Category Archives: Literatur von Frauen

Unterhaltsam, voller Anstöße


9783442178742

Die vom Frauennetzwerk „Sorority“ herausgegebene Anthologie „Die hat sich doch hochgeschlafen“ bietet, dies vorweggeschickt, eine intelligente und dabei höchst unterhaltsame Lektüreerfahrung. Trotzdem lässt der Titel einige Vorstellungen aufkommen, die das Buch nicht erfüllen kann.

So muss klargestellt werden, dass das Buch kein Nachschlagewerk für kurze, schlagfertige Retourkutschen und Argumente gegen Sexismus ist. Es ist mehr eine Ansammlung von Pamphleten, die natürlich nicht nur auf Verve, sondern auch auf Fakten aufgebaut sind, aber nichtsdestotrotz einen Tick zu oft die emotionalen Aspekte der Debatten forcieren, um noch als schlichte Anleitungen durchzugehen. Es sind Kampfansagen

Das ist in meinen Augen kein Fehler, sondern ein Feature, denn es zeigt, was bei diesen Debatten auf dem Spiel steht und wie wichtig es ist, Vorurteilen und Scheinargumenten entgegenzuwirken und die Systeme dahinter, und letztlich das ganze Patriarchat, abzuschaffen.

Und dafür hat man sich mit Lady Bitch Ray und Stefanie Sargnagel und Laura Wiesböck u.a. einige bekannte und tolle Autor*innen geholt. Man merkt auch sofort in deren Beiträgen, dass sie nicht nur ziemlich viel zu ihren jeweiligen Themen zu sagen haben, sondern dass diese Kenntnisse auch ein ganzes Buch, zumindest einen längeren Beitrag fühlen könnten.

Das ist das zweite Problem, dass es in vielen Texten bei Ansätzen und Aufrufen bleibt. An sich überhaupt schön, wenn man heute noch ein Buch mit vielen klugen Anstößen in die Hände bekommt, aber ein ums andere Mal vermisst man dennoch schmerzlich eine ausformulierte und breiter aufgestellte Argumentation/Darstellung.

Trotzdem ist da Buch sicherlich kein Fehlkauf und gerade wer in feministischen Themen nicht besonders up-to-date ist, kann sich hier ziemlich schnell auf den neusten Stand bringen.

Geht so


d1d2954d37b0844efa01e488e095d569f94a8834-00-00

„Über dir hängt Schwermut an der Wand

wie eine sehr alte Girlande,

mit einem Meer aus Elefanten

und Betonluftballons dran,

die geformt sind wie Monster.

[…]

Ich wollte immer wie die anderen sein .

Nur dass das absolut nichts bringt

und dass das absolut nicht geht,

weil es die anderen ja schon gibt.“

Lange habe ich mich dem Hype um Julia Engelmann entzogen. Poetry-Slams waren noch nie mein Fall, vor allem poetische Poetry-Slams nicht, und auch als Engelmanns Texte anfingen als Bücher zu erscheinen, hielt ich noch Abstand. Zu groß schien mir die Gefahr, dass mir, als passioniertem Lyrikleser, ihre Texte wie dilettantische Verse vorkommen würden, nicht auf der Höhe der Zeit.

Nachdem mir aber wieder und wieder einige Leute erzählten, wie schön die Autorin schreiben würde und wie wichtig diese Texte wären, habe ich diesen Best-of-Band zum Anlass genommen, mir Engelmanns Gedichte einmal anzuschauen.

„Ich würde so vieles sagen, aber bleibe meistens still

weil – wenn ich das alles sagen würde,

wäre das viel zu viel.“

Leider muss ich sagen, dass meine Befürchtungen größtenteils eingetroffen sind und in Summe kann ich mit den Texten wenig anfangen. Das liegt vor allem an zwei Aspekten.

Zum einen ist es offensichtlich, dass Engelmann wenig bis gar keine zeitgenössische Lyrik gelesen hat. Das ist keinesfalls ein Muss für das Schreiben von Gedichten hier und heute (oder eine Garantie für deren Qualität), aber es ärgert mich. Denn es gibt viel gute Lyrik da draußen und Engelmann könnte einiges von ihr lernen (bspw. manches über Ökonomie).

Zum anderen, und das ist der wichtigere, zentrale Punkt: Mir geht die „Sorge dich nicht, lebe“-Atmosphäre des Buches auf die Nerven. Ich bin gewiss kein Befürworter von ungebremsten Zynismus, in der Kunst oder sonstwo, verschmähe keine Happy Ends und lasse mich gern mal von Positivem mitreißen. Aber bei vielen Gedichten in diesem Band habe ich mich dann schon gefragt: ist das noch Poesie oder schon Seelenpetting, Syntax oder Self-Care, Ambivalenz oder doch nur ami volare?

Ich will nicht den Gate-Keeper spielen und entscheiden was Lyrik ist und was nicht, aber müsste ich das Buch labeln, würde ich es eher unter Selbsthilferatgeber einsortieren und nicht bei den Gedichten. Dafür spielt es auch viel zu selten wirklich eine Rolle, dass der Text ein Gedicht ist, es hat selten etwas mit dem zu tun, was er vermitteln soll.

„Keine Ahnung, ob das Liebe ist,

vielleicht werde ich das nie wissen.

Aber immer, wenn du bei mir bist,

hör ich auf, dich zu vermissen.“

„Du machst mich espressowach,

bin lange nicht mehr weggeschlummert,

weil in meiner Brust der Bass

so laut gegen die Decke wummert.

Hörst du nicht? Die Nachtigall

singt vierundzwanzigsieben.

