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Warten auf den Fatalismus, Italien 1939/40


9783949203077

„Es ist merkwürdig, in welcher Eintracht hier alle die Möglichkeit eines Krieges gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich meine nicht nur die Bevölkerung, die die Fakten nicht kennt, sondern auch Kenner der Materie. (Venedig, 16. Juli 1939)“

Die Schriftstellerin Iris Origo wurde in England geboren, als Tochter eines reichen amerikanischen Industriellen und einer irischen Adeligen. Von 1927 bis zu ihrem Tod lebte sie jedoch mit ihrem Mann in Italien, in Chianciano Terme nahe Montepulciano (in der Toskana) und in Rom.

Die meisten ihrer Werke sind historischer Natur und beschäftigen sich mit italienischen Persönlichkeiten, u.a. Francesco Datini und Giacomo Leopardi. Bekannt wurde sie international durch ihr Toskanisches Tagebuch, ein Bericht aus den Kriegsjahren 1943/44, der zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, dann aber doch 1947 erschien.

Unveröffentlicht blieben zunächst, obwohl bekannt, Origos Aufzeichnungen aus den Jahren 1939/40; sie erschienen erst nach ihrem Tod, vermutlich weil sie unspektakulärer waren als die Schilderungen aus den späteren Kriegsjahren.

Es ist aber gut, dass diese Aufzeichnungen doch noch erschienen sind und auch in einer Übersetzung von Anne Emmert (mit einem Vorwort von Lucy Hughes-Hallett und einem Nachwort von Katia Lysy, der Enkelin von Origo) auf Deutsch vorliegen. Es fehlt ihnen beileibe auch nicht an Dramatik, ganz im Gegenteil: die Leser*innen werden Zeug*innen der aufgeladenen Atmosphäre am Vorabend des Krieges, der in Italien alles andere als sicher und gewollt erscheint.

Vielmehr schildert Origo bei verschiedenen Gelegenheiten das Bangen der Land- und Stadtbevölkerung um ihre Söhne und den Frieden, oft gipfelnd in dem Wunsch, nicht in den „deutschen“ Krieg hineingezogen zu werden. Überhaupt hat ein Großteil der Italiener anscheinend nicht viel für den deutschen Verbündeten übrig (wenn auch nicht viel für die Franzosen und Polen, noch etwas mehr für die Engländer, zumindest zunächst), selbst wenn man gemeinhin vom italienischen Faschismus, mal mehr mal weniger glühend, überzeugt ist. Die meisten hoffen darauf, dass Mussolini seine Forderungen ohne Gewalt durchsetzen kann und Italien seine Unabhängigkeit zelebrieren darf, aber nicht verteidigen muss.

Origo schildert vor allem Gespräche mit Freund*innen und Zufallsbekanntschaften, gibt Zeitungs- und Rundfunkberichte wieder (mit ihrem teilweise verstörenden Mischmasch aus Informationen, Desinformation und Propaganda) und versucht die Stimmung in der Bevölkerung zu deuten. Ihre Darlegungen sind meist kurz und sachlich; die Persönlichkeiten und Zusammenhänge, auf die sie referiert, werden direkt am unteren Seitenrand erläutert.

Immer wieder findet Origo, trotz der dramatischen Entwicklung und ihrer eigenen Verwicklung in die Geschehnisse (ihr Patenonkel ist in der amerikanischen Botschaft tätig, ihre Mutter englische, sie selbst amerikanische Staatsbürgerin), auch Zeit für Anekdotisches, bspw.:

„Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.“ (15. Mai 1940)

