verkörpert (zumindest als Mythos). Wir alle sind Persephone und wir alle sind gleichsam geraubt und verbannt und können doch platznehmen in den Freuden der Welt, zumindest für eine Zeit.

„ Komm zu mir, sagte die Welt. Ich stand

in meinem Wollmantel an einem hellen Portal –

endlich kann ich sagen

vor langer Zeit; es bereitet mir großes Vergnügen.“

Glücks Poesie hat etwas Martialisches, teilweise auch übertrieben Saumseliges. Aber es gelingt ihr dennoch eine spannende Philosophie des Lebens, das dem Tod versprochen ist, zu entwerfen. Wie gehen wir um mit dieser Endlichkeit, die umgeben ist von einer Unendlichkeit? Was können wir hoffen, was müssen wir glauben, was sehen wir und was sehen wir ein?

Vieles wiegt schwer bei Glück und wer sich auf solch eine schwere Poesie nicht einstellen kann, wird wohl wenig Freude an ihren Gedichten haben. Für wen Poesie aber immer auch eine Auseinandersetzung mit der Geworfenheit des Menschen ist, der oder die wird hier viel Nachdenkenswertes vorfinden, viel poetische Kraft, geschmiedet im Feuer des Dilemmas, der Hoffnung, der Verzweiflung.

Von Ron Winkler beschenkt


Ron Winkler gehört zu jenen Dichter*innen, bei denen man schon nach wenigen Seiten Lektüre den Eindruck bekommt, sie entnähmen ihre Worte und Sätze nicht der Sprache, sondern beschenkten im Gegenteil die Sprache immerfort mit ihren Wendungen und Formulierungen.

Natürlich entsteht dieser Eindruck gerade deshalb, weil solche Dichter*innen in großem Umfang auf vorhandenes Sprachmaterial zurückgreifen, damit arbeiten. Es entsteht eine elementare Poesie, eine dingliche, und in Winklers Fall sind Witz und Geist das Magma in diesen Dingen, das aus ihnen an die Oberfläche sprudelt und sich darauf verläuft, gerinnt zu Kunstwerken, halb aus Dingmaterial und halb aus Sprachmaterial.

Es ist, trotz aller Euphorie, schwierig, Leuten diesen Gedichtband bedenkenlos ans Herz zu legen, vor allem solchen, die bis dato wenig zeitgenössische Lyrik gelesen haben. Oder anders formuliert: niedrigschwellig sind Winklers Gedichte nicht, zumindest auf den ersten Blick.

Doch vermutlich ist die entscheidende Frage, mit welcher Motivation man diesen (oder auch manch anderen Lyrikband) zu lesen beginnt. Mit dem Wunsch nach konkreten Erkenntnissen und klaren Definitionen wird man dieses Buch vermutlich vergeblich durchblättern. Ein besserer (und eigentlich auch schönerer) Ansatz wäre, wenn man das Buch mit dem Wunsch aufschlagen würde, eine Interaktion zwischen Sprache und Welt zu erleben.

Um das auszuführen: Wo in vielen Büchern die Sprache zur Erklärung der Welt dient, ihr also untergeordnet ist, begegnen sich bei Winkler Sprache und Welt (und dazwischen noch das Ich) auf Augenhöhe (das ist im Grunde die Essenz von Poesie, Winkler treibt sie mit Witz und Spiel auf so manche hochgelegene Spitze).

Es beginnt ein Wechselspiel zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, bereits Formuliertem (das als Phrase, Stereotype, Klischee, etc. auch schon Teil der Welt, der Dinge geworden ist) und im Werden begriffener Formulierung, Idee „von“ und Idee „zu“.

Vom Politischen bis zum Persönlichen hat Winkler alles mögliche in seinen Gedichten vermengt, manchmal mit Anflügen von Zärtlichkeit, manchmal mit Winkelzügen von Brachialität. Manchmal kommen einem seine Texte wie Spiele vor, manchmal kommt einem im Lichte der Gedichte aber eher die Welt wie ein Spiel vor, bei dem die Gedichte vehement auf eine Änderung der Regeln pochen oder sie einfach flugs beschließen, einen neuen Pfad eröffnen.

