Category Archives: Politische-/Sachliteratur

Zu “Wir haben” (k)eine Wahl” von Franziska Heinisch


9783896677112

Manifeste haben Hochkonjunktur – wie immer in Zeiten der Krise. Und in einer solchen befinden wir uns, auch wenn es die meisten in Westeuropa nicht wahrhaben wollen. Oder: nicht können, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, sich über kommende, drohende, mögliche Krisen zu streiten. Dabei sind wir längst mitten drin.

Als Teil der letzten Generation, die noch ein bisschen im “Alles wird immer besser”-Zeitalter aufgewachsen ist, aber in den heutigen Zeiten der Aussichtslosigkeit sozialisiert und vor allem politisiert wurde, bin ich prädestiniert fürs Aufgeben. Die schlimmsten Verwerfungen des Klimawandels und der entsolidarisierten Gesellschaften werden mich eher nicht mehr betreffen, zumindest erst im hohen Alter; darüber hinaus habe ich eben noch die illusorischen Vorstellungen von der Welt kennengelernt, die für die älteren Generationen prägend waren und kann sogar verstehen, warum sie an diesen Illusionen festhalten wollen.

Es gibt also keine unmittelbaren Gründe zu handeln und ein geringer Glaube an ein Umdenken bei den älteren Generationen, deren Einischt aber gebraucht wird, um wirklich eine Wende in vielen Bereichen voranzutreiben. Zum Glück gibt es aber Bücher wie dieses, die eben nicht nur mit Fakten in die Debatte eingreifen, sondern sie gleichsam auch, anhand dieser Fakten, emotionalisieren.

In einigen Besprechungen zu diesem Buch wurde der Vorwurf laut, das Buch sei eine Art Abrechnung ohne Lösungsansatz. Dem kann ich nicht zustimmen. Ja, ich würde sogar behaupten, das ist eine fahrlässige oder von absichtlicher Ignoranz geprägte Unterstellung. Was all diesen Rezesent*innen wohl sauer aufgestoßen ist: dass die Autorin sich eindeutig links positioniert und keinen Hehl aus ihren mit dem Thema verbundenen Emotionen macht. Daraus wird ihr dann ein Strick gedreht, aber warum eigentlich?

So lange man die Fakten auf seiner Seite hat, ist Emotionalität kein Handikap. Ich verstehe auch nicht, warum man immer ruhig bleiben sollte, wenn man es mit Dummheit und Ignoranz zu tun hat, die bei all den Themen, die Heinisch behandelt, nicht gerade rare Ware sind. Warum sollen gerade die Dummen und Ignoranten die lautesten sein – wir brauchen kluge, junge Stimmen, die auch laut sind, solange sie wie Heinisch einen wertvollen und konstruktiven Beitrag zur Debatte leisten und die pessimistisch-zynische Kultur in intellektuellen Kreisen ordentlich aufmischen.

Eine Machtstudie, auch im 21. Jhd. noch immer aktuell


Der Tyran

Der Tyrann, das ist eine sehr klassische Figur, zu finden vor allem in Geschichten über die Antike – das letzte Mal, dass jemand einen modernen Herrscher im großen Stil einen “Tyrannen” nannte, war wohl 1865, als John Wilkes Booth Abraham Lincoln ermordete und im Anschluss die lateinische Wendung “Sic semper tyrannis” (“so ergeht es den Tyrannen”, angeblich von Brutus zu Caesars Ermordung geprägt) ausrief. 

Heute sprechen wir von Autokraten, Diktatoren, Alleinherrschern, etc. – der Tyrann ist eher zum Sinnbild häuslicher Herrschaft und Unterdrückung geworden, ein Synonym für Patriarch (wobei ein Diktator oft auch ein Patriarch ist). Das Wort scheint nicht mehr genug Kraft zu besitzen, um den modernen Formen von Allmachtsphantasien im Zeitalter von Überwachungsstaaten, Massenvernichtungswaffen, etc. gerecht zu werden.