Wärst du mit mir zum Abiball

gegangen, wär ich geblieben.“

Die einzige Kategorie in der es noch Lichtblicke gibt sind die Liebes-/Beziehungsgedichte. Hier gibt es ein paar ausgefallene Bilder, ein paar Ambivalenzen, ein bisschen weitläufigere Ansätze. Trotzdem bin ich unter dem Strich einfach nicht so angetan wie viele von Frau Engelmanns Texten. Das wird der Begeisterung, die ihr entgegenbrandet, keinen Abbruch tun und soll es auch nicht.

„mein Herz ist das Berghain

und du kommst nicht rein“

Wer macht hat, hat Recht – und warum es nicht so sein sollte


1307041996.jpg itok=VB7D7oC4

„Macht bestimmt erheblich unser Leben, doch wird verdrängen oder mystifizieren sie, und je mehr wir das tun, desto hilfloser gehen wir mit ihr um. […] Das Gefährliche an der Macht ist nicht, dass sie obsessiv wirkt, sondern dass sie peinlich ist und verleugnet wird. Sie füllt den Verhandlungsraum nahezu komplett aus, doch alle müssen so tun, als spiele sie keine Rolle, und diese akrobatische Heuchelei bindet einen Großteil ihrer Konzentration und Kraft. […] Theoretisch scheint heute klar zu sein, dass Macht ebenso wenig wie Sexualität etwas Dämonisches ist. Man akzeptiert sie als zwingenden Bestandteil jeder höheren Ordnung und hält »nur« ihren Missbrauch für schädlich. Doch wer stellt im konkreten Fall fest, wann die Grenze zwischen Ge- und Missbrauch überschritten wurde? Und wer spricht es aus?“

Autoritäten umgeben uns, begegnen uns ständig, folgen uns auf Schritt und Tritt. Und wir folgen ihnen, ihren Weisungen. Nicht immer und allein aus blindem Gehorsam, vielmehr akzeptieren wir Autorität dort, wo als einzige Alternative (scheinbar oder tatsächlich) Willkür oder Chaos droht. Und auch, weil wir uns Privilegien oder zumindest den Nicht-Entzug von Privilegien erhoffen/versprechen.

Dennoch sind Autoritäten ein Problem, sogar eines der zentralen Probleme menschlicher Gesellschaftsstrukturen. Sie tendieren nämlich dazu, Systeme (und die Menschen darin) zu korrumpieren: oft wird Macht dann nicht mehr als Aufgabe im Dienste des Systems, sondern als Attribut des eigenen Selbst, der eigenen Wünsche, Vorstellungen und Ideen betrachtet – und zusätzlich als Schutz für diese eigenen Ambitionen, als Garantie für Unangreifbarkeit und Profit.

Wenn man einmal davon absieht, dass eine gewaltbefreite Welt, ohne Machtkonzentrationen und -ausübung, womöglich die einzig denkbare Welt ist, in der es auch keine Korruption, keinen Machtmissbrauch geben kann, bleibt die Frage: wie kann man dieser, anscheinend immanenten, toxischen Entwicklung innerhalb von Machtstrukturen entgegenwirken oder, und damit kommen wir zu diesem Essays von Petra Morsbach, wie kann man ein/e bereits von Machtmissbrauch durchdrungene/s Position/System enttarnen. Oder, anders gesagt: wie zwingt man die Menschen dazu, den Elefanten im Zimmer zu bemerken.

Um Machtmissbrauch und die Sprache seiner Verschleierung (und Aufdeckung) in der Praxis zu verdeutlichen, schildert Morsbach drei Fälle. Zunächst geht es um die öffentlichen Fälle „Groër“ und „Haderthauer“, zuletzt um einen internen Fall in der bayrischen Akademie der schönen Künste. Erstere sind Fälle aus dem Umfeld von Kirche und Politik, die, aufgrund der Initiative von verschiedenen Einzelpersonen, ein hohes Maß an Belegen/Dokumenten aufweisen, über den Fall selbst, aber auch den Versuch der Aufdeckung, des Widerstandes. Der letzte ist Morsbachs persönlicher Fall, in dem sie die Einzelperson war, die Belege und Dokumente sammelte und den Widerstand probte. In allen drei Fällen erzählt sie anhand der Dokumente eine Geschichte des Machtmissbrauchs, seiner Dimensionen und Folgen.

Gleichzeitig deckt sie mit diesen drei Fällen ein breites Feld an Motiven ab. Im ersten Fall (Groër) wird die Macht zum Ausleben der eigenen Sexualität auf Kosten anderer genutzt und zusätzlich dazu, Menschen zu dominieren. Im zweiten Fall (Haderthauer) ist Profitgier, kombiniert mit Ausbeutung, das Motiv hinter dem Missbrauch. Im letzten Fall schließlich eine Mixtur aus Geltungssucht und dem Verlangen nach Kontrolle. Die ersten beiden Fälle (und auf gewissen Weise auch der dritte) stellen klar: Machtmissbrauch ist nicht selten auch ein Missbrauch von/an Menschen.

Morsbach zeigt klug auf, dass die genannten Motive zwar am Anfang des Machtmissbrauches stehen, aber bald nicht mehr das einzige Problem darstellen. Denn wenn der Machtmissbrauch, nebst seiner Motive, offengelegt wird, zeigt sich (in allen drei Fällen), dass die Institutionen (seien es nun kirchliche Räte, staatliche  Einrichtungen, parlamentarische Untersuchungsausschüsse oder eine Gruppe von Funktionär*innen in einer Akademie) nicht den Machtmissbrauch zu bekämpfen beginnen, sondern den Anschein von Machtmissbrauch und die Anschuldigungen, die zu diesem Anschein geführt haben (der zumindest in diesen drei Fällen kein Anschein ist, sondern faktisch belegt).

„Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir vieles nicht wissen, sondern dass wir vieles nicht wissen wollen, weil es den aktuellen Kriterien der Eigenliebe widerspricht. […] Warum verteidigt man mit gewaltiger Energie lieber den Anschein der Ordnung als die Ordnung selbst? Warum verzichtet man ohne Not auf eigene Rechte, zum Schaden unserer kostbaren, demokratischen Kultur? Offenbar wirken hier Antriebe, die alle rationalen Bekenntnisse unterlaufen, ohne dass das überhaupt bemerkt würde. Im Essay folgte ich den Spuren dieser Antriebe in der Sprache, die in realen Konflikten gesprochen wurde; denn die Sprache scheint mehr zu wissen als der Mensch. […] Oft können wir gefahrloser ethisch handeln, als wir meinen. Die Frage ist, was uns hindert.“

Was hindert uns? Auch Morsbach findet auf diese Frage keine abschließende Antwort, aber viele Teilantworten. Sie stellt, neben dem Dokumentieren der Fälle, viele Überlegungen an und nimmt sich Zeit für Exkurse, was ihre sehr gewissenhaften Auf/sarbeitungen manchmal etwas zerfasern lässt, aber letztlich bewirkt, dass man als Leser*in eine vielschichtige Auseinandersetzung erlebt, die nicht nur Faktisches beinhaltet, sondern auch Ideen, Philosophisches, etc.

Viele Probleme, die das Buch festmacht, hängen mit Gruppendynamiken zusammen, mit Abhängigkeitsverhältnissen oder schlicht mit vorauseilendem Gehorsam. Ein Thema, das Morsbach vielleicht etwas stiefmütterlich behandelt, ist die Identifikation der Menschen mit ihrer Rolle und wie diese Rolle auch durch Narrative aus den Medien und durch Selbstdarstellungen von anderen geprägt wird.

„Die Erfahrung zeigt aber, dass ein pauschaler Angriff – so nachvollziehbar er sein mag – meist erfolglos ist, denn er stellt das System infrage, in dem sich alle eingerichtet haben. Das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit ist so groß, dass Menschen grundsätzlich Kritik nur schwer aufnehmen können, aus Angst, die Strukturen würden gefährdet. […] Anscheinend neigen Gruppenmitglieder in Stresssituationen dazu, Hierarchien als beruhigend und Kritik als Gefahr wahrzunehmen. Dabei ist diese Blickverengung gefährlich. […] Hierarchische Starrheit erweckt nur oberflächlich den Anschein von Stabilität. Untergründig führt sie zu einer Umverteilung der materiellen und immateriellen Güter zugunsten der Mächtigen, also eben nicht der Festigung, sondern dem Verlust von sozialer Balance und Sicherheit.“

Wo Morsbach dagegen über die Maßen brilliert: die Analyse der Sprache. „Der Elefant im Zimmer“ ist allein deswegen schon lesenswert, weil Morsbach einen guten Blick dafür hat, welche Allgemeinplätze, Finten, Gefühle, Absichten, Überlegungen, Denkfehler und Fallstricke hinter sprachlichen Wendungen und Formulierungen stehen. Und so zerlegt sie, entschieden und doch sachlich, die Statements und Briefe, sogar Rechtstexte und andere striktere Dokumente, und zeigt auf, wie darin die Sprache diejenigen entlarvt, die sich mit ihr die Wahrheit vom Leib zu halten versuchen.

Neben den drei Fallbeispielen, dem eigentlichen Essay, enthält das Buch ein Nachwort und einen Katalog von 33 kondensierten Überlegungen (teilweise zugespitzt auf Empfehlungen) zu Machtmissbrauch und Widerstand, sowie eine Corona-Nachbemerkung und einen Anhang mit detaillierten Nachweisen. Es ist eine beeindruckende Arbeit und wird, so hoffe ich, viel gelesen und viel beachtet werden.

Bei der Lektüre habe ich selbst wieder an ein oder zwei Momente aus meinem Leben zurückgedacht, bei denen auch ich mit Machtmissbrauch in Berührung kam (keine ernsten Fälle, aber doch üble Schikanen). Und auch ich verhielt mich dann abwechselnd kämpferisch und zurückhaltend, je nachdem wie öffentlich mein Widerstand zutage getreten wäre. Natürlich reicht Erkenntnis nicht immer aus für Mut, aber ich glaube doch, dass Mut zum Teil durch Erkenntnis erwachsen kann. Und wie Morsbach Schilderungen zeigen, reicht oft ein kleiner Widerstand, um zumindest eine Menge Aufruhr und Aufmerksamkeit zu generieren. Die Personen, die Widerstand leisten, setzen sich dabei einer Vielzahl von Schmähungen und sicher auch Repressionen aus. Und oft bleibt nur der moralische Sieg und von moralischen Siegen kann man sich wenig kaufen. Aber vielleicht bereiten derlei Aktionen zukünftige Wege aus dem Machtmissbrauch. Wege auf denen der Elefant aus dem Zimmer geschickt werden kann.

“O stelle deine Füße in mein Herz”


„Ein hölzern Würfelhaus ist meine Ruhe.
Die leiseste Besorgnis macht mein Haus schwanken,
Die leiseste Besorgnis …
Da ist der Augenblick, in dem ich alles verspielen
Oder gewinnen kann.
Und lächle ich,
gelingt mir dies nach meinem Willen.“

Eine meiner intensivsten frühen Lektüren verdanke ich einer abgenutzten Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe von Emmy Hennings Tagebuch „Das Brandmal“, nach wie vor eines der besten autobiographisch-motivierten Werke, die ich gelesen habe: haltlos, sirrend und doch geradezu furchterregend genau in seinen Beobachtungen, seinen Beschreibungen von Körperlichkeit.