Hier, im Anhang dieser kurzen Rezension, zur Anschaulichkeit ein paar Sätze und Halbsätze mit denen das Buch die Leser*innen beschenkt. Wer davon angetan ist, der sollte das Buch schleunigst kaufen:

der wunderbare Strichcode der Nadeln einer Tanne

Erholung finden am dafür vorgesehenen Tropfen.

das muss jetzt schleunigst aus den Tastorganen.

ich finde es okay, wenn Dinge irgendwann Gebirge werden.

ihnen [Wiesen] zugefügt ein gleißendes, ein mehrfach haltbar angekreuztes Zwitschern.

schau an, was wirkt wie von sich selbst gewünscht.

ich kann nicht durchs Salamanderfluchtportal.
doch ich kann.

bist du ein gutes Zeichen? wie ist denn deine Käferleistung,

die Partitur des edlen Ächzens eigener Erfahrung.

frag dich durch die Erde, durch alle
nicht ans Stromnetz angeschlossenen Dimensionen von Erde.

ich schäume nicht mit
Einsamkeit.

gewiss, oft macht Grau den Unterschied
und nur noch Laien können helfen.

bloß nicht per Volk
entschieden sein.

für die Türsteher der Clubs in Gegenden, die in der Bibel
unter »Ich liebe dich« firmieren,

vielleicht bin ich noch nicht
in Einzigartigkeit zerlegt.

wie wir wissen, sind Möwen eine Sprachnachricht fürs Leben.

Tausende von kleinen Unterwassertüren.

hast du ein Holster
für das Gute?

produziere Helium für die Zeugen.

(ich fühle mich persönlich angeblumt)

schau erst nach rechts und links, bevor du dein Gehirn durchquerst,
mit deinen Anteilsscheinen an Atlantis.

ich überdauerte in eine eigene Heimat.

auf Lichtbelange angewandt.

ich wirkte klein
neben dem Panzer. konnte nicht strahlen
wie Uran, dafür der Beste sein
in Muskelkater, wenn es darauf ankam.
die Liebesbriefe, die ich schrieb, pastellene
Panikparadiese.

ich lass die Fragezeichen
einseitig geöffnet, muss niemanden vereisen.

ohne Trennpronomen
sich ins wilde Sichverlieren begeben.

unsere Wangen folgen keinem
Ablaufplan.

still stehen die Berge wie von sapphischen Motoren angetrieben.

schau ins Gedicht, vielleicht findest du dein eigenes Licht.

Eine herausragende Lyrik-Anthologie


Natur! Natur, die viel besungene, die schützenswerte, die romantisierte, die arrangierte, die psychologisierte, die fragmentierte, die marginalisierte, die ausgebeutete. Idylle, Trieb, Zerstörung, Heimat, Ressourcen, Frieden, Leben, Erholung, Wildnis, etc. – kaum ein Begriff ist mit so vielen Assoziationen und Ideen verbunden, geradezu verstellt von ihnen, wie die Natur. Und es gibt ja nicht mal „die“ Natur. Es gibt die Natur des Kosmos, es gibt den Flecken grün oder Wald nah bei der Haustür, es gibt die Gebiete hinter den Rändern der Stadt, jenseits des Urbanen, und der Begriff Natur kann auch als Eigenschafts-, als Wesenswort dienen (Bsp.: Die Natur des Menschen).

Naturlyrik war eine Zeit lang ein bisschen aus der Mode (nicht bei allen Schreibenden in allen Sprachen und Ländern wohlgemerkt), was sich mit dem Auftreten der Anthropozän-Debatte (siehe auch: „all dies hier, Majestät, ist deins“, eine Lyrikanthologie bei Kookbooks, die Gedichtbände „Ouisa“ von Verena Stauffer und die neusten Gedichtbände von Daniel Falb, sowie das Buch „Anthropozän: Dichtung in der Gegenwartsgeologie“ beim Verlagshaus Berlin) und der Eco-Poetry durchaus geändert hat.

Die Anthologie von John Burnside verlässt sich allerdings im hohen Maße auf Klassiker und arrivierte (wenngleich in Deutschland teilweise unbekannte) Autor*innen und schöpft eher wenig aus diesen neusten Bewegungen. Es ist in Folge dessen auch, trotz des gegenwartsbezüglichen und exzellenten Vorwortes von Burnside, eine Anthologie, die den Begriff Natur eher facettenreich umkreist, statt ihn in Kontexte einzusetzen und über dieses zu definieren.