Doch Stephen Greenblatt brachte den Tyrann (inspiriert, wie er im Nachwort schildert, durch die Wahl Donald Trumps) wieder aufs Tapet und zwar anhand der Tyrannendarstellungen des nicht ganz unbekannten Dichters und Dramatikers William Shakespeare. Angereichert mit vielen Passagen aus seinen Stücken erstellt Greenblatt ein Psychogramm des Durchschnittstyrannen, seiner Strategien und Wünsche, seiner Unzulänglichkeiten und Fehler.

Er beginnt mit Shakespeares frühem Stück-Zyklus, der sogenannten York-Tetralogie mit “Heinrich VI.” (in drei Teilen) und “Richard III.”, in welcher der Dramatiker den Aufstieg des Tyrannen Richard Plantagenet vor dem Hintergrund der Rosenkriege beschreibt. Das Motiv des unansehnlichen Richard, der Grund warum er nach Macht strebt und dabei vor nichts zurückschreckt, ist (so stellt Shakespeare es dar) seine mangelnde Selbstliebe, die er durch äußere Erfolge und Macht zu kompensieren versucht. Er glaubt nicht, dass Nähe oder Zuneigung anderer für ihn vorgesehen sind, also lebt er ohne sie und genießt stattdessen kleinere und größere Grausamkeiten. Dies führt natürlich dazu, dass er am Ende zwar ganz oben, aber auch ganz allein dasteht.

Von diesem Tyrannen mit Minderwertigkeitskomplex geht es dann zum Tyrannen wider Willen. MacBeth strebt nicht aus sich heraus nach der Krone, vielmehr sind es eine Kombination aus Gelegenheit, den Einflüsterungen seiner Frau, sowie die Prophezeiung dreier Hexen (er werde eines Tages über Schottland herrschen), die ihn zum Königsmörder und Ursupator machen. Kaum auf dem Thron ist sein einziger Wunsch, irgendwie die innere Sicherheit wiederzugewinnen, die ihm durch das Handeln gegen seine Ideale und Bedenken abhandengekommen ist. Er versucht diese innere Sicherheit durch äußere Sicherheit zu erreichen, also indem er seine Macht absichert. Dabei muss er aber immer weiter Grenzen überschreiten und Brücken abbrechen, bis er schließlich nur noch instinktiv und paranoid handelt, dem Wahnsinn verfällt.

Schließlich ist da König Lear, der alte weiße Mann-Tyrann. Er ist es gewohnt, dass man alles für recht hält und umsetzt, das er befiehlt. Die Meinungen anderer sind ihm egal und auch in seiner Senilität und offenbaren Unfähigkeit wird er von nur wenigen seiner Berater wirklich offen kritisiert. Sie tragen seine fatalen Entscheidungen mit, obwohl sie das Reich zugrunde richten.

Greenblatt beschäftigt sich auch noch mit den Dramen “Julius Caesar”, “Das Wintermärchen” und “Coriolanus”, aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen. Es gelingt ihm auf jeden Fall, ein sehr umfassendes Portrait der verschiedenen Tyrannenausführungen von Shakespeare herauszuarbeiten. Aus diesen verschiedenen Ansätzen und Ausführungen extrahiert er dann die Kernmerkmale tyrannischer Herrschaft: wie sie überhaupt eintreten kann, warum sie gestützt und befördert wird (oft aufgrund von Eigeninteressen, bei denen die Interessenten die Dimensionen des Tyrannencharakters unterschätzen) und warum sie so fatal ist (letzteres ist vielleicht offensichtlich, die ersten beiden Punkte aber eigentlich auch).

Vieles davon hat Hand und Fuß, vieles lässt sich leicht auch auf Personen und Situationen der heutigen Zeit übertragen. Greenblatt zeigt, dass Shakespeare ein Meister der Typisierung war, der oft die Gefahren seiner eigenen Zeit durch Schilderungen weit zurückliegender Ereignisse umreißen wollte – und dabei Figuren und Plots schuf, die sogar noch die Gefahren und Charaktere unserer Zeit ganz gut abbilden, nicht in jeder Facette, aber von der Idee her.