Ich stieß in der Folge auch auf einige Gedichte von Hennings, meist in Anthologien zu Dada oder Liebeslyrik – es waren allerdings immer dieselben vier oder fünf Texte. Umso erfreuter war ich, als ich sah, dass im Wallstein Verlag eine kommentierte Gesamtausgabe ihrer Gedichte erscheinen würde – mit dem stattlichen Umfang von über 600 Seiten.

„In mich hineingeliebt hast du das Leben
Du hauchtest dein Gedicht in mich.“

Das lyrische Werk von Hennings hat dann aber auf knapp 380 Seiten Platz; der Rest sind umfassende Erläuterungen/Kommentare zu jedem einzelnen Text, seiner Entstehung und dem Bearbeitungsprozess, sowie den Motiven und Hintergründen – außerdem ein Nachwort der Herausgeberin Nicola Behrmann (die andere Herausgeberin ist Simone Sumpf; Mitarbeit: Louanne Burkhardt).

In diesem Nachwort heißt es an einer Stelle:

„Ihre eigene Dichtung hat Hennings zeitlebens mehr als freien Gesang und gläubiges Spiel und weniger als ein »Werk« verstanden.“

Etwa 80% von Hennings „Werk“ sind gereimte Gedichte (die man sich durchaus gut als etwas Vorgetragenes vorstellen kann). Mindestens ein Drittel dieser gereimten Gedichte muss man außerdem der religiösen Dichtung zuschlagen – davon ein Großteil Nacherzählungen von Begebenheiten des neuen Testamentes und Gedichte zu Feiertagen, außerdem zahlreiche Gedichte über und an Maria, die Mutter Gottes – eine Figur, die Hennings immer wieder umgetrieben hat.

Dieser religiös inspirierte Teil ihres Werks mag manche Leser*innen überraschen, die Hennings (falls überhaupt) vor allem als eine der ersten weiblichen Bohemiens, als Vortragskünstlerin, Verfechterin freier Liebe und Teil der Dadaistischen-Bewegung kennt (u.a. Mitbegründerin des Cabaret Voltaire), die mit Drogen experimentierte und als Person gilt, die ihrer Zeit voraus war.

„Einmal deuteten unsere Prisma-Augen den Regenbogen.
Offenbarten Gott, der über Bergeskurven ging im Abendfrieden.
Sahen die Engel in den tiefen Tälern leuchten.
Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen
Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank.“

„Du kannst den Sonnenaufgang machen.
Schaff neu mein Herz und mein Gesicht.
O, wolle es noch einmal ragen,
Dein erstes Wort: Es werde Licht!“

So wichtig all dies für ihr Leben auch gewesen sein mag und so sehr es das Bild von Hennings in der Nachwelt prägte (woran man wieder mal sieht, dass das Ikonische die Unordnung der meisten Lebensläufe wegzuwischen versteht), in ihrem lyrischen Werk hat sich wenig davon niedergeschlagen – zumindest in ihrem gereimten lyrischen Werk. Es gibt ein paar Prosagedichte aus dem Nachlass, allen voran das Fragment „Dagny“, in dem die schillernde Welt mit Dada und Drogen etwas präsenter sind.

Ansonsten ist Hennings lyrisches Werk, trotz unbestreitbarer individueller Qualitäten – von Wortschöpfungen bis zu ungewöhnlichen Dynamiken –, eher orientiert an Dichtungen wie denen von Hermann Hesse, dem sie zeitlebens eine große Bewunderung entgegenbrachte und dem sie regelmäßig Texte von sich schickte; auch Rilke meint man in dem ein oder anderen Gedichte herauszuhören.

„Wir halten uns umfangen
Und Wasserrosen rings umher.
Wir streben und wünschen und wollen nichts mehr.
Wir haben kein Verlangen.
Geliebter, etwas fehlt mir doch,
Einen Wunsch, den hab ich noch:
Die Sehnsucht nach der Sehnsucht.“

Vielleicht am besten Vergleichen lässt sich Hennings allerdings mit einer Dichterin, die zur selben Zeit wie sie in Finnland lebte (wenn auch sehr viel früher starb): Edith Södergran, die, wie Hennings, unbändige Liebesdichtungen verfasste, aber eben auch mythisch-phantastische, zum Teil religiös inspirierte.

Beide Dichterinnen verbindet vor allem der rigorose Ausdruck ihrer Sehnsüchte und ihr ambivalentes Verhältnis zu klassischen Motiven des „Weiblichen“. Södergran war hier drastischer, imaginierte auf der einen Seite Amazonenkriegerinnen und beklagte offen die Kluft zwischen der Liebe als herrlicher Vorstellung und der Realität des ausgelieferten Frauenlebens und schrieb auf der anderen Seite Gedichte, in denen sie ihrer emotionalen Bedürftigkeit schillernd und wortgewaltig, bis zur Unterwerfung, Ausdruck verlieh.

Hennings dagegen webt die Ambivalenzen umsichtiger ein, wenn sie bspw. das geläufige Motiv der Blume, die für die weibliche Unschuld (und gleichsam für Anziehung, Schönheit) steht, hinterfragt und damit gleichsam den Schönheits-/Jugendanspruch an Frauen und ihre generelle Objektifizierung:

„So ist die Rose: sie duftet und blüht.
Sie träumt von ihrer Mädchenzeit.
Warum nur tut sie mir so leid?
Sie senkt ihr Haupt, wird weich und müd.

