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Das sozialistische Licht in finsteren Zeiten


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Während der Großteil der winzigen amerikanischen Linken im Jargon und Klischees gefangen blieb und sich darauf beschränkte, ein ums andere Mal vergangene Schlachten neu zu inszenieren, die für den Durchschnittsamerikaner keinerlei Relevanz mehr haben, machte sich Jacobin daran, das sozialistische Projekt durch eine unverbrauchte Sprache und Ästhetik zu bereichern, und schreckte nicht davor zurück, sich gelegentlich auch einmal über sich selbst lustig zu machen. (Aus dem Vorwort)

Obwohl (oder gerade weil) Donald Trump derzeit im Weißen Haus regiert und seine Gegenkandidatin bei der letzten Wahl eher die konservative Seite der Demokratischen Partei repräsentierte, ist in den USA in den letzten Jahren wieder eine stärkere linke Bewegung entstanden, die sich nicht scheut Worte wie „Umverteilung“, „Sozialismus“ oder den Namen Karl Marx in den Mund zu nehmen.

Als Flaggschiff dieser Bewegung wird (neben Persönlichkeiten wie Bernie Sanders und gewerkschaftlichen Gruppen) immer wieder das Magazin Jacobin genannt, dass 2010 von dem damals 21jährigen Bhaskar Sunkara gegründet wurde. Mittlerweile hat die Print-Ausgabe eine Auflage von 30.000 Stück und die Website monatlich mehr als eine Millionen Klicks. Noam Chomsky nannte die Zeitschrift „a bright light in dark times“ und mit dem Ada Magazin ist sogar schon eine Schwesterzeitschrift in Deutschland entstanden.

Im Suhrkamp Verlag ist nun eine von Loren Balhorn (Redakteur bei Ada und Jacobin) und Bhaskar Sunkara herausgegebene Anthologie mit Beiträgen aus acht Jahren Jacobin erschienen – Interviews, Essays, Streitschriften, aus dem Englischen übersetzt von Stephan Gebauer.

In diesem Modell der sozialen Gerechtigkeit lautet das Ziel also nicht, dass die Reichen nicht so viel und die Armen mehr verdienen sollten, sondern dass die Reichen verdienen können, so viel sie wollen, solange ein angemessener Prozentsatz von ihnen Frauen sind oder Minderheiten angehören.“ (Walter Benn Michaels)

Den Anfang macht ein Interview mit Walter Benn Michaels aus dem Januar 2011. In einem sehr ausgewogenen Gespräch, bei dem der Interviewer (Sunkara) oft kritisch nachfragt, vertritt der Literaturtheoretiker und Autor Michaels die Ansicht, dass die Gleichberechtigungsdebatten und -gesetzte in den USA neoliberale Positionen stützen, zumindest aber von ihnen instrumentalisiert werden. Seine These ist, dass die soziale – oder anders gesagt die Klassen- – Frage die vorrangige ist und der Umsturz der neoliberalen und kapitalistischen Hierarchien das wichtigste Ziel, das letztlich allen Emanzipationsbewegungen zugutekommt.

Mike Beggs zeigt in seinem Text „Ein Zombie namens Marx“ wie sich die Philosophien und Ideen des Vordenkers auf den Gebieten “Kapital” und “Arbeit” in die heutigen Zeiten integrieren lassen, wo sie anpassbar sind und wo sie ganz neu gedacht werden müssen.

Sehr gelungen ist auch der nächste Essay, in welchem der Autor Peter Frase vier mögliche Zukunftsversionen für unsere heutigen Gesellschaften entwirft, vor allem anhand von zwei grundsätzlichen Parametern: 1. sind es Gesellschaften die noch egalitärer oder noch hierarchischer geworden sind? Und 2. sind es Gesellschaften, deren technologische Errungenschaften die Ressourcenfrage gelöst haben oder sind es Gesellschaften, die sich in dieser Frage mit einer Knappheit konfrontiert sehen? Die vier möglichen Kombinationen sind nicht nur interessante Gedankenspiele, Dystopien und Utopien, sondern zeigen vor allem, welche Anlagen in unseren Gesellschaften bereits vorhanden sind – und sich ohne ein Umschwenken und Überdenken verselbständigen könnten.

Der Kabarettist Volker Pispers sagte in einem seiner letzten Programme (in etwa): Wer wissen will, auf was für Zustände wir uns in Europa zubewegen, wenn wir Dynamiken wie die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich und die immer größere Abwertung der Arbeit nicht in den Griff kriegen, muss nur über den Ozean blicken: die USA sind uns ein Stück voraus was den radikalisierten Kapitalismus angeht; aber kein riesiges Stück. Frase Text zeigt, was man sich, auf der Grundlage der US-amerikanischen Realität, für Szenarien vorstellen kann, ja: vorstellen muss.

Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur ungleich verteilt. (William Gibson)

In „Rot und Schwarz“ setzt sich Seth Ackermann mit den zeitgenössischen Möglichkeiten und Perspektiven, sowie den historischen Versäumnissen der Planwirtschaft auseinander.

Nach einem kurzen Rundumschlag vom Herausgeber Bhaskar Sunkara, der die Selbstverliebtheiten der zersplitterten, linken Bewegung anprangert und einen knappen Abriss der gemeinsamen Themen, auf die man sich konzentrieren sollte, gibt, folgt ein Text von Alyssa Battistoni mit dem Titel „Zurück in keine Zukunft“.

Dieser Text hat es in sich, denn im Prinzip ist seine Kernaussage: Es ist eigentlich schon zu spät. Die Mühlen mahlen so schnell … selbst wenn man sofort mit aller Kraft versuchen würde sie zu stoppen, könnte das Getriebe immer noch genug Schwung haben, um unsere Zukunft zermalmen. Und wir sind weit davon entfernt, das Getriebe anzuhalten – wir streiten meist darüber, wo das Wasser herkommen soll, das die Mühlen antreibt.

Battistoni weist im Zuge ihrer schonungslosen Klarstellung auf ein Grundproblem des Lebens in kapitalistischen Systemen hin: den Leuten wird gesagt, sie können es schaffen (besser wäre vielleicht, man würde ihnen sagen, dass der Planet, dass die Menschheit es noch schaffen kann, wenn…), wenn sie sich anstrengen, gut genug sind.

Dieser auf die persönliche Zukunft gerichtete (und auf sie verengte, fixierte) Blick, in der man zu reicheren Höhen emporsteigt – die so tun als wären sie durch keine Umstände bedingt, als ständen sie einfach jedem zur Verfügung – verstellt den Menschen den Blick auf die allgemeine Gegenwart und die allgemeine Zukunft. Darüber hinaus: die Zugänge zu dieser ominösen, reicheren Zukunft sind (sofern es sie überhaupt gibt) limitiert und oft längst schon reserviert. (Man fühlt sich an Kafkas Torhüter-Parabel erinnert …)

Fazit: Wir haben immer noch nicht begriffen, was auf dem Spiel steht.