Insofern ist das Buch tatsächlich eine gelungene Machtstudie für das 21. Jahrhundert, auch wenn es auf 400 Jahre alten Stücken beruht. Wer von Shakespeare (und Greenblatt) begeistert oder einfach nur in mancher Hinsicht belehrt werden will, der sollte das Buch auf jeden Fall lesen.

 

 

Kritik der Begriffskraft in Klimadiskursen


Klima, Sprache, Moral

„Um von den Fakten zu konkreten Handlungszielen zu gelangen, bedarf es eines großen Schrittes. Über diesen Schritt wird verhältnismäßig wenig gesprochen – und zu diesem Schritt hat die Philosophie einiges zu sagen.“

Dass der Klimawandel zu den großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört, ist zwar nicht unbestritten, aber mehr als ausreichend beglaubigt. An diesem Faktum will auch Johannes Müller-Salo nicht rütteln, wenn er in seinem Buch „Klima, Sprache und Moral“ einige Fallstricke und Problematiken in den heutigen Klima-Diskursen aufzeigt.

Ihm geht es nicht darum, die Bewegungen für den Klimaschutz in Verruf zu bringen – aber er will deutlich machen, dass dieses Thema ein Schlachtfeld ist, auf dem es vor allem auf eine Waffe ankommt: die Sprache. Narrative und Begriffe vermögen es, Menschen zu überzeugen und zu motivieren. Fakten und Zahlen sind schön und gut und wichtig, aber ohne eine Erzählung, ohne die richtige Sprache, ziehen nicht genug Menschen mit.

Und so fühlt Müller-Salo der Sprache der Klimadiskurse, mit ihren Leitgedanken und zentralen Aussagen, auf den Zahn, analysiert Begriffe wie Klimanotstand, Zukunftsraub und Natur, auf sprachlicher und auf moralischer Ebene. Sein Fazit lautet, in vielerlei Hinsicht: so gut gemeint viele Schlagworte & Wendungen auch erscheinen, wie oft sie auch ins Feld geführt werden, wie sehr sie Dinge auf den Punkt zu bringen scheinen (als Beispiel: „Wir haben die Erde nicht von unseren Vorfahren geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“), philosophisch gesehen sind sie alles andere als wasserdicht, voller sprachlicher und moralischer Untiefen, Fragwürdigkeiten.

Natürlich ist der Klimawandel nicht die erste Krise, bei der mehr mit Emotionen als mit Konkretionen, mehr mit großspurigen Ansagen als mit filigranen Überlegungen gearbeitet wird. Müller-Salo pocht auf die Philosophie, sieht sie (und beruft sich dabei auf Wittgenstein) „als Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“. Das kann sie ohne Zweifel sein und seine Darlegungen sind in dieser Hinsicht hilfreich, geben zu denken.

Die Frage ist, ob eine solche philosophische Kritik in irgendeiner Form Chance auf Gehör hat, in einer Welt, deren mediale Öffentlichkeit von schnelllebigen Sprüchen, liebgewonnenen Vorstellungen und komplexen Abhängigkeiten bestimmt wird. Oder vielleicht ist das nicht die Frage. Eher: Wie gelangt man von den Fakten, die unbestreitbar sind, zu Zielen, die überzeugen und gut umzusetzen sind? Hier hat die Philosophie einiges anzumerken, allerdings, in diesem Buch, mehr über das „so nicht“ als über das „so“.

Zu “Der Dreißigjährige Krieg” von Ricarda Huch


Der Dreißigjährige Krieg Egal ob man es einen historischen Roman nennt oder ein anschauliches Geschichtsbuch, beides wird Ricarda Huchs Werk „Der Dreißigjähre Krieg“ nicht ganz gerecht. Es ist das fast schon intime und gleichzeitig monumentale Portrait einer Epoche und ihrer Akteure, ein lebendiges Panorama, ein Glanzstück der historischen Erzählung mit allen dramatischen Kniffen und aller wissenschaftlichen Akkuratesse.