[…]

Schon weit von mir. Ich bin geblieben.
Mein Blut ist länger als die Rosen rot.
Die Seele nur will ewig lieben,
Will überleben jeden Rosentod.“

„Wo es am innigsten blüht, blüht die Lust.
Was weinst du, weil du leben mußt?
Was singst du, weil du stirbst, mein Herz?
Wo es am innigsten blüht, blüht der Schmerz.“

Ebenso wie bei Södergran spielt bei Hennings außerdem das Gegensatzpaar Freiheit-Gefangensein eine nicht unbedeutende Rolle: die Freiheit als Dichterin, die Freiheit in der Imagination auf der einen und das Gefangensein als Frau, als Körper auf der anderen Seite – wobei dieser Konflikt in Hennings lyrischem Werk nur in einigen wenigen Texten wirklich zutage tritt und sonst eher religiös transzendiert wird.

Schon zu Lebzeiten bekannt waren jedoch ihre Gefängnisgedichte, die aber vor allem tatsächliche Gefängnisinsassen und -insassinnen zum Thema haben:

„Da draußen liegt die Welt, da rauscht das Leben.
Da dürfen Menschen gehen, wohin sie wollen.
Einmal gehörten wir doch auch zu denen,
Und jetzt sind wir vergessen und verschollen.
Nachts träumen wir Wunder auf schmalen Pritschen
Tags gehn wir einher gleich scheuen Tieren.
Wir lugen traurig durchs Eisengitter
Und haben nichts mehr zu verlieren“

Ein letztes gemeinsames Motiv von Södergran und Hennings ist das Gefühl, einsam zu sein unter den Menschen, unverstanden und fremd dem Zeitgeist, was bei beiden die Hinwendung zu größeren Ideen, spirituellen bzw. phantastischen Vorstellungen sicher begünstigt hat.

„Ich bin des Schweigens Königin,
Wenn ich dir still am Munde hange.
Was mag es sein, das ich verlange?
Du wirst mir sagen, wer ich bin.

Bin ich nur deine Lauscherin
Und du das Wunder, welches glänzt,
Das nur mein Amen leis begrenzt?
O, sag mir, wie ich einsam bin …

Drei Gedichtbände sind von Hennings zu Lebzeiten erschienen. Es ist fraglich, ob sie allein mit ihnen eine Bekanntheit hätte erreichen können, die ihren Namen bis in unsere Zeit getragen hätte. Was aber keineswegs heißt, dass ihr lyrisches Werk nicht lesenswert ist – ganz (!) im Gegenteil.

Es liegt oft eine schöne Inbrunst in ihren Versen und eine an Naivität gemahnende, aber, für mich zumindest, erfrischende und mitunter bestechende Einfachheit, der es immer wieder gelingt, Gefühle und Fragen und Ängste eindringlich vorzubringen. Nicht jede/r mag sich für ihre religiösen Dichtungen erwärmen können, aber dazwischen finden sich genug andere Texte, in denen es um Liebe, Sehnsucht, Glück, Freiheit, Hoffnung und Leid geht.

Hennings lyrisches Ich ist meist eines, das trotz aller Hemmnisse und Widerstände und Unmöglichkeiten für das Verbindende und zu Erhoffende wirbt, ja mitunter plädiert. Solche Gedichte, die (man darf und muss es ganz unironisch feststellen) vor allem zu Herzen gehen, die braucht es auch heute, vielleicht mehr denn je.

„Und jede Frucht sehn sich zu reifen,
Von Sonnenstrahlen warm berührt.
O, Seele, könntest du begreifen,
Was dich zum Blühen hat geführt!“

„O Welt, die ich suche, fühlst du nicht:
Über dir meine hungernden Augen?
Klopfte mein Herz vor deiner Tür,
Vor deinem liebeumschleierten Hause?
Wohnst du so hoch, kleine Welt?
Ich fliege dir zu.
Wohnst du so tief, kleine Welt?
Ich falle dir zu.
Wo du auch sein magst.
Einmal trete ich über deine Schwelle.
Dann bin ich bei dir und frage dich zärtlich:
Bist du die Heimat? Nimmst du mich auf?“

All dies hier, im Licht, geht mit


produkt_cover_keiperlyrik_21_lyrikreihe_hubinger_sandra_keiper_verlag.jpg itok=z05gMY11

„Lichtstrahlen wärmten uns den Rücken
schoben uns an wie warme Windhände
auf dem Weg unsere Schatten vor Augen
rhythmisch bewegt durch unser Gehen

[…]

Blieben verhaftet unseren Schatten
dem mühsamen Weg nach oben zur Kuppe
wo alle Richtungen wieder offen
wir uns drehten zur Sonne“

Fast schon programmatisch klingt der Titel von Sandra Hubingers zweitem Gedichtband: „wir gehen“. Und tatsächlich ist der Titel in Teilen auch Programm: ein nicht näher definiertes Wir bewegt sich durch Landschaften, gemeinsame Tätigkeiten, später Erinnerungen. Aber der Reihe nach.

Im ersten Kapitel sind es vorwiegend herbstliche und winterliche Umgebungen, die vollzogen werden. Lichtzustände, Farben, feinste Be- und Entzifferung von Auswüchsen, Abläufen – wie ein große Kulisse, die in die eigene Blutbahn gespült wird, zieht das Außenweltliche vorbei, zieht uns hinein in seine Gegebenheiten. Oder sind wir es, die in einem bestimmten Moment aus einer bestimmten Konstellation von Natur eine Gegebenheit machen?

„Eine Nebelhaut schwamm über dem Mischwald
unser Atem dampfte uns voraus als würden wir
gezogen von einer Lokomotive so schwarz wie
der Acker ringsum da stapften wir querfeldein“

Der Mensch kann sich als momentane Auswirkung seiner eigenen Handlungen wahrnehmen. Kann der Mensch auch die Natur als momentane Auswirkung ihrer Prozesse wahrnehmen? Oder: kann er sie überhaupt anders wahrnehmen (begreifen kann er sie durchaus als etwas anderes, aber wahrnehmen)?