Wenn man die Leute ausbeuten will, gibt es keinen besseren Trick, als sie davon zu überzeugen, dass sie lieben, was sie tun.

Miya Tokumitsus Text widmet sich der innewohnenden Heuchelei von Aphorismen wie „Tu, was du liebst“ oder „Wenn du magst, was du tust, musst du nie arbeiten.“ Sie sieht darin einen Trick, der eine Flut von freiwilliger Selbstausbeutung und letztlich auch eine Abwertung verschiedenster Arbeitsbereiche zur Folge hat. Ist man ein schlechterer Mensch, wenn man seine Arbeit nicht liebt? Drückt sich Liebe in bedingungsloser Hingabe, in Qualität, in Pflichtbewusstsein aus? Wer legt das fest? Fragen wie diese, und andere, verhandelt der Text.

Sam Gindin legt in seinem Text „Den globalen Kapitalismus beseitigen“ eine Liste mit neun Dingen vor, die einem helfen, sich im Bauch der Bestie zu organisieren, von der Mikro- bis zur Makroebene; der Text punktet vor allem durch seine Klarstellungsrhetorik.

Der folgende Beitrag von Adam Stoneman ist eine ebenso klare Stellungnahme, die sich gegen den Geltungskonsum von Rich Kids auf Instagram richtet, dessen Wurzeln er bis in 18. Jahrhundert (zu Ölgemälden, auf denen die bessere Klasse abgebildet ist) zurückverfolgt.

Keeanga-Yamahtta Taylors Beitrag schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Walter Benn Michaels im ersten Interview. Auch er sieht die Emanzipation von Minderheiten, besonders der afroamerikanischen Bevölkerung, als etwas, dass sich nicht von der Suche nach einer allgemeinen Lösung für soziale Fragen trennen lässt. Er zitiert Martin Luther King, der in seinem letzten Gespräch mit Harry Belafonte sagte:

Wir haben lange und hart für die Integration gekämpft, was in meinen Augen richtig ist, und ich weiß, dass wir gewinnen werden. Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir uns in ein brennendes Haus integriert haben.

Zwei letzte Highlights: als erstes der Text von Charlie Post, der in „Wie Donald an die Macht kam“ seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass es vor allem eine enthemmte, unter den Folgen der neoliberalen Ordnung leidende Gruppe von Mittelschichtlern war, die Trump an die Macht gebracht hat – aus Furcht vor dem sozialen Abstieg ergriffen sie die Gelegenheit, einen Mann zu wählen, der versprach, für weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und für eine bessere Lage der amerikanischen Wirtschaft allgemein zu kämpfen.

Auch wenn das Argument als alleinige Begründung wohl nicht greift, offenbart es einen wichtigen, immer wieder problematischen Effekt in neokapitalistischen Gesellschaften: Die Menschen, die in ihnen leben, stellen meist nicht die generelle Verteilung des Wohlstands infrage, sondern fürchten nur, dass ihr eigener Anteil an diesem Wohlstand sinken könnte. Sie glauben, sie müssten gegen die sein, die ihren Platz in der Hierarchie einnehmen könnten – statt zu begreifen, dass die Hierarchie das größte, vielleicht sogar einzige Problem ist.

Das zweite Highlight ist ein Interview mit Bernie Sanders, das ebenso wie das erste ausgewogen und kritisch daherkommt und Sanders als einen klugen Denker, eine große Persönlichkeit zeigt, aber eben auch als einen schon auf seine Themen und Positionen eingeschworenen Menschen.

Allen muss die Wirtschaft nutzen, nicht nur den Reichen. (Bernie Sanders)

Diese Anthologie liefert sehr wichtige Beiträge zu aktuellen Debatten, vor allem was Kapitalismus und Neoliberalismus angeht. Jacobin ist zwar ein US-amerikanisches Magazin, aber viele Themen sind in unserer globalisierten Welt auch auf europäische Kontexte anwendbar. Einige Beiträge erschließen sich wohl nicht jeder/m Leser*in – ich zumindest hatte bei einigen Ausführungen zur Wirtschaftstheorie meine Probleme. Dennoch ist es im Kern eine Anthologie, die jede Person lesen kann und man nimmt mit Sicherheit immer etwas mit.

Wer macht hat, hat Recht – und warum es nicht so sein sollte


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„Macht bestimmt erheblich unser Leben, doch wird verdrängen oder mystifizieren sie, und je mehr wir das tun, desto hilfloser gehen wir mit ihr um. […] Das Gefährliche an der Macht ist nicht, dass sie obsessiv wirkt, sondern dass sie peinlich ist und verleugnet wird. Sie füllt den Verhandlungsraum nahezu komplett aus, doch alle müssen so tun, als spiele sie keine Rolle, und diese akrobatische Heuchelei bindet einen Großteil ihrer Konzentration und Kraft. […] Theoretisch scheint heute klar zu sein, dass Macht ebenso wenig wie Sexualität etwas Dämonisches ist. Man akzeptiert sie als zwingenden Bestandteil jeder höheren Ordnung und hält »nur« ihren Missbrauch für schädlich. Doch wer stellt im konkreten Fall fest, wann die Grenze zwischen Ge- und Missbrauch überschritten wurde? Und wer spricht es aus?“

Autoritäten umgeben uns, begegnen uns ständig, folgen uns auf Schritt und Tritt. Und wir folgen ihnen, ihren Weisungen. Nicht immer und allein aus blindem Gehorsam, vielmehr akzeptieren wir Autorität dort, wo als einzige Alternative (scheinbar oder tatsächlich) Willkür oder Chaos droht. Und auch, weil wir uns Privilegien oder zumindest den Nicht-Entzug von Privilegien erhoffen/versprechen.

Dennoch sind Autoritäten ein Problem, sogar eines der zentralen Probleme menschlicher Gesellschaftsstrukturen. Sie tendieren nämlich dazu, Systeme (und die Menschen darin) zu korrumpieren: oft wird Macht dann nicht mehr als Aufgabe im Dienste des Systems, sondern als Attribut des eigenen Selbst, der eigenen Wünsche, Vorstellungen und Ideen betrachtet – und zusätzlich als Schutz für diese eigenen Ambitionen, als Garantie für Unangreifbarkeit und Profit.

Wenn man einmal davon absieht, dass eine gewaltbefreite Welt, ohne Machtkonzentrationen und -ausübung, womöglich die einzig denkbare Welt ist, in der es auch keine Korruption, keinen Machtmissbrauch geben kann, bleibt die Frage: wie kann man dieser, anscheinend immanenten, toxischen Entwicklung innerhalb von Machtstrukturen entgegenwirken oder, und damit kommen wir zu diesem Essays von Petra Morsbach, wie kann man ein/e bereits von Machtmissbrauch durchdrungene/s Position/System enttarnen. Oder, anders gesagt: wie zwingt man die Menschen dazu, den Elefanten im Zimmer zu bemerken.