„Eine seltsame Zeit des Wartens“ kann wohl nicht bedenkenlos allen Leser*innen empfohlen werden, ist aber, so wage ich zu behaupten, auch kein gewöhnliches Tagebuch. Vom März 39 bis Juli 40 (danach schloss sich Origo freiwillig dem italienischen roten Kreuz an und begann, wie oben erwähnt, erst wieder 1943 mit ihren Aufzeichnungen) gibt es uns einen ziemlich guten Einblick in die Geisteswelt und die Gefühle eines Teils der italienischen Bevölkerung – und zeigt auf, wie unklar, verwirrend und wechselhaft diese Monate für viele Menschen in Italien waren, wie sehr das erste Kriegsjahr dort nicht allein von Begeisterung und Eifer, sondern Misstrauen, Hoffnung und Zweifeln begleitet war. Am Ende obsiegt, so möchte man pointiert und zynisch schreiben, nicht der Faschismus, sondern der Fatalismus in den Herzen der Bevölkerung.

300 Statements von Ruth Bader Ginsburg


300 Statements

„Diese Erfahrung, die haben Frauen meiner Generation alle gemacht. Wenn eine Frau da Wort ergreift, hört keiner mehr hin. Sie hat ja ohnehin nichts Wichtiges zu sagen. Aber das hat sich heute, glaube ich, geändert.“

(aus eine Rede an der University of Colorado Law School, 19. September 2012)

Ruth Bader Ginsburg hat Zeit ihres Lebens ihre Mutter als „klügsten Menschen, den ich je kannte“ bezeichnet. Diese aber hatte, trotz ihres brillanten Verstandes, aufgrund ihres Geschlechts keinerlei berufliche Aufstiegschancen. Ihre Tochter ging auf die Law School, wurde Anwältin, Richterin (am Ende sogar am obersten Gerichtshof) und hatte dabei immer ein Ziel im Auge: die Gleichstellung von Mann und Frau, in jeglicher Hinsicht.

In den USA ist RBG eine Ikone der Frauenbewegung, aber auch in weiten Teilen der übrigen Bevölkerung genoss sie Kultstatus und allgemeines Ansehen. Sie ist eine der wenigen Richter*innen des Supreme Court, die mit großer Mehrheit im Senat bestätigt wurden – es gab lediglich drei Gegenstimmen, bei 96 Ja-Stimmen. Am 18. September 2020 ist sie verstorben, was nicht nur den linken Flügel im Supreme Court schwächt, die US-amerikanische Gesellschaft verlor vor allem eine wache und kritische Stimme.

Wer diese Stimme vernehmen will, der kann unter anderem zu dieser Publikation greifen, in der 300 Stellungnahmen, Interviewaussagen, Redebeiträge, Beschlüsse, etc. von Ruth Bader Ginsburg gesammelt wurden. Es sind nicht unbedingt alles kämpferische und pointierte Zitate (wobei es derlei durchaus gibt; zum Beispiel wurde sie einmal gefragt, da jetzt drei Frauen im Supreme Court säßen, ab wann wären es genug? Und sie antwortete: wenn wir zu neunt sind). Viel eher sollte man auf Zitate gefasst sein, in denen sich die wichtigen Fälle und Entscheidungen der Justiz in den USA spiegeln, eine Art kommentierte Rechtsgeschichte.

Im Anhang befindet sich dann noch eine Chronik, die wichtige Meilensteine in RBG Leben auflistet und erläutert. Alles in allem: ein Buch, das ein vielschichtiges Bild dieser bemerkenswerten Frau wiedergibt. Und hoffen lässt, dass die von ihr vielfach beschworenen Fortschritte und Errungenschaften eine Zukunft haben.

Hafis, großer Dichter persischer Zunge


Hafis-Kanani- Seinen bis heute bekannten, klingenden Namen verdankt der persische Dichter, der eigentlich Mohammed Schemseddin hieß, einer Fertigkeit, die er sich schon in jungen Jahren aneignete: er konnte alle 114 Suren des Korans auswendig, da war er gerade einmal acht Jahre alt. Dies brachte ihm den Ehrentitel Hafis ein, durchaus ein geläufiger Ehrentitel, auch heute noch, der aber bei ihm als Poetenname über sein Zeitalter hinaus erstrahlen durfte.