Vielleicht mute ich Hubingers Gedichten zu viel zu, wenn ich diese, sehr verwinkelten Fragen über sie stülpe. Aber wenn sie auch nicht auf sie abzielen, setzen sie sich doch auf beeindruckende Weise mit ihnen auseinander – auf welche Weise unsere Wahrnehmung zur Natur durchdringt und wie die Natur unsere Wahrnehmung durchdringt.

„Schneeverwehungen in Gips gegossener Atem
Prozesse angehalten Zurechtgesponnenes mit
Seidenschlingen gebunden gefroren zu winzigen
Borsten die Behaarung junger Wolfsspinnen“

Schon im zweiten Kapitel wird diese Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Mensch-Natur noch auf andere Weise deutlich, denn jetzt wird der Naturkontakt intensiviert und gleichsam kultiviert: es geht ums Ernten, Jäten, Pflanzen. Die Erde bringt hervor und die Erde bleibt an den Fingern, unter den Nägeln, wenn man sie berührt, in ihr herumwühlt; sie nimmt auf und gibt.

Oft wird die Natur (in der Wissenschaft) als ein selbsterhaltendes (sich selbst erhaltendes) System begriffen, ein Apparat der besonderen, aber dennoch schematischen Art, in dem alles letztlich vorhersehbar ineinandergreift. Menschen glauben jedoch (in der Regel) an höhere Prozesse, eine ganze Kultur aus Vorstellungen/Hoffnungen ist entstanden, in der die höheren Möglichkeiten des Menschen zutage treten sollen. Hubingers Beobachtungen und Darstellungen erden diese Vorstellung auf eigenwillige und anschauliche Weise.

„Das Summen schwoll an als löste
sich vom Baum ein Pfropfen wir mieden
die Bestachelten in den Blüten
Flügelpaare motorisiert mit vollen Pollenhosen“

Ihre Gedichte gehen sehr nah heran an die Phänomene, schildern die Abläufe und Strukturen von Dingen und Erfahrungen, bis sich darin mitunter Konzentrationen von kaum fassbaren Einheiten und Verrückungen auftun.

Trotz des teilweise fast schon dokumentarischen Stils, gibt es immer wieder sehr starke Bilder, die umso größere Wirkung entfalten, weil man in den akribischen Darlegungen der Gedichte manchmal nicht mit ihnen rechnet.

„Die Treppe hinab schwenkten wir zwischen uns
die Büchertasche schüttelten sie dass die Wörter
von einem Buch ins andere sprangen
wie in unbekannte Häuser einstiegen“

Während im dritten Kapitel eher luftigere Töne angeschlagen werden und Vögel zu den unterschwelligen Protagonist*innen avancieren und im vierten Kapitel Strände und das Meer Einzug halten, ist das folgende Kapitel eine Besonderheit.

Die Gedichte in diesem fünften Kapitel sind inspiriert von Alan Weismans Buch „Die Welt ohne uns“, in welchem der Autor imaginiert, was passieren würde, wenn die Menschen von einer Sekunde zur nächsten von der Erde verschwinden würden, Schritt für Schritt – zunächst, was die nächsten Tage passieren würde, dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte und schließlich, was bleiben würde von unserer Zivilisation, nach tausenden von Jahren.

Diese Gedichte sind aber nicht nur besonders, weil sie von den Überlegungen des Buches inspiriert wurden, sondern auch, weil das charakteristische Wir/Uns der anderen Gedichte fehlt. Hier wird dann spätestens auch deutlich, dass der Titel „wir gehen“ auch anders gedeutet werden kann: nämlich als ein „wir verschwinden“.

Vor dem Hintergrund dieser zweiten Bedeutung bekommt auch die Auseinandersetzung mit der Natur in den vorangegangen Kapiteln eine zusätzliche Nuance: die Beobachtung ihrer Prozesse, deren Bestandteil auch wir eines Tages wieder sein werden (unfähig, die herausragende Position, die Warte der Beobachtung, zu halten), wird zur Vergegenwärtigung der Sterblichkeit, des Verschwindens trotz der Fülle, trotz aller Wahrnehmung, allen Aufnehmens.

„Unsere Bewegungen spalteten sich ab
von uns geweht über die Ebene gleich Rauch
sich tummelnde Phantome uns nachahmend
schwebten sie ins Unterholz wo es knisterte“

All dies Aufgreifen der Natur also nur ein geschickter Spiegel für die existenzielle Geworfenheit des Menschen? Natürlich nicht nur. Viel von dem, was ich hier ausgebreitet habe, kann man getrost als Metaphysik abtun, die ich für mich aus der Physis dieser Gedichte abgeleitet habe, die sich aber nicht zwingend aus ihnen ergibt. Ihre Sinnlichkeit, die weder wirklich grob noch wirklich fein ist, ihre ganz eigene, fast unbeteiligte Zärtlichkeit, ihre im „wir“ konzentrierte, aber nie ganz fassbare Teilhaftigkeit, die manchmal fast wie eine Teilnahmslosigkeit wirkt, das alles kann auch ganz für sich stehen, braucht keine Theorie zum Anlehnen.

„Als eine aus dem Takt geschlagene Partitur
erschien uns diese Natur wir notierten ihren
Pulsschlag ihre Fieberkurve den höchsten Ton eines
Singvogels das Pianissimo von rieselndem Sand“

Während im sechsten Kapitel eine fast endzeitliche Stimmung herrscht, in jedem Fall kryptischere, feingliedrige Motive dominieren, passiert im letzten siebten Kapitel ein weiterer Schwenk und entrückt das Geschehen in die Kindheit, in die Zeit der Spiele und Entdeckungen.