Um Machtmissbrauch und die Sprache seiner Verschleierung (und Aufdeckung) in der Praxis zu verdeutlichen, schildert Morsbach drei Fälle. Zunächst geht es um die öffentlichen Fälle „Groër“ und „Haderthauer“, zuletzt um einen internen Fall in der bayrischen Akademie der schönen Künste. Erstere sind Fälle aus dem Umfeld von Kirche und Politik, die, aufgrund der Initiative von verschiedenen Einzelpersonen, ein hohes Maß an Belegen/Dokumenten aufweisen, über den Fall selbst, aber auch den Versuch der Aufdeckung, des Widerstandes. Der letzte ist Morsbachs persönlicher Fall, in dem sie die Einzelperson war, die Belege und Dokumente sammelte und den Widerstand probte. In allen drei Fällen erzählt sie anhand der Dokumente eine Geschichte des Machtmissbrauchs, seiner Dimensionen und Folgen.

Gleichzeitig deckt sie mit diesen drei Fällen ein breites Feld an Motiven ab. Im ersten Fall (Groër) wird die Macht zum Ausleben der eigenen Sexualität auf Kosten anderer genutzt und zusätzlich dazu, Menschen zu dominieren. Im zweiten Fall (Haderthauer) ist Profitgier, kombiniert mit Ausbeutung, das Motiv hinter dem Missbrauch. Im letzten Fall schließlich eine Mixtur aus Geltungssucht und dem Verlangen nach Kontrolle. Die ersten beiden Fälle (und auf gewissen Weise auch der dritte) stellen klar: Machtmissbrauch ist nicht selten auch ein Missbrauch von/an Menschen.

Morsbach zeigt klug auf, dass die genannten Motive zwar am Anfang des Machtmissbrauches stehen, aber bald nicht mehr das einzige Problem darstellen. Denn wenn der Machtmissbrauch, nebst seiner Motive, offengelegt wird, zeigt sich (in allen drei Fällen), dass die Institutionen (seien es nun kirchliche Räte, staatliche  Einrichtungen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse oder eine Gruppe von Funktionär*innen in einer Akademie) nicht den Machtmissbrauch zu bekämpfen beginnen, sondern den Anschein von Machtmissbrauch und die Anschuldigungen, die zu diesem Anschein geführt haben (der zumindest in diesen drei Fällen kein Anschein ist, sondern faktisch belegt).

„Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir vieles nicht wissen, sondern dass wir vieles nicht wissen wollen, weil es den aktuellen Kriterien der Eigenliebe widerspricht. […] Warum verteidigt man mit gewaltiger Energie lieber den Anschein der Ordnung als die Ordnung selbst? Warum verzichtet man ohne Not auf eigene Rechte, zum Schaden unserer kostbaren, demokratischen Kultur? Offenbar wirken hier Antriebe, die alle rationalen Bekenntnisse unterlaufen, ohne dass das überhaupt bemerkt würde. Im Essay folgte ich den Spuren dieser Antriebe in der Sprache, die in realen Konflikten gesprochen wurde; denn die Sprache scheint mehr zu wissen als der Mensch. […] Oft können wir gefahrloser ethisch handeln, als wir meinen. Die Frage ist, was uns hindert.“

Was hindert uns? Auch Morsbach findet auf diese Frage keine abschließende Antwort, aber viele Teilantworten. Sie stellt, neben dem Dokumentieren der Fälle, viele Überlegungen an und nimmt sich Zeit für Exkurse, was ihre sehr gewissenhaften Auf/sarbeitungen manchmal etwas zerfasern lässt, aber letztlich bewirkt, dass man als Leser*in eine vielschichtige Auseinandersetzung erlebt, die nicht nur Faktisches beinhaltet, sondern auch Ideen, Philosophisches, etc.

Viele Probleme, die das Buch festmacht, hängen mit Gruppendynamiken zusammen, mit Abhängigkeitsverhältnissen oder schlicht mit vorauseilendem Gehorsam. Ein Thema, das Morsbach vielleicht etwas stiefmütterlich behandelt, ist die Identifikation der Menschen mit ihrer Rolle und wie diese Rolle auch durch Narrative aus den Medien und durch Selbstdarstellungen von anderen geprägt wird.

„Die Erfahrung zeigt aber, dass ein pauschaler Angriff – so nachvollziehbar er sein mag – meist erfolglos ist, denn er stellt das System infrage, in dem sich alle eingerichtet haben. Das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit ist so groß, dass Menschen grundsätzlich Kritik nur schwer aufnehmen können, aus Angst, die Strukturen würden gefährdet. […] Anscheinend neigen Gruppenmitglieder in Stresssituationen dazu, Hierarchien als beruhigend und Kritik als Gefahr wahrzunehmen. Dabei ist diese Blickverengung gefährlich. […] Hierarchische Starrheit erweckt nur oberflächlich den Anschein von Stabilität. Untergründig führt sie zu einer Umverteilung der materiellen und immateriellen Güter zugunsten der Mächtigen, also eben nicht der Festigung, sondern dem Verlust von sozialer Balance und Sicherheit.“

Wo Morsbach dagegen über die Maßen brilliert: die Analyse der Sprache. „Der Elefant im Zimmer“ ist allein deswegen schon lesenswert, weil Morsbach einen guten Blick dafür hat, welche Allgemeinplätze, Finten, Gefühle, Absichten, Überlegungen, Denkfehler und Fallstricke hinter sprachlichen Wendungen und Formulierungen stehen. Und so zerlegt sie, entschieden und doch sachlich, die Statements und Briefe, sogar Rechtstexte und andere striktere Dokumente, und zeigt auf, wie darin die Sprache diejenigen entlarvt, die sich mit ihr die Wahrheit vom Leib zu halten versuchen.

Neben den drei Fallbeispielen, dem eigentlichen Essay, enthält das Buch ein Nachwort und einen Katalog von 33 kondensierten Überlegungen (teilweise zugespitzt auf Empfehlungen) zu Machtmissbrauch und Widerstand, sowie eine Corona-Nachbemerkung und einen Anhang mit detaillierten Nachweisen. Es ist eine beeindruckende Arbeit und wird, so hoffe ich, viel gelesen und viel beachtet werden.