Ursprünglich erschien das Buch in drei Bänden vor dem ersten Weltkrieg unter dem Titel „Der große Krieg in Deutschland“. Grundlage für die Anaconda-Ausgabe ist jedoch die gekürzte zweibände Ausgabe, die nach 1929 einige Auflagen bei Insel erlebte und in dieser einbändig-kompakten Form über 1000 Seiten (mit angenehmer Schriftgröße) fasst.

Zwar sind seit dem Erscheinen des Buches einige andere bedeutende Werke zum Dreißigjährigen Krieg verfasst worden, u.a. gerühmte historische Werke von Georg Schmidt und Peter Wilson (und auch der erste Band von Heinz Dieter Kittsteiners großem Geschichtsprojekt zu Deutschland behandelt diese Zeit und die Folgen), auch in Philip Bloms „Die Welt aus den Angeln“ spielt der Krieg eine Rolle und Daniel Kehlmann hat mit Tyll einen sehr unterhaltsamen, klugen Roman dazu verfasst.

Wer aber beides haben will, die Spannung des Romans und trotzdem die übergreifende historische Perspektive, den lebendigen Einblick in das Wirken und Handeln der Zeit, der sollte nach wie vor zu Huchs Werk greifen. Es ist fesselnd, unterhaltsam und bringt einem die Epoche, ihren Geist und ihren Charakter, wirklich näher.

Zu “Die 200 häufigsten Fragen an Ärzte” von Dr. Christian Jessen


Die 200 häufigsten Fragen Dr. Christian Jessen hat eine bemerkenswerte Karriere vorzuweisen. Er praktiziert nicht nur als Arzt und gilt als Kapazität auf den Gebieten Malaria und Aids, sondern ist auch als Fernsehmoderator und Schauspieler in verschiedenen Serienformaten aufgetreten. Gleichwohl hat seine Biographie auch einige Schönheitsfehler (so unterstützte er die Kandidatur von Boris Johnson bei den Wahlen für den Vorsitz der konservativen Partei Großbritanniens und hat sich in der Corona-Krise mit seinen durchaus rassistischen Aussagen über Italiener*innen nicht mit Ruhm bekleckert, außerdem gab es einige weitere Kontroversen, über die man sich auf seiner englischen Wikipedia-Seite nachlesen).

Jedoch rechtfertigt keine dieser Kontroversen einen nachdrücklichen Zweifel an seiner medizinischen Kompetenz. Und auch wenn in Zeiten des Internets enzyklopädische Werke mehr und mehr an Bedeutung verlieren, so ist „Die 200 häufigsten Fragen an Ärzte“ dennoch als Schmöker und kleine Auffrischung des Allgemeinwissen durchaus zu empfehlen, zumal es weder zu fachlich noch auf irgendeine Weise zu klinisch daherkommt.

Der Inhalt ist unterteil in verschiedene Kapitel, in denen einige Fragen zu Symptomen und generellen körperlichen Defiziten (oder als solchen empfundenen) beantwortet und auch klassischen Allgemeinplätzen auf den Zahn gefühlt wird. Beispiele aus letzter Kategorie: Fallen beim Niesen die Augen heraus, wenn wir sie nicht schließen? Schadet es den Augen bei schlechtem Licht zu lesen? Warum verlernen wir das Fahrradfahren nicht? Gibt es tatsächlich Möglichkeiten seinen Penis zu verlängern/vergrößern? Ist der Schlaf vor Mitternacht tatsächlich besser? Was ist eine weibliche Ejakulation?