Diese letzte Transformation zeigt noch einmal, dass ich mir hier den Mund fusselig reden könnte und trotzdem einige Aspekte der Gedichte verfehlen würde. Diese Gedichte agieren scheinbar wenig und präsentieren doch so viel, vollziehen bloß nach und sind doch bemerkenswert vielschichtig, wenn man sich einmal anschickt, sie wirklich anzuschauen und nicht nur zu durchqueren.

„Mit dem Kompass einer Piratenkindheit
betraten wir das Hausinnere: die Nadel
schlug aus stach mehrmals in die Herzwand
als wir uns drehten um Achsen von

Erinnerungen die ächzten brachen
Himmelsrichtungen vergaßen doch zog
uns magnetisch die Wendeltreppe“

Ungefiltert: Liebeskummer und Depression


benaim_magic_tricks.png itok=69Iy8YCT

„mein erster schwarm war Benny »Düsenjet« Rodriguez. dieser junge rannte so schnell, dass er zu fuß fliegen konnte. wäre ich ein tier, dann ein kolibri. wenn ich kolibri sage, meine ich, zuweilen vergessen meine hände, wie man etwas hält, werden zu zwei teetassen in einem erdbeben. ich bin ein gerassel zersplitterter knochen. wenn ich sage: mein körper, meine ich offene eingeweide und noch einiges mehr. […] sitzt du je am ende eines bettes und lauschst der drehung der welt? ich höre dieses lied überall. wenn ich sage: dieses lied, meine ich die zeit. die zeit ist eine heilige katastrophe in gestalt geerbter zifferblätter, die nicht zu meinen handgelenken passen. das einzige instrument, das ich zu spielen weiß, ist ein muskel. ich mag meinen körper am meisten, wenn ich mich nicht sorge, wie viel platz er einnimmt.“

Es war ein einziger Auftritt, der die Kanadierin Sabrina Benaim auf einen Schlag berühmt machte. 2015 trat sie beim NPS (National Poetry Slam) auf und trug dort ihr Gedicht „explaining my depression to my mother/wie ich meiner mutter meine depression erkläre“ vor. Bis heute wurde das Video des Auftritts 9,3 Millionen Mal angeklickt.

Im Video ist eine Performerin zu sehen, die mit ihrem Gedicht zu ringen scheint und es doch mit aller Leidenschaft vorträgt; eine Intensität, eine Unbedingtheit liegt in ihrer Stimme, die bricht und dann wieder hervorbricht, hinter der man (auch wenn es eine Performance sein mag) Angst in großen Wellen anbranden hört. Es ist beeindruckend und schmerzhaft, sich diesen drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden langen Dialog anzuhören. Ein kleiner Ausschnitt:

“mom,
my depression is a shapeshifter
one day it’s as small as a firefly in the palm of a bear
the next it’s the bear
on those days I play dead until the bear leaves me alone/

mom,
meine depression ist eine gestaltwandlerin;
an einem tag ist sie so klein wie ein glühwürmchen in der tatze eines bären,
am nächsten ist sie der bär.
an solchen tagen stelle ich mich tot, bis mich der bär in ruhe lässt.

[…]

anxiety is the cousin visiting from out of town
that depression felt obligated to invite to the party.
mom, I am the party.
only I am a party I don’t want to be at./

die angst ist der cousin, der von außerhalb der stadt zu besuch kommt,
und die depression fühlt sich verpflichtet, ihn zur party mitzubringen.
mom, ich bin die party!
nur bin ich eine party, auf der ich nicht sein will.“

(auf Englisch kann man das ganze Gedicht hier nachlesen;)

2017 erschien dann „Depression & Other Magic Tricks“. Der Titel wurde bei der deutschen Ausgabe (aus mir persönlich unbegreiflichen Gründen) geändert in „Das Leben und andere Zaubertricks“. Möglicherweise wollte man das Wort Depression umgehen (wobei es ja trotzdem auf dem Cover steht, als Teil des englischen Originaltitels). Was absurd wäre, wenn man bedenkt, dass es in Benaims bekanntesten Gedicht und auch in anderen Texten in dem Band darum geht, Tabus zu überwinden, ungefiltert über Schmerz und Angst und mental health zu sprechen, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Verharmlosung, die in der deutschen Übersetzung des Titels stattfindet, untergräbt außerdem dessen Ambivalenz.

Denn natürlich ist Depression kein Zaubertrick (das Leben auch nicht). Die Übersetzung von „magic trick“ trägt hier (meiner Meinung nach) zusätzlich zur Beschönigung bei. Zaubertrick – in dem Wort steckt etwas Schelmisches, Kindliches, aber auch Virtuoses und zu wenig von der Fremd- und Selbsttäuschung, die die das Wort ausdrücken soll. In Übersetzungen wie „andere Tricks/andere (dunkle) Täuschungen“ sähe ich mehr von der ursprünglichen Ambivalenz herübergerettet.

„an den tagen, da ich aufwache
& mein name ein beschönigendes wort ist
für deprimiert oder ängstlich oder was auch immer,
trinke ich meinen kaffee, während die unbelebten gegenstände
in meiner wohnung zu mir sprechen.

[…]

was man dir nicht sagt über selbstpflege:
dass sie dir das gefühl geben kann, der coach zu sein,
der spielführer & jeder … andere … spieler.
oh, & das maskottchen.
sie kann dir das gefühl geben, vornehmlich das maskottchen zu sein.“

Benaims Gedichte haben eben auch nichts Lockerleichtes, Selbstbewährtes. Vielmehr sind sie aufwühlende und nachhaltige Auseinandersetzungen. Nicht nur mit Depressionen, sondern auch mit der Abwesenheit des Vaters, unerwiderter Liebe und (physischer) Krankheit. Es sind schonungslose Reflexionen über das eigene Befinden und den Umgang damit; über die Mechanismen, in denen man gefangen ist. Manchmal ist ihre Bildsprache wuchtig und originell, dann wieder zart und sehr gemäßigt.