Bei der Lektüre habe ich selbst wieder an ein oder zwei Momente aus meinem Leben zurückgedacht, bei denen auch ich mit Machtmissbrauch in Berührung kam (keine ernsten Fälle, aber doch üble Schikanen). Und auch ich verhielt mich dann abwechselnd kämpferisch und zurückhaltend, je nachdem wie öffentlich mein Widerstand zutage getreten wäre. Natürlich reicht Erkenntnis nicht immer aus für Mut, aber ich glaube doch, dass Mut zum Teil durch Erkenntnis erwachsen kann. Und wie Morsbach Schilderungen zeigen, reicht oft ein kleiner Widerstand, um zumindest eine Menge Aufruhr und Aufmerksamkeit zu generieren. Die Personen, die Widerstand leisten, setzen sich dabei einer Vielzahl von Schmähungen und sicher auch Repressionen aus. Und oft bleibt nur der moralische Sieg und von moralischen Siegen kann man sich wenig kaufen. Aber vielleicht bereiten derlei Aktionen zukünftige Wege aus dem Machtmissbrauch. Wege auf denen der Elefant aus dem Zimmer geschickt werden kann.

Wie es sich verhielt, verhält


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„Die Verantwortung freier Menschen liegt darin, den Konstanten des Lebens zu trauen und sie zu feiern – Geburt, Kampf und Tod sind Konstanten genau wie Liebe, auch wenn uns das nicht immer so scheinen mag – und das Wesen von Veränderung zu erfassen, zur Veränderung bereit zu sein. […] unmöglich, wenn man von Konstanten ausgeht, die keine sind – Sicherheit zum Beispiel oder Geld oder Macht.“

(James Baldwin in „Nach der Flut das Feuer“, 1963 – in diesem Buch zitiert von Deniz Utlu, geb. 1983)

Gute, divers angelegte Anthologien zu gesellschaftlichen Themen sind selten und wichtig. Ich habe in den letzten Jahren einige spannende gelesen, die sich u.a. mit Fremdenfeindlichkeit und (Alltags-)rassismus („Eure Heimat ist unser Alptraum“, Ullstein 2019), Sexismus, sexual harassment und Misogynie („Sagte sie“, Hanser Berlin 2018) und Diversität im Stadt(er)leben („FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte“, Verbrecher Verlag 2019) auseinandergesetzt haben. 

Mit „Wir. Gestern. Heute. Hier.“ ist nun eine Anthologie bei Piper erschienen, in der, so der Untertitel, „Texte zum Wandel unserer politischen Werte“ versammelt sind. Ein sehr allgemeiner Titel, der auf vieles hoffen lässt. Und in der Tat wird einiges in den Texten verhandelt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ein leichter Schwerpunkt auf einem Phänomen liegt, das aus unterschiedlichsten Perspektiven (die natürlich noch andere The- und Problematiken mit sich bringen) beleuchtet wird: Der Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1989/1990 (oft mit Begriffen wie „Wende“, „Wiedervereinigung“ und „Mauerfall“ in Verbindung gebracht, die in ihren Implikationen auf die ein oder andere Weise durchaus problematisch sind), sowie die damit verbundenen Ereignisse und, vor allem, die Folgen.

Dieser Fokus erweist sich aber schnell als Feature, nicht als Fehler, da sich im Spiegel dieses Knackpunktes der jüngeren deutschen Geschichte ein sehr vielfältiges Bild der Gegenwart und ihrer Hintergründe, und somit vieler, wenn auch nicht aller, gesellschaftlichen Probleme der letzten 30 Jahre (und davor) (re)konstruieren lässt. 

„Die autoritäre Phantasie, die heute ganz Deutschland bedroht: Viele von uns Wendekindern sahen sie damals schon bei unsren Freunden und Verwandten. Und wir standen hilflos vor einem West-Mainstream, der das alles für vernachlässigenswert hielt.
Wenn sich unsere Generation heute meldet und versucht, ihre Erfahrungen in das kollektive Gedächtnis einzuspeisen, dann ist das nicht nur eine Privatsache, dann geht es nicht nur um Kindheitsaufarbeitung. Es geht darum, einen Teil Deutschlands sichtbar zu machen, der das ganze Land immer stärker prägt. […] Zeit, davon zu erzählen.“

(Christian Bangel, geb. 1979)

1990, dieses Datum steht im Kleinen für das Ende der Teilung der beiden deutschen Staaten, im Großen aber für den Anfang einer neuen Epoche mit vielen, ausufernden Entwicklungen: Globalisierung und digitale Revolution, Krieg gegen den Terror und arabischer Frühling (mit anschließenden Bürgerkriegen), Massen an Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger und das Aufgehen der Schere zwischen Arm und Reich, Finanz- und Eurokrise, Fridays for Future und neuer Rechtsruck. Ich will nicht behaupten, dass all diese Entwicklungen ihren Ursprung im Ende des Kalten Krieges haben/danach erst begannen, aber in vielerlei Hinsicht traten sie nach seinem Ende verstärkt zutage/änderten sich danach Gegebenheiten, die ihnen Vorschub leisteten. 

Es gibt einige Texte in der Anthologie, die sich direkt mit den Realitäten in Ostdeutschland (vielfach: der Perspektivenlosigkeit der Menschen und aufkommendem Rechtsradikalismus) auseinandersetzen, meist in autobiographischer Manier, aber auch fiktiv – u.a. von Christian Bangel, Antje Rávik Strubel, Daniel Schulz, Miku Sophie Kühmel, Jan Böttcher, Julia Schoch, Lukas Rietzschel. Darüber hinaus gibt es einige sehr gute Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex Heimat/Fremde (und auch: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus), u.a. von Deniz Utlu, Katerina Poladjan, Senthuran Varatharajah, Kathrin Röggla und Stephan Thome. Letzterer erzählt von einem Heimatfest, dem Grenzgang in Biedenkopf, bei dem eine als „Mohr“ bezeichnete Person die Prozession anführt. Thome begibt sich auf die historische Spur dieser Gestalt, die von Kritiker*innen als rassistisch, von den Einwohner*innen schlicht als Tradition verstanden und proklamiert wird. Beide machen es sich dabei, wie Thome zeigt, zu einfach. Sein Text legt auf faszinierende Weise Problematiken zu den Ideen von Heimat, Identität und Tradition frei.