Das ist aber weniger ein Versäumnis, sondern vielmehr eine gelungene Verlagerung. Wie der Titel es schon andeutet: hier soll es primär um die Natur gehen, wie sie erfahren, erlebt wird, nicht um ihre kontextuelle Verortung; kein Teilzug ihres Wesens soll ausgelassen werden, weil er nicht in derzeitige Debatten passt.

Die Autor*innen reichen von Homer bis zu Nick Lantz und Burnside hat viele prominente Namen aus vielen Weltgegenden untergebracht, in fünfzig Fällen Erstübersetzungen und Erstveröffentlichungen. Als deutschsprachiger Lyrikleser fehlen mir „natürlich“ einige Namen, von Sabine Scho über Daniel Falb und Marion Poschmann bis zu Jürgen Brôcan (etc.). Aber auch bei den Klassikern fehlen mir Autor*innen wie Robert Frost oder Inger Christensen, oder, aus der Gegenwart, Jen Hadfield.

Aber an Anthologie-Auswahlen gibt es immer etwas zu kritteln und das, was da ist, spricht für sich. Ja, „Natur!“ ragt aus dem Feld der Themen-Lyrikanthologien heraus und sollte in keinem Bücherschrank fehlen, denn es versammelt nicht einfach populäre, immer wieder gedruckte Texte, sondern eine sorgsam getroffene Auswahl, die nahezu alle Aspekt der Naturerfahrung, auf vielerlei Arten und Weisen, illuminiert. Sehr empfehlenswert!

Wünsche, Träume, dann und wann auch nicht zu saumselig


stille-trommeln“Traum von
Namen nackt wie die Dinge die
sie verhüllen”

Ich finde, es ist etwas ungeschickt, wenn der Verlag auf den Rückendeckel dieses Gedichtbandes schreibt, dass die Texte darin als “Antwort und Reaktion auf ihre erzählerische Prosa entstanden sind”.

Das schreckt nicht nur Leser*innen ab, die diese Prosa nicht kennen, es wirkt auch wie ein Eingeständnis, dass diese Text nicht für sich stehen können. Mit diesem Gefühl bin ich in den Band gestartet – und losgeworden bin ich es bis zum Ende nicht.

“Wer möchte es nicht
glauben dass das Gute
Schöne und Wahre sich schütteln lässt
wie Pflaumen vom Baum
aufs Blatt ins Gedicht”

Sentimentalität, das beschreibt einen Zustand, ein Verhalten, in dem auch der kleinste Gegenstand, die kleinste Erinnerung, einen Anlass für Glorifizierung, große Fragen und/oder Rührung darstellt, in jedem Fall für eine als überzogen wahrgenommene Gefühlsverlautbarung.

Die Lyrik, ob es ihr gefällt oder nicht, wird sich in Teilen auch immer im Umfeld dieses Gefühls bewegen, es ist eine ihrer Naturen. Oder, anders gesagt: die Sentimentalität ganz aus der Lyrik zu verbannen, würde ihr viel nehmen, zumal der einzig probate Ersatz für Sentimentalität Zynismus ist, und der ist auf Dauer, zumindest wenn er gegen nichts antritt, genauso unausstehlich wie schrankenlose Sentimentalität.

Aber zurück zu Hahn. Ich habe den Begriff der Sentimentalität überhaupt erst ins Spiel gebracht, weil ich mich gefragt habe, ob das die Gedichte adäquat beschreibt. Bisher hätte ich, was Hahn angeht, immer gesagt: Sie enthalten fast immer ein bisschen Sentimentalität, verstehen es aber blendend, diese auf links zu drehen, plötzlich spitz und schneidend zu machen oder zumindest kurz vorm Kitsch mit einem Lächeln, mit Ironie, Witz oder Klugheit auszustatten.

“Ach einmal noch
es rausschnippen aus
dem Brustkorb raus
aus dem Rippengitter
in die Wiese kicken
das rote Klümpchen
runter rollen
ins Wasser ans
andere Ufer”

In diesem neuen Band aber verwischen die Grenzen zwischen Kitsch und Kunst bei Hahn hier und da dann doch. Das habe ich schon oft so gesehen, diese Verwischung, sie ist nicht selten ein Beikraut des Alterswerks – und als solches auch weder zu verachten, noch zu belächeln, in Maßen.