Geboren wurde Hafis Anfang des 14. Jahrhunderts, in den stürmischen Zeiten der letzten Mongoleninvasionen und zahlreicher weitere Konflikte und Rivalitäten auf dem Gebiet Persiens. Seine Heimatstadt Schiras, die er, abgesehen von ein paar unbedeutenden Reisen, nie verließ, lag im südlichen Teil des heutigen Iran und war immer wieder von türkischen, afghanischen und mongolischen Überfällen bedroht.

Dennoch war Hafis ein vergleichsweise langes Leben beschieden, in dem eine große Zahl von Gedichten (vor allem Ghaselen) entstand, die bis heute als unübertroffen in ihrer Formvollendung gelten; viele sind Teil des Allgemeingedächtnisses aller Persisch/Fārsi/فارسی sprechenden Menschen geworden.

Auch in Deutschland hat Hafis viele Bewunderer gehabt, einer der bekanntesten ist Johann Wolfgang von Goethe, der mit West-Östlicher Divan ein ganzes Werk schrieb, das von den Dichtungen des Hafis inspiriert ist; auch Friedrich Rückert hat sich zeitlebens mit dem persischen Dichter beschäftigt und einige der besten Übersetzungen zu seinem Werk angefertigt.

In seiner Studie arbeitet Nasser Kanani sehr gewissenhaft die Rezeptionsgeschichte von Hafis in der deutschsprachigen (vorrangig, aber auch internationalen) Literatur und Geschichtsschreibung heraus. Beginnen tut das Buch allerdings mit einem Kapitel, in dem es vor allem um die Geburtsstadt Schiras und ihre Rezeption (die allerdings von der Hafis-Rezeption schwer zu trennen ist) in der deutschsprachigen Literatur geht und warum sie in vielerlei Hinsicht ein wichtiges Kernstück von Hafis Dichtungen ist.

Kapitel 2 und 3 beschäftigen sich dann mit Hafis Lebensgeschichte und seinen philosophischen Überzeugungen, immer auch im Spiegel seiner Werke, wozu Kanani umfangreich aus den Übersetzungen zitiert (die Originale sind auch abgebildet). Dadurch gelingt ein breit gefächertes, teilweise auch erschöpfendes Bild des widersprüchlichen und doch mit sich im Einklang liegenden Menschen, der Hafis gewesen ist.

Die letzten Kapitel 4 und 5 sind dann Hafis Dichtungen, genauer der Liebeslyrik und dem Divan, vorbehalten. Kanani präsentiert Deutungen und Rezeptionsansätze und zitiert wiederum umfangreich aus dem Werk. Auch wenn das ganze Buch eine spannende Aufbereitung ist, sind diese beiden Kapitel seine Meisterstücke.

Für wen Hafis bisher nur ein Name ist, der sollte sich diese umfangreiche Studie zulegen – sie ist ein guter Einstieg, bieter aber dennoch Tiefe und breite Auseinandersetzung. Kananis Leidenschaft und Begeisterung für Hafis sind nicht nur ansteckend, sie werden im Zuge seiner Ausführungen auch nachvollziehbar. Ob Hafis wirklich der größte Lyriker persischer Zunge war, das ist ungewiss. Gewiss aber ist: er war ein wunderbarer Poet, mit einem trefflichen Überschwang, der seinesgleichen sucht.

Zu einer Auswahl aus Katherine Mansfields Tagebüchern


Fliegen wirbeln tanzen Eines der ersten Bücher, die ich auf einem Flohmarkt kaufte, war eine vollständige Ausgabe der Tagebücher von Katherine Mansfield, herausgekommen bei der Deutschen Verlags Anstalt 1975. Hätte ich sie damals doch aufmerksamer studiert und nicht nur nach Anekdoten und Frivolitäten abgesucht! Hier hätte ich vielleicht, in der Jugend, Linderung für die Auseinandersetzungen mit meinen Gefühlen gefunden.