Dieser Wechsel ist ein bisschen so, als würde jemanden ein furioses, heftiges Klaviersolo spielen und dann plötzlich herumklimpern, melodisch zwar, aber sehr langsam, fast ohne Dynamik, sich vorantastend. Es gibt Gedichte von Benaim, die ein fortlaufender Prosatext  (wie das Gedichtbeispiel am Anfang) und andere, die lediglich so etwas wie kleine Notizen sind. Zwischen diesen Polen, zwischen Expressivität und Vorsicht springt ihre Sprache hin und her, mal nur ein Funke, mal ein unter Hochspannung gesetzter, leuchtender Kreislauf.

„ich befinde mich im lebensmittelgeschäft, weil ich traurig bin. ich
bin traurig, weil niemand in mich verliebt ist. niemand ist in mich ver-
liebt, aber jeder liebt mich. jeder liebt mich, weil ich gut darin bin, men-
schen ein gutes gefühl zu geben. ich bin gut darin menschen ein gutes
gefühl zu geben, weil ich häufig an mir selbst gearbeitet habe. ich arbei-
te an mir selbst, weil ich häufig traurig bin. ich bin häufig traurig, aber
wenn ich menschen ein gutes gefühl gebe, fühle auch ich mich für eine
kleine weile gut. ich fühle mich für eine kleine weile gut, bis ich einsam
werde.“

Ich würde Sabrina Benaim zu einer Gruppe von Dichterinnen und Performerinnen zählen, die in den letzten Jahren durch Texte und Auftritte gleichermaßen auf sich aufmerksam gemacht haben (wie etwa auch Koleka Putuma, von der 2019 ein starker Band bei Wunderhorn erschien, oder auch Kate Tempest, deren Bücher regelmäßig im Suhrkamp Verlag erscheinen). Bei allen drei genannten Beispielen haben die Texte einen starken politischen Aspekt, setzen sich mit Homophobie, Rassismus (Putuma), Kapitalismus, Entfremdung (Tempest) und mental health (Benaim) auseinander.

Vermutlich (hoffentlich) wird man einmal auf diese Gruppe von jungen Frauen zurückblicken und erkennen, dass sie wichtige Impulse für die Diskussionen der Gegenwart geliefert und geholfen haben, bestimmte Themen in die Gesellschaft hineinzutragen. Gleichwohl will ich Benaims Lyrik nicht nur auf den Aspekt der mental health-Thematisierung reduziert sehen. Ihr erster Gedichtband enthält letztlich Gedichte über all die Ängste und Hürden eines jungen Lebens: Selbstfindung, Zurückweisungen, Angst vor der Zukunft, Struggle mit der Kindheit, dem Aufwachsen, Perspektivlosigkeit, erste Verluste, erste Rückschläge. Ihre Texte sind nicht lebensklug, aber die vielen Konfrontationen darin machen aus ihnen so etwas wie einen Überlebens-Bericht, ein Soforthilfe Kit für die Verletzungen, die das Leben als (junger) Mensch mit sich bringt. Insofern ist die Übersetzung des Titels vielleicht doch gerechtfertigt (aber selbst dann wäre damit immer noch mehr verloren als gewonnen).

„um zu vergessen,
vergräbt sich das
artischockenherz in blättern,
hin zur quelle des wahren hungers,
um satt auszusehen,
um üppig zu erscheinen

*

meine großmutter sagt,
herzschmerz sei
eine hugrige raupe,
die gefüttert werden muss,
damit sie flügel ausbilden
& fortfliegen kann“

[…]

in meinem zentrum hängt eine kleine glocke,
ich weiß sie nicht zu läuten,
aber ich habe sie läuten hören.
ich kann nicht aufhören, daran zu denken,
wann sie das nächste mal läuten wird.“

Feminismus, eine transformative Kraft


61nVLs6QVPL

„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.“ (Margaret Mead)

Dieses Buch ist, so kann man direkt vorwegsagen, eine großartige Verbindung aus Text und Bilddokumentation. Dadurch bekommt man bei der Lektüre fast das Gefühl, die widrige und besondere Geschichte des Feminismus als weltweiter Emanzipations- und, letztlich wohl auch, Kulturbewegung, nicht nur nachzuvollziehen, sondern noch einmal mitzuerleben.

Anhand verschiedener Aspekte (Wahlrecht, Selbstbestimmung in pucto Körper, Arbeit und Beziehung, die männliche Perspektive als Norm und zuletzt übergreifende Gleichheit, jenseits von sexueller Orientierung, Hautfarbe und Klasse) in eigenständigen Kapiteln wird von der feministischen Bewegung und alle ihren Meilensteine und Persönlichkeiten erzählt.

Die Autor*innen legen dabei im Fließtext einen besonderen Fokus auf den Prozess, also die kontinuierliche Entwicklung, während die vielen eingefügten Grafiken mit den dazugehörigen Untertexten sich oft auf einzelne Ereignisse und Personen konzentrieren, symptomatische Schicksale beschreiben oder auf andere Art und Weise etwas hervorheben.

Was eh schon klar sein sollte, in diesem Buch aber noch einmal klar wird: Der Feminismus hat begonnen als Emanzipationsbewegung der Frauen, ist aber zu einer der wichtigsten Bewegungen für die Emanzipation des Menschen an sich geworden. Wer glaubt, bei Feminismus ginge es nur um den Wunsch von Frauen nach mehr Mitbestimmung, der irrt. Das war der Ausgangspunkt.

Mittlerweile ist der Feminismus eine transformative Kraft, die die Gleichheit aller Menschen anstrebt und für ein faires Miteinander sorgen will, das letztlich allen Geschlechtern zugutekommen würde.