In manchen Gedichten hält Hahn Maß und dann haben ihre Verse zwar etwas Nostalgisches, aber verstehen sich wie sonst auf Witz und Verstand und können, obgleich sie von vielen Lyrikleser*innen als leichte Kost bezeichnet würden, unterhalten und zum Nachdenken bringen.

Aber in manch anderen Texten, da gibt es keine Brechung, da wird uns die “noch am Halme wogenden Gefühle” präsentiert, um Kästner zu zitieren, der einmal ein bitterböses Epigramm über solche Texte geschrieben hat. Hier fühle ich mich dann wieder an den Klappentext erinnert, bin aber mehr schlecht als recht damit getröstet, dass das alles vielleicht im Kontext von Hahns Prosa Sinn und Kunst ergibt.

“Ein Wort
ergibt zu viele andere Ihr sentimentales Flehen
aus dem Staub von Jahrhunderten”

Womit wir zur schwersten Frage kommen: ist der Band überhaupt empfehlenswert? Ich will, nicht etwa aus falscher Gutmütigkeit, sondern aus Überzeugung, betonen, dass es in diesem Band sehr wohl gute Gedichte gibt. In der Summe würde man die Texte wohl als hübsch, als nett bezeichnen, was auch abwertend klingt, hier aber nicht (unbedingt) so gemeint ist. Es sind Vierzeiler wie dieser, die den Band lesenswert machen, allerdings nur, wenn man über manche Texte einfach hinweglesen kann:

“In der Sonne sitzen nichts tun
abwarten sich wärmen lassen
reif werden wie der Apfel im Baum
Der Pflücker wird keinen vergessen”

Zu der Lyrik-Anthologie “Im Grunde wäre ich lieber Gedicht”


Im Grunde wäre ich lieber Gedicht Drei Jahrzehnte Lyrik Kabinett in München (dessen Lyrik-Bibliothek mit mehr als ca. 60.000 Bänden Deutschlands größte Sammlung internationaler Poesie ist), unzählige Lesungen mit unzähligen Gästen aus nah und fern – das schrie förmlich nach einer Anthologie, aber allzu oft verhallen solche Schreie wohl ungehört oder werden barsch, vielleicht mit einem schmalen Jubiläumsheftchen, abgewatscht.

Nicht so in diesem Fall, einem Glücksfall für alle Poesie- und Lyrikliebhaber*innen. Denn Michael Krüger und Holger Pils haben eine Anthologie herausgegeben, die in Umfang und Akkuratesse tatsächlich eine Vorstellung davon geben kann, was für eine wichtige und inspirierende Institution das Lyrik Kabinett war und ist und was für spannende Veranstaltungen dort stattfanden und -finden – nebst einem wunderbaren Einblick in die verschiedensten Formen und Richtungen der Lyrik, deutschsprachig und international.

Das Buch geht chronologisch vor. Während im unteren Bereich der Buchseite eine Liste mit den Veranstaltungen des Jahres mitläuft, sind darüber Gedichte (nebst Original, falls sie aus einer Fremdsprache stammen) abgedruckt, die von einem/r Autor*in stammen, die an einem dieser Termine gelesen hat/Thema der Veranstaltung war. Die jeweiligen Jahreskapitel werden eingeleitet von kurzen, meist poetologischen Abschnitten aus Reden und Essays von Dichter*innen.

Nur wenige Anthologien sind in Sachen Lyrik unverzichtbar, aber der Hanser Verlag beschenkt uns seit einer Weile mit einigen solcher Anthologien, sei es zur italienischen Dichtung („Die Erschließung des Lichts“), zum Minnesang („Unmögliche Liebe“) oder zur europäischen Dichtung („Grand Tour“) – bald kommt eine umfassende Anthologie zur Dänischen Lyrik („Licht überm Land“) hinzu. „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“ ist ein weiterer dieser kostbaren Schätze, dem ich jeder/m ans Herz legen möchte. Es ist nicht nur selbst eine Reise, sondern lädt durch die Auflistung der vielen Namen am unteren Rand auch zu weiteren Reisen in die große, weite Welt der Lyrik ein.