Denn derlei begegnet einem bei Katherine Mansfield in Hülle und Fülle: ein Bekenntnis der Gefühle, vom tiefsten Sturz & härtesten Boden bis zur großen Leichtigkeit & hohem Flug. Der Titel des Auswahlbandes bei Manesse „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben“ ist daher gut gewählt, er fängt ein wie bewegt diese Notate sind – wenngleich die vier Begriffe vielleicht etwas zu positiv besetzt sind.

Das Leben der Katherine Mansfield war kein leichtes, nicht nur, weil sie mitunter rücksichtslos gegen sich selbst war, sondern auch weil sie ein freieres und ungezwungeneres Leben führen wollte, als es den meisten Frauen damals möglich war. Immer wieder versuchte sie „ihrer Seele das Sklavische auszutreiben“, geriet dabei aber in Konflikt mit den Erwartungen anderer und auch mit ihren eigenen Ansprüchen, deren steten Wandel man in den Tagebüchern miterleben kann.

„Solange Menschen leben und sterben, werden diese Stücke relevant sein“, hat Harold Bloom über die Stücke Shakespears gesagt. Und solange Menschen zwischen Konventionen und Gefühlen, Ideen und Enttäuschungen ihr Dasein fristen, solange werden die Tagebuchaufzeichnungen von Mansfield von Bedeutung sein und vielleicht Trost spenden, vielleicht auch nur zeigen, wie recht man hat sich „verwundet zu fühlen von Umständen, die nicht vergehen wollen.“

Zu “Ich erwarte die Ankunft des Teufels” von Mary MacLane


Ich erwarte die Ankunft „Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.“

Auch der Titel eines Spielfilms aus dem Jahr 2019 wäre wohl ein brauchbarer Titel für dieses wiederentdeckte Werk von Mary MacLane aus dem Jahr 1902 (übersetzt und mit einem Nachtwort von Ann Cotten + einem Essay von Juliane Liebert) gewesen: „Portrait einer jungen Frau in Flammen“.

Denn nicht mehr und nicht weniger ist dieses Buch: eine flammende und knisternde, sich selbst in Ansätzen verzehrende und auf alle Bestandteile der Welt übergreifende Selbstverortung einer jungen 19jährigen, die sich zu größerem als dem vor ihr, in Landschaft und Gesellschaft, ausgebreiteten Dasein berufen fühlt und schier platzt vor Bedürfnissen und dem Wunsch nach Erfahrungen, die es mit der Spannung, den Bewegungen in ihrem Geist aufnehmen können.

„In mir trage ich den Keim eines intensiven Lebens. Wenn ich leben könnte, und wenn es mir gelingen könnte, mein Leben aufzuschreiben, würde die Welt seine schwere Intensität spüren.
Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. […]
Kann ich sein, was ich bin – kann ich ein seltsames, seltenes Genie besitzen und doch mein Leben verborgen in diesem ungehobelten, verzerrten Städtchen in Montana fristen?“

In Tagebuchform breitet Mary MacLane vor uns ihr Leben aus. Wobei, es ist weniger ihr Leben, es sind vielmehr ihre Vorstellungen, die in ihrer überbordenden Art nur dann und wann auf den schmalen Raum zurückweisen, der ihr im ländlichen Montana im Jahr 1901 zum Leben gegeben ist und den sie mit allen Zügen ihrer Philosophie und ihrer Gedanken und Hoffnungen zu verlassen sucht.

Fast phänomenologisch muten ihre teilweise ins Gewaltige gehenden, dann wieder manisch an einem kleinen Gegenstand oder Gedanken hängenden Eintragungen an, manchmal erscheinen sie eher wie Gesänge, ja, wie ein Anti-Walt-Whitman-Gesang, ein Gesang von einem Ich, das sich nicht auflöst und niederschlägt in den amerikanischen Städten und Landschaften, sondern diese mit seinem Geist, seinem Wesen übertrumpfen, überflügeln will.