„Wenn wir Heimat mit Ausdrücken wie Vertrautheit und Geborgenheit assoziieren, zielen wir auf die Entlastungsfunktion einer Umgebung, in der wir uns problemlos zurechtfinden. Weder gibt es Sprachbarrieren, noch besteht die Gefahr, sich zu verlaufen. In dieser Problemlosigkeit liegt eine subtile Gratifikation, die ich mir nicht verdienen muss, sondern sie erhalte, eben ohne etwas zu tun – ich bin richtig, nämlich zu Hause. […] Dass Identität aus der Anverwandlung des Fremden resultiert, ist ein Gedanke, mit dem man sich in Deutschland eher schwertut. Vor allem die kulturelle Identität gehört für uns eher in die Nähe des Erbes als der Arbeit, sie ist mehr Zustand als Prozess, wir fragen nach ihrem Wesen statt nach ihren Möglichkeiten und sehen uns am Ende genötigt, zu verteidigen, was eigentlich zu entwickeln wäre.“

(Stephan Thome, geb. 1972)

Ein weiterer Text, den ich hervorheben möchte, ist der Essay „Aufwach(s)bilder in Schichten“ von Ulrike Draesner, ein eindringlicher, in seinen Ausschlägen poetischer, ungeheuer widerständiger Text, der viel abdeckt, vom Altnazitum über Rassismus bis zu Sexismus. Es ist ein mäanderndes Gebilde, das seine Sprache abwechselnd fließen und stocken lässt und ein großartiges Beispiel für eine unverstellte, aber dennoch mannigfaltige Darstellung; ein Bericht über die problematischen Zustände in allen Zeiten, nach dem Krieg, vor 1990, nach 1990. 

„Um uns herum lebten Menschen aus dem Krieg. Der Nachbar hatte nur ein Bein. andere hatten zwei Beine und eine Gesinnung. Einer von ihnen schlug auf dem Gehweg nach meinen Beinen, als ich als Mädchen in Hosen an ihm vorüberging. Viele sehr schlecht gelaunte Menschen Menschen fuhren Straßenbahn. Ihre Hände waren aus Eisen. Dass sie Exnazis waren oder Noch Nochnazis, wurde später klar (s. die Witwen aus München und Argentinien).
Versehrte waren fast alle.
Eine brutalisierte Gesellschaft.“

(Ulrike Draesner, geb. 1962)

Von Tschernobyl bis Unterdorf, vom schnörkellosen Bericht bis zum feingliedrigen Arrangement, so groß ist die Bandbreite dieses Buches. Man könnte noch viel zu den einzelnen Texten schreiben, zu dem Strudel aus Erinnerungsfacetten, in den man bei Lara Hampes Text gerät, zu der Komik in David Wagners Telefongesprächsgeschichte, zu dem Titel von Julia Schoch („Die sanfte Vermählung der Gegenwart mit dem Gewesenen“), zum schnell skizzierten und doch reichen Innenleben von Miku Sophie Kühmels Figuren, etc., etc. 

Eine letzte Erwähnung möchte ich dem vorletzten Text des Bandes zuteilwerden lassen, Helene Bukowskis „Teppichparadies“. Ein Bericht über ein Aufwachsen nach 1990, aber auch Bericht über den Wandel der Welt, wie man sie kennt und dann nicht wiedererkennt. Eine Meditation über Privilegien, Verhältnis(und Unverhältnis-)mässigkeiten und die Frage nach dem: was nun/was tun?, mit der uns die Autorin, nachdem viele Texte über die Vergangenheit reflektiert haben, in die Gegenwart, in die Zukunft entlässt: 

„Dort, wo ich liege, bin ich von all dem weit entfernt. Der ICE hält in Berlin an vielen Stellen. Man könnte fast glauben, niemand hätte was zu befürchten. Das Leben hier in einer Blase, bequem. Für mich sogar noch bequemer als für andere. Durch meine Hautfarbe und die Sprache, die ich spreche. Niemals verdächtigt aufgrund des Aussehens. Ich falle durch kein Raster. Muss nicht gerade ich deshalb etwas riskieren?“

(Helene Bukowksi, geb. 1993) 

Kanada, aus Sicht der Literatur


index Aus einem Land kommend, in dem das Wort „Nationalliteratur“ wohl noch lange, zurecht, einen sehr zweifelhaften Ruf haben wird, war ich gleichermaßen gespannt und skeptisch, als ich auf den ersten Seiten von Atwoods „Survival“ las, es war ihre Absicht in diesem Buch die spezifischen Felder und Kategorien der kanadischen Literatur herauszuarbeiten.

Man muss vorwegnehmen, dass sich Atwood in ihrem Vorwort zunächst darauf verlegt, zu sagen, was „Survival“ nicht ist: keine Chronologie der kanadischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, keine Geschichte der kanadischen Literatur anhand der Biographien der Autor*innen, keine umfassende Studie, kein Nachschlagewerk und auch Werten, also eine Art Kanon aufbauen, möchte die Autorin nicht. Ja, was ist denn dieses Buch dann, warum soll man es lesen, fragt man sich als Leser*in da und auch Atwood stellt (sich) diese Frage, nachdem sie all diese möglichen Erwartungen zurückgewiesen hat.

Und beantwortet sie gleich im Anschluss, wie oben bereits angedeutet: Das Buch soll eine Reihe von Grundstrukturen herausarbeiten, die die kanadische Literatur von allen anderen unterscheidbar macht. Kurzum, nachdem man dieses Buch gelesen hat, soll man ein Buch zur Hand nehmen und die ersten paar Seiten lesen und dann schon sagen können: das ist CanLit. Oder: das Buch konnte nur in Kanada geschrieben werden.

Um das zu erreichen hat Atwood ihr Buch in einige Kapitel unterteilt, die solche Grundstrukturen umreißen und die da heißen: „Überleben“, „Die Natur als Ungeheur“, „Tiere als Opfer“, „Ureinwohner“ und noch einige weitere. Jedem dieser Kapitel ist eine Doppelseite an Zitaten vorangestellt, dann folgt die jeweilige Auseinandersetzung.

Gleich warnen muss man wohl alle Leser*innen, dass Atwood eine Vorliebe für Lyrik hegt. Ich persönlich begrüße das, aber es wird sicher einige Leser*innen abschrecken. Mit Vorliebe meine ich nicht, dass sie nur oder mehrheitlich Lyrik zitiert, aber doch im größeren Maße als man es gewohnt ist und vor allem nicht in einem eigenen Kapitel, sondern kapitelübergreifend.

Auch ansonsten legt Atwood einige Eigenheiten an den Tag, manche sympathisch, manche etwas enervierend. So ist bspw. der Untertitel „Streifzug“ ernst zu nehmen, denn in der Tat bewegt sich Atwood schnell von einem Beispiel zum anderen und es geht ihr tatsächlich mehr um die Kategorien als um die Autor*innen und die einzelnen Werke. Wer sich daher sehr gezielte Lesetipps erhofft, wird vermutlich eher enttäuscht sein.

Schön ist dagegen, mit welch unprätentiöser Art Atwood durch die Literatur ihres Landes führt. Sie betont schon zu Anfang, dass es sein sehr persönlicher und auch nicht gerade neuer Einblick ist, den sie gewährt, aber dennoch hat man das Gefühl, sehr gut auseinandergesetzt zu bekommen, warum die Bücher und Texte, die Atwood ins Zentrum rückt, gut das nachbilden, was in der kanadischen Lebenswirklichkeit und Literatur dominant ist.