Wer also beim nächsten Mal mit Wissen punkten oder allgemein ein paar Allgemeinplatzriffs demnächst bewusster umschiffen will, der macht mit diesem Buch nichts falsch; zusätzlich aufgelockert wird die ansonsten meist sehr problemorientierte Lektüre noch durch einige Top 10-Listen, darunter: „Die überflüssigsten Körperteile“, „Die berühmtesten konservierten Körperteile“ oder auch „Die besten Nahrungsmittel“. Sicherlich sind Jessens Ratschläge und Einschätzungen nicht in jeder Hinsicht maßgeblich oder erschöpfen ihre Themen, aber er hat eine gesetzte und geduldige Art, die meist ein Vertrauen in seine Sicht auf die Probleme bewirkt.

 

Zu “Periode ist politisch” von Franka Frei


Periode ist politisch „Weltweit menstruieren rund 300 bis 800 Millionen Menschen. Alleine in diesem Moment. Sie tun dies heimlich, oft mit Selbstzweifeln und Angst, und zu großen Teilen ohne wirklich zu wissen, was dies genau bedeutet, weil sie gelernt haben, sich dafür zu schämen. […] Viele gehen nicht in die Arbeit oder Schule, was Auswirkungen auf ihr Leben und das ihrer Mitmenschen hat. Sie haben Schmerzen, die sie womöglich mit Pillen abstellen, ohne zu wissen, was diese eigentlich mit ihrem Körper machen. […] Am Ende geht es weniger um Bluten oder Nichtbluten als um die globale geschlechterspezifische Ungleichheit, die sich auch im Thema Periode spiegelt. Das ganze klingt kompliziert, und das ist es auch. Doch dieses Buch soll nicht als weiteres unverständliches wissenschaftliches oder langweiliges Kauderwelsch vergessen werden. Es soll Teil einer Bewegung sein, die Veränderung bewirkt. Und es soll unterhalten.“

Menstruation – ein ziemlich unterrepräsentiertes Thema, sei es im medialen Tagesgeschäft, in Filmen, Romanen oder in Gesprächen. Jahrhundertelang als eine „Frauensache“ abgestempelt (was hunderte von Philosophen, Autoren, Ärzten und sonstigen Männern nicht davon abhielt, obskure und in vielerlei Hinsicht misogyne Abhandlungen darüber zu verfassen, von Aristoteles bis Paracelsus and so on), ist es auch heute noch ein Themenkomplex, der mehr von Mythen, Ressentiments und Schweigen als von Fakten und Verständnis geprägt ist.

Mit diesem Missstand will das Buch von Franka Frei gründlich aufräumen. Die Menstruationsaktivistin geht dabei, wie versprochen, unterhaltsam und ungezwungen vor, ohne allerdings zu verhehlen, wie ernst die Lage in vielen Bereichen rund um das Thema immer noch ist. Ein großer Teil der jungen Frauen auf der Welt ist bei Auftreten ihrer ersten Periode noch immer nicht ausreichend informiert (und wird es auch oft danach nicht) und nach wie vor ist die Menstruation für viele Frauen mit Scham verbunden. Hinzu kommen auch große ökonomische und ökologische Faktoren.

„Die Kosten, die für Frauen* durch bis zu insgesamt 500 Monatszyklen im Leben anfallen, liegen im vierstelligen Bereich. (Berechnungen der Seite bloodyluxurytax.de zufolge beläuft sich der Durchschnittswert sogar auf 8600 €) […] Btw an alle, die es noch nicht wussten: Die Menstruationstasse kostet einmalig zwischen 10 und 30 €, hält über viele Jahre und spart Tausende Tonnen Müll von nur geringfügig ökologisch abbaubaren Produkten wie Tampons und Binden.“

Der ökonomische Faktor war erst kürzlich in Deutschland wieder Thema, als der Bundestag die Abschaffung des Luxusmehrwertsteuersatzes auf Menstruationsartikel beschloss (also eine Senkung von 19% auf 7%). Leider scheint es so, als würden die Herstellerfirmen diese Errungenschaft durch einen Preiserhöhung nivellieren (und die Differenz als Gewinn einstreichen) wollen, wogegen einige Händler wie dm oder Kaufland erfreulicherweise bereits protestiert haben, da sie diese Erhöhung nicht nachvollziehen können und deshalb auch nicht akzeptieren wollen. In anderen Teilen der Welt ist der ökonomische Faktor noch heftiger, denn hier kann man manchmal sogar von „Periodenarmut“ sprechen, wenn einkommensschwache Familien einen nicht geringen Teil des Geldes für Menstruationsprodukte aufwenden müssen.

Die ökologischen Probleme liegen teilweise auf der Hand, aber auch hier ist es wichtig, sich einmal mit der Wucht der Zahlen zu konfrontieren. Außerdem gibt es Faktoren, die, so glaube ich, noch eher unbekannt sind – bspw. das viele Zusatzstoffe in Binden und Tampons gesundheitliche Folgen haben können oder was es mit der Periode während der Einnahme der Pille auf sich hat.

Frei beschreibt sowohl die Lage in einzelnen Ländern (in Nordafrika, Indien und anderen, in die sie reist und wo sie vor Ort mit Aktivist*innen spricht und arbeitet) als auch übergreifende Zusammenhänge und Probleme. Manchmal hat man den Eindruck, dass sie in manchen Kapiteln etwas zu viel unter einen Hut zu bringen versucht, aber da sie meist sehr direkt und handfest zu Werke geht, sind selbst diese Kapitel in ihrer dynamischen Art informativ und anregend (zumal Frei nie den Fehler macht, ihre eigene Warte nicht zu hinterfragen).

Für Unterhaltung sorgen – neben jede Menge klugen Vergleichen und dem Vorsatz, kein Blatt vor dem Mund zu nehmen – Negativ-Preise (an die schon erwähnten Aristoteles & Co und jeden, der mal zur Menstruation etwas Obskures hingekleckst hat) und ein cooles Kapitel, in dem die Absurdität der Vergleiche von Menstruationsblut mit Sperma, Rotz oder Scheiße herausgearbeitet wird.

Ich kann dieses Buch nur jedem/r empfehlen. Nicht nur, aber gerade Männer sollten es lesen. Die Periode ist eine gesunde körperliche Funktion und sollte als solche wahrgenommen werden, in jeglichen Zusammenhängen. Zugleich können Periodenschmerzen so stark sein wie ein Herzinfarkt, also ist auf der anderen Seite auch Verständnis wichtig. Das Tabu die Verteufelung der Menstruation ziehen einen riesigen Rattenschwanz an Folgeschäden nach sich, die man in Franka Freis Buch begutachten kann. Nein: sollte.

 

Zu “Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez


Unsichtbare Frauen

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke. Beginnend mit der Theorie vom Mann als Jäger räumten die Chronisten der Vergangenheit der Frau in der Entwicklung der Menschheit weder in kultureller noch in biologischer Hinsicht viel Platz ein. Stattdessen galten männliche Lebensläufe als repräsentativ für alle Menschen. […] Doch das Problem ist nicht nur, dass etwas verschwiegen wird. Die Leerstellen und das Schweigen haben ganz alltägliche Folgen für das Leben von Frauen. […] Die von Männern nicht berücksichtigten frauenspezifischen Faktoren betreffen die verschiedensten Bereiche. Dieses Buch wird jedoch zeigen, dass drei Themen wieder und wieder auftauchen: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte Care-Arbeit und Gewalt von Männern gegen Frauen.

Wenn es um die Sicherheit bei Autounfällen geht, werden die dazugehörigen Vorrichtungen abgestimmt auf Körpertypen, die auf männlichen Modellen beruhen; ebenso ist es bei verschiedenen besonderen Kleidungsstücken wie etwa schusssicheren Westen. Regale werden so konstruiert, dass ein durchschnittlicher männlicher Körper das oberste Brett erreichen kann. Räumdienste in Städten räumen priorisiert die Straßen frei, statt die Fußgänger- und Fahrradwege, die sehr viel öfter von Frauen frequentiert werden.

Dies sind nur einige anschauliche Beispiele