„Sie dürfen das Bild vorne in diesem Buch betrachten und bewundern. Es ist das Bild eines Genies – eines Genies mit einem guten, starken, jungen Frauenkörper, – und im Inneren des abgebildeten Körpers befindet sich eine Leber, eine MacLane-Leber, von bewundernswürdiger Perfektion.“

In mancherlei Zügen habe ich mich an Emmy Hennings „Brandmal“ oder auch, sehr viel entfernter, an manche Passagen bei Djuna Barnes erinnert gefühlt. Wobei der Vergleich mit Hennings noch am ehesten greift, da in beiden Büchern das Ausleben der Selbstbeschreibung/-erschließung, der Versuch, das eigene Innenleben als das Leben, das Lebendige schlechthin abzubilden und zu propagieren, bis zur Erschöpfung betrieben wird.

In MacLanes Tagebuch noch erschöpfender als bei Hennings. Die ausufernden und gleichsam immer wieder um fixe Ideen kreisende Wucht des Textes trägt dabei durchaus repetitive, beschwörende Züge, als würde die Autorin ein einziges langes Plädoyer zur Verteidigung ihrer Gefühle und Ansprüche halten und dabei eine eigene, ciceronische Rhetorik entwickeln. Auch manche Motive sind in diese Wiederholungen eingespannt: ihre Leber bspw., die sie immer mal wieder erwähnt und der Teufel, den sie als eine Art besseren Schöpfer inszeniert und dem sie sich, teils spielerisch, teils ernsthaft, andient; auf dessen „Ankunft“ sie wartet, da mit ihm, so hofft sie, eine neue Freiheit in ihr Leben Einzug hält.

„Die Welt besteht hauptsächlich aus nichts. Davon kannst du dich überzeugen, wenn ein bitterer Wind deine falschen Vorstellungen davongefegt hat.“

Es gibt großartige Passagen, zum Beispiel einen Abschnitt, in dem sie in vollster Zufriedenheit von ihrem Essen, einem Steak und ein paar Zwiebeln, erzählt und in denen auch eine kompromisslose Komik durchscheint. Letztlich steht im Zentrum dieser zweihundert Seiten, inmitten dieses geballten Manifests von der Notwendigkeit einer Perspektive, einer Aussicht auf etwas, jedoch die Verzweiflung. Wo MacLanes Schreiben ein Feuer ist, rauchen Verzweiflung und Einsamkeit daraus hervor – und sind gleichsam das Brennmaterial, an dem sich das Feuer entzündet.

Ist das Buch als Dokument oder auch als Literatur wertvoll, diese Frage könnte sich für manche Leser*innen stellen, die mit einer zweihundertseitigen Rekapitulation der eigenen Bestimmung im Jahr 1901 nicht viel anfangen können. Ich glaube, man muss tatsächlich die poetischen (und teilweise die humoristischen) Aspekte des Buches schätzen (lernen), um wirklich Genuss bei der Lektüre zu empfinden.

Aber natürlich ist das Werk auch ein Dokument und muss auch als solches gesehen werden – als Portrait eines Individuums, geboren in die Zwänge einer Zeit und einer Gesellschaft, mit ihren Idealen und Vorstellungen, das versucht, seinen Status als Individuum auf irgendeinem Weg Geltung zu verschaffen, hier vor allem durch die Niederschrift, durch die Gestaltung des eigenen Mythos. Ein Thema, das auch in unserer Zeit nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hat, sondern, im Gegenteil, wohl eine Art ewiges Narrative darstellt, wenn man sich die „Weltliteratur“ anschaut.

Teilweise wirkt das Buch naiv in seiner Unbedingtheit, aber gerade diese „Naivität“ hat auch etwas Erfrischendes, Unumgängliches.