So muss man am Ende auch sagen, dass dieses Buch fast schon mehr über Kanada und seine Welten aussagt, als über seine Literatur (natürlich tut es das durch das Fernrohr der Literatur, aber der Ausblick ist eben das Thema, nicht die Beschaffenheit des Fernrohrs). Das ist natürlich nicht schlimm, solange man sich nichts anderes erwartet. Ich habe den Streifzug genossen, gerade weil er sich wenig mit literaturwissenschaftlichen oder stilistischen Punkten aufhält. Anderen wird es anderes gehen. Aber die sind hiermit gewarnt.

P.S.: Wichtig ist natürlich auch anzumerken: Das Buch erschien im Original 1972, also vor fast 50 Jahren.

Dem eigenen auf den Grund, die Gründe


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Wenn du dem Kern der Geschichte nicht nahekommen kannst, dann stimmt etwas mit der Erzählweise nicht.

Vermutlich gibt es kein Buch, dass angehenden Schriftsteller*innen beibringen kann, gute Bücher zu schreiben (es mag allerdings manche geben, die sie vor den ersten Fehlern bewahren und ihnen eine Menge Zeit sparen). Manche Autor*innen aber vermögen einen guten Einblick in ihr Handwerk zu geben und daraus lassen sich dann durchaus einige Rückschlüsse ziehen, was das Schreiben generell angeht; diese Einblicke taugen nicht als Richtlinien, aber vielleicht doch als Wegweiser.

Neben Mario Vargas Llosas Briefe an einen jungen Schriftsteller und Geheime Geschichte eines Romans ist Terézia Moras Nicht sterben bisher eines der besten Bücher, dass ich über das Handwerk des Schreibens gelesen habe. Natürlich gibt es zahllose Ratgeber auf diesem Gebiet (zu den besseren gehört hier noch Schreiben für ewige Anfänger von Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger), aber dergleichen erscheint mir oft zu anorganisch, statisch, beflissen.

Da sind mir Berichte aus der Werkstatt wie bei Llosa oder hier bei Mora lieber. Allein schon deshalb, weil sie neben den Einblicken in die Entstehung von Texten auch die Hintergründe und Verbindungen zum Leben des*der Schreibenden offenlegen. So kann man als Leser*in direkt eine der wichtigsten Grundlagen des Schreibens begreifen: dass dieser Tätigkeit keine Alternative zum Leben ist, keine andere Welt, sondern sehr eng mit dieser verbunden ist, nur aus einem Zwischenspiel heraus entsteht.

Manche meiner Recherchegänge bestehen ausschließlich aus Verirren. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise eben nicht das finde, was ich mir zu finden vorgenommen habe, sondern das, was wirklich da ist.

In fünf Kapiteln breitet Mora ihre literarische Biografie aus. Sie beginnt beim ersten Buch, dem Erzählband “Seltsame Materie” und schildert, warum die Erzählungen so und nicht anders entstehen konnten, wie die zentralen Erfahrungen ihrer Kindheits- und Jugendjahre die Texte inhaltlich aber auch formal prägten.

Schon dieses erste Kapitel bringt den Leser*innen die Essenz von guter Literatur nah: Notwendigkeit. Es mag hübsche Geschichten geben, unterhaltsame Bücher, die nicht aus Notwendigkeit, einem inneren Bedürfnis, einem Verlangen nach Bericht, nach Niederschrift, entstanden sind. Aber Kunst entsteht, so würde ich behaupten (und Mora würde da glaube ich zustimmen) aus Notwendigkeit (wobei nicht automatisch Notwendigkeit gute Kunst hervorbringt).

Auch die weiteren vier Kapitel halten zahllose anschauliche Details über das Schreiben, über Konzeption und Figurenaufbau bereit. Mora zeigt, wie bestimmte Entscheidungsprozesse vonstattengehen, warum sie an manchen Aspekten zunächst scheiterte und wie sie dieses Scheitern durch neue Ansätze überwand.

Wer sich dafür interessiert, wie Leben und Werk zusammenhängen und was es bedeutet, schriftstellerisch tätig zu sein, dem kann ich Nicht sterben nur ans Herz legen. Und wer Passagen wie die folgende gern liest, ist auch herzlich eingeladen, den neben allem anderen ist das Buch natürlich auch ein stilistischer Genuss, voller Erkenntnisse und Ideen, die wie nebenbei auftauchen und dennoch Eindruck hinterlassen.

Zusammengefasst kannst du dein Eigenes gefunden haben, aber das bedeutet noch lange nicht, das bedeutet keineswegs, nicht im Geringsten, dass deswegen etwa Extraraum und Extrazeit im Universum dafür entstanden wäre. Nix. Stattdessen: Tage, an denen sich alles und jeder dagegen verschworen zu haben scheint, dass du dein Eigenes tust. Von früh um 5, wenn du denkst, ihnen zuvorkommen zu können, bis um Mitternacht, wenn du schließlich aufgibst: Gezerr und Geschrei, wohin du dich auch wendest. [] Es ist weder mehr Raum noch mehr Zeit dafür, es ist nur da, was immer da war: das ununterbrochene Strömen der Welt, und das Wenigste davon ist so, dass es die Klarheit der Gedanken und Empfindungen fördert. Zwischen dir und der Welt besteht die ungleiche Situation, dass sie: ist, während du: versuchst, etwas zu tun.

Eine Reise den Fluss hinab und zu den Untergründen menschlichen Daseins


Obgleich es in Olivia Laings erstmals 2011 erschienenen Reiseessay viele literarische Bezugspunkte gibtallen voran Virginia Woolf, aber auch Kenneth Grahame, Iris Murdoch, Lewis Carroll, um nur einige zu nennenfühlte ich mich schon zu Beginn der Lektüre vor allem an ein knapp fünfzehn Jahre vorher erschienenes Buch erinnert, nämlich W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn.

Im Zentrum beider Bücher steht eine Wallfahrt, die angetreten wird, um einer inneren Leere zu entkommen. Bei Sebalds Ich-Erzähler ist es der Abschluss einer größeren Arbeit, bei Laing das Ende einer Liebesbeziehung. Natürlich ist Laings Reise echt, während Sebalds nur Fiktion ist, aber gerade deshalb ist es faszinierend, dass sie oberflächlich betrachtet zahlreiche Ähnlichkeiten aufweisen.

Da ist zum Beispiel die Tendenz, die Umgebung zu einem Abbild, einer Chiffre der Menschheitsgeschichte zu machen. Beide, Sebald und Laing, ziehen mit Vorliebe Details heran, Beobachtungen, und schlagen aus ihnen ein paar Funken, in deren Licht man mit einem Mal tiefe Einblicke in Mythologie, Zivilisation und Philosophie erhält. Beide beschreiben wie sie von der Welt um sie herum mit dem Menschsein konfrontiert werden, seiner Erhabenheit und seiner Nichtigkeit.

Und beide Werke, Saturn und Fluss, tragen außerdem ein nie endendes Memento Mori mit sich: Vergänglichkeit ist sowohl in Sebalds Prosa, seiner Schilderung des Verfalls und der Unwirtlichkeit des ländlichen Suffolks, als auch bei Laings flirrend-essayistischen Reiseschilderungen, den Fluss Ouse hinab, ein ständiger Begleiter der Narration und sogar beide Titel sind Metaphern für das Auseinanderfallen bzw.

Vorbeirinnen der Dinge.
Freilich gibt es auch Unterschiede. So sind Laings Schilderungen nicht selten in zärtliche Melancholie getaucht und mit einer liebevollen Offenheit geschrieben, die Sebalds Buch nicht besitzt, da es mehr zu einer gemessenen Ironie neigt. Was bei Sebald Entropie ist, ist bei Laing immer noch Pracht, sei es auch verfallene, entgangene Pracht. Bei ihr ist alles unmittelbarer und deshalb manchmal auch unstet, bei Sebald hat alles seinen Platz, der Stil ist präzise und geschliffen.

Man könnte es auch anderes formulieren: Bei Laing geht es um die Dinge, auf die es ankommt, bei Sebald um das, was fehlt. Sebalds Prosa schürt ein Ende, Laing einen immerwährenden Neuanfang, eine Wiederholung, an der man noch teilhaben kann.

“Zum Fluss” ist ein tröstliches Buch. Es zeigt uns, dass wir einfach nur den nächsten Wanderweg nehmen, in die nächste ländliche Ecke der Welt fahren müssen, uns zum nächsten Fluss oder Meer begeben können, um wieder ergriffen zu werden vom ganzen Schauspiel der Natur und seinem Nachhall in all unserem Tun und Denken. Zwar erinnert es uns permanent an das Verschwinden und Enden, entsinnt sich aber in diesem Erinnern und Aufzählen auch permanent des Glücks, der Freude, des Genusses.

Kurzum: ein Buch, das viel zuwege bringt und in das man sich versenken, mit dem man sich treiben lassen kann. Wer an geradliniger Narration interessiert ist, dem*der dürfte der Stil zu viele Abzweigungen nehmen. Wer aber essayistische Prosa schätzt, die weite Bögen spannt und dann wieder Unmittelbares schildert, sich also hin und her, auf und ab bewegt, dem dürfte Olivia Laings Wanderung an der Ouse eine schöne Zeit bescheren.

Leidenschaft der Klugheit, Klugheit der Leidenschaft


Schon Lukas Bärfuss erster Essayband „Stil und Moral“ hatte mich überzeugt und so war ich gespannt auf den zweiten, mit dem vielversprechenden, aber auch gefährlichen Titel „Krieg und Liebe“. Und, was soll ich sagen: ich bin verblüfft, berückt, aufgewühlt, beseelt.

Wenn es um Begeisterung geht, furiose zumal, ist immer die Frage, wie man die vernünftig zu Papier bringt. Und in diesem Fall könnte sie auch ausufern, denn nicht nur sind die Texte von Bärfuss in sich gut, sie schneiden zudem unglaublich viele Themen an, über die lange nachzudenken nicht schwerfallen dürfte, auch über die Ansätze und Ideen von Bärfuss hinaus.

Da ich hier nicht auf alle Texte eingehen kann, will ich nur 1-2 als Beispiele kurz herausgreifen. Als erstes gleich den Einstiegstext, der zunächst unaufgeregt, geradezu bewusst neutral wirkt, wie ein kurzer Abriss, eine eher uninspirierte Rezensionsnotiz zu einem japanischen Kriegsbericht.

Und dann geschieht das Wunder: mit einer kurzen Beobachtung, die er gegen Ende hin zuspitzt, schafft Bärfuss es, dass den Leser*innen aus dem glatten Text eine fulminante Erkenntnis entgegenspringt: Er verquickt die Leidenschaft, mit der sich die Soldaten für ihr Land, ihren Kaiser oder dergleichen opfern, mit der Leidenschaft der Liebe. Und formt aus dieser unheiligen Verbindung die Frage: kann es sie geben, eine Welt ohne Krieg, in der aber noch (leidenschaftlich) geliebt wird? Wie lässt sich die Leidenschaft für das eine von der Leidenschaft für das andere trennen?

Sie haben immer ein bisschen etwas Abwegiges an sich, diese Essays, und stoßen dann mit einem Mal oder auch ganz subtil ins Zentrum der Überzeugungen vor. Nicht anders in einem Text, in dem es um Nietzsche „und die Populisten“ geht. Gähn, hab ich da gedacht. Und erstmal wirkte der Text auch recht gewöhnlich, gutgeschrieben durchaus, aber eher lammfromm, überschaubar.

Doch schon bald war da eine besorgniserregende Umwälzung zu beobachten und nach der Lektüre musste ich mir eingestehen: ich hatte noch nie einen so guten Text über Nietzsche oder über Populismus gelesen; ich begriff jetzt wesentliche Aspekte von beiden, wo ich bisher meinte, dass eine vage Vorstellung, eine vorgefasste Meinung genügen würde.

Nicht alle Texte in dem Buch sind so umwerfend wie diese beiden oder auch die grandiose Dresdener Rede „Am Ende der Sprache“, die ich nun schon mehrmals gelesen habe und die so trostspendend und gleichsam kämpferisch ist wie nur Weniges, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Aber immer sind sie interessant, hinterfragen, zeigen auf, schaffen Perspektiven, wo es vorher nur festgelegte Linien zu geben schien.

Es ist ein Buch für jene, die sich gern wirklich mit Texten beschäftigen, nicht nur denken gefällt mir (nicht), nicht nur Unterhaltung suchen, sondern auf der Suche nach Auseinandersetzung, Denkimpulsen, Erschütterung und Belebung sind. Kurzum: es ist wirklich nur ein Buch für leidenschaftliche Leser*innen. Aber die werden es zu ihren Schätzen zählen, da bin ich mir sicher.

Eine Machtstudie, auch im 21. Jhd. noch immer aktuell


Der Tyran

Der Tyrann, das ist eine sehr klassische Figur, zu finden vor allem in Geschichten über die Antike – das letzte Mal, dass jemand einen modernen Herrscher im großen Stil einen “Tyrannen” nannte, war wohl 1865, als John Wilkes Booth Abraham Lincoln ermordete und im Anschluss die lateinische Wendung “Sic semper tyrannis” (“so ergeht es den Tyrannen”, angeblich von Brutus zu Caesars Ermordung geprägt) ausrief. 

Heute sprechen wir von Autokraten, Diktatoren, Alleinherrschern, etc. – der Tyrann ist eher zum Sinnbild häuslicher Herrschaft und Unterdrückung geworden, ein Synonym für Patriarch (wobei ein Diktator oft auch ein Patriarch ist). Das Wort scheint nicht mehr genug Kraft zu besitzen, um den modernen Formen von Allmachtsphantasien im Zeitalter von Überwachungsstaaten, Massenvernichtungswaffen, etc. gerecht zu werden.

Doch Stephen Greenblatt brachte den Tyrann (inspiriert, wie er im Nachwort schildert, durch die Wahl Donald Trumps) wieder aufs Tapet und zwar anhand der Tyrannendarstellungen des nicht ganz unbekannten Dichters und Dramatikers William Shakespeare. Angereichert mit vielen Passagen aus seinen Stücken erstellt Greenblatt ein Psychogramm des Durchschnittstyrannen, seiner Strategien und Wünsche, seiner Unzulänglichkeiten und Fehler.

Er beginnt mit Shakespeares frühem Stück-Zyklus, der sogenannten York-Tetralogie mit “Heinrich VI.” (in drei Teilen) und “Richard III.”, in welcher der Dramatiker den Aufstieg des Tyrannen Richard Plantagenet vor dem Hintergrund der Rosenkriege beschreibt. Das Motiv des unansehnlichen Richard, der Grund warum er nach Macht strebt und dabei vor nichts zurückschreckt, ist (so stellt Shakespeare es dar) seine mangelnde Selbstliebe, die er durch äußere Erfolge und Macht zu kompensieren versucht. Er glaubt nicht, dass Nähe oder Zuneigung anderer für ihn vorgesehen sind, also lebt er ohne sie und genießt stattdessen kleinere und größere Grausamkeiten. Dies führt natürlich dazu, dass er am Ende zwar ganz oben, aber auch ganz allein dasteht.

Von diesem Tyrannen mit Minderwertigkeitskomplex geht es dann zum Tyrannen wider Willen. MacBeth strebt nicht aus sich heraus nach der Krone, vielmehr sind es eine Kombination aus Gelegenheit, den Einflüsterungen seiner Frau, sowie die Prophezeiung dreier Hexen (er werde eines Tages über Schottland herrschen), die ihn zum Königsmörder und Ursupator machen. Kaum auf dem Thron ist sein einziger Wunsch, irgendwie die innere Sicherheit wiederzugewinnen, die ihm durch das Handeln gegen seine Ideale und Bedenken abhandengekommen ist. Er versucht diese innere Sicherheit durch äußere Sicherheit zu erreichen, also indem er seine Macht absichert. Dabei muss er aber immer weiter Grenzen überschreiten und Brücken abbrechen, bis er schließlich nur noch instinktiv und paranoid handelt, dem Wahnsinn verfällt.

Schließlich ist da König Lear, der alte weiße Mann-Tyrann. Er ist es gewohnt, dass man alles für recht hält und umsetzt, das er befiehlt. Die Meinungen anderer sind ihm egal und auch in seiner Senilität und offenbaren Unfähigkeit wird er von nur wenigen seiner Berater wirklich offen kritisiert. Sie tragen seine fatalen Entscheidungen mit, obwohl sie das Reich zugrunde richten.

Greenblatt beschäftigt sich auch noch mit den Dramen “Julius Caesar”, “Das Wintermärchen” und “Coriolanus”, aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen. Es gelingt ihm auf jeden Fall, ein sehr umfassendes Portrait der verschiedenen Tyrannenausführungen von Shakespeare herauszuarbeiten. Aus diesen verschiedenen Ansätzen und Ausführungen extrahiert er dann die Kernmerkmale tyrannischer Herrschaft: wie sie überhaupt eintreten kann, warum sie gestützt und befördert wird (oft aufgrund von Eigeninteressen, bei denen die Interessenten die Dimensionen des Tyrannencharakters unterschätzen) und warum sie so fatal ist (letzteres ist vielleicht offensichtlich, die ersten beiden Punkte aber eigentlich auch).

Vieles davon hat Hand und Fuß, vieles lässt sich leicht auch auf Personen und Situationen der heutigen Zeit übertragen. Greenblatt zeigt, dass Shakespeare ein Meister der Typisierung war, der oft die Gefahren seiner eigenen Zeit durch Schilderungen weit zurückliegender Ereignisse umreißen wollte – und dabei Figuren und Plots schuf, die sogar noch die Gefahren und Charaktere unserer Zeit ganz gut abbilden, nicht in jeder Facette, aber von der Idee her.

Insofern ist das Buch tatsächlich eine gelungene Machtstudie für das 21. Jahrhundert, auch wenn es auf 400 Jahre alten Stücken beruht. Wer von Shakespeare (und Greenblatt) begeistert oder einfach nur in mancher Hinsicht belehrt werden will, der sollte das Buch auf jeden Fall lesen.

 

 

Feminismus, eine transformative Kraft


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„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.“ (Margaret Mead)

Dieses Buch ist, so kann man direkt vorwegsagen, eine großartige Verbindung aus Text und Bilddokumentation. Dadurch bekommt man bei der Lektüre fast das Gefühl, die widrige und besondere Geschichte des Feminismus als weltweiter Emanzipations- und, letztlich wohl auch, Kulturbewegung, nicht nur nachzuvollziehen, sondern noch einmal mitzuerleben.

Anhand verschiedener Aspekte (Wahlrecht, Selbstbestimmung in pucto Körper, Arbeit und Beziehung, die männliche Perspektive als Norm und zuletzt übergreifende Gleichheit, jenseits von sexueller Orientierung, Hautfarbe und Klasse) in eigenständigen Kapiteln wird von der feministischen Bewegung und alle ihren Meilensteine und Persönlichkeiten erzählt.

Die Autor*innen legen dabei im Fließtext einen besonderen Fokus auf den Prozess, also die kontinuierliche Entwicklung, während die vielen eingefügten Grafiken mit den dazugehörigen Untertexten sich oft auf einzelne Ereignisse und Personen konzentrieren, symptomatische Schicksale beschreiben oder auf andere Art und Weise etwas hervorheben.

Was eh schon klar sein sollte, in diesem Buch aber noch einmal klar wird: Der Feminismus hat begonnen als Emanzipationsbewegung der Frauen, ist aber zu einer der wichtigsten Bewegungen für die Emanzipation des Menschen an sich geworden. Wer glaubt, bei Feminismus ginge es nur um den Wunsch von Frauen nach mehr Mitbestimmung, der irrt. Das war der Ausgangspunkt.

Mittlerweile ist der Feminismus eine transformative Kraft, die die Gleichheit aller Menschen anstrebt und für ein faires Miteinander sorgen will, das letztlich allen Geschlechtern zugutekommen würde.