„Wenn ich vierzig bin, werde ich mich auf mich selbst zurückblicken und auf meine Gefühle mit neunzehn – und ich werde lächeln.
Werde ich wirklich lächeln?“

Zu “Dissidentisches Denken” von Marko Martin


Dissidentisches 30 Jahre nach dem so genannten „Mauerfall“ muss in Europa eine erschreckende Bilanz gezogen werden: Nicht nur gibt es wieder verblendete Nationalphantasien und restaurative Gesellschaftsentwürfe, die Idee der Epochenwende, des Anbruchs eines befreiten Zeitalters, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Während in Ländern wie China eifrig eine Politik des unbedingten gemeinschaftlichen Ganzen (mithilfe von digitalen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen) betrieben wird, werden in Staaten wie Russland und den USA Entitäten wie die Wahrheit von den Regimen gepachtet und umgedeutet. Die Institutionen der Demokratie müssen derweil in vielen Ländern semi-demokratischen, in vielerlei Hinsicht schon plutokratischen oder autokratischen Machtverhältnissen weichen.

Diese Entwicklungen ähneln – so reißerisch und vorschnell diese Überlegung erscheinen mag und obgleich sich Geschichte nicht 1zu1 wiederholt – in einigen Punkten den Entwicklungen, denen in der letzten (und ersten) großen Ära demokratisch geführter Staaten (zwischen den Weltkriegen) viele Länder zum Opfer fielen (manchmal ohne echte demokratische Zwischenphase). Neben den faschistisch-autokratischen Staaten bildeten sich damals auch viele pseudosozialistisch-autokratische Staaten, allen voran die Sowjetunion, der viele andere dieser psa Staaten (zwangsweise) als Satellitenstaaten dienten oder zumindest in mancherlei Hinsicht auf sie angewiesen waren.

In allen Gesellschaften, die nicht demokratisch (oder anarchistisch) organisiert und/oder regiert werden, sind alle von den derzeitigen Regierungserlassen abweichenden (und verlautbarten) Meinungen unerwünscht, oftmals strafbar und sie werden unterdrückt/unterbunden. Die Träger*innen solcher Meinungen (und aus ihnen resultierenden Handlungen/Weigerungen) nennt man Dissident*innen. Ihre Spur zieht sich durch die Geschichte (auf gewisse Weise waren auch Figuren wie Sokrates oder Jesus, Johanna von Orleans oder Martin Luther Dissident*innen), viele der wichtigsten neueren Zeugnisse ihres Denkens und ihrer Position stammen aber aus den Ländern, die bis 1989 zum „Warschauer Pakt“ gehörten (oder ein faschistisches Regime hatten).

Marko Martin hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und ein großes Buch über eine Epoche geschrieben, deren widerständige Kräfte, dissidentische Erlebnisse, Erinnerungen und geistigen Potenziale allzu schnell ad acta gelegt wurden, als die Systeme und Welten, gegen die sie gerichtet oder in denen sie entstanden waren, endeten und (vermeintlich) untergingen. Aus den Schicksalen der Autor*innen und Intellektuellen, mit denen Martin gesprochen hat oder die er, in manchen Fällen, porträtiert, ergibt sich das Muster und der Stempel einer Zeit, der auch unserer Zeit erneut aufgedrückt werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.

Um einen klarere Blick auf die Vergangenheit zu bekommen, aber auch für eine Arbeit am Verständnis der Gegenwart und der (leider zeitlosen) Unterdrückung, eignet sich dieses Buch hervorragend. Es ist eine große Leistung und ein unverzichtbares Bildungsgut, ein Kaleidoskop verschiedenster Lebensläufe, sich kreuzend auf den Weltmeeren des Exils und des Widerstandes.

Zum 70. Geburtstag von Bruce Springsteen


Springsteenborntorun2 zu finden auf Fixpoetry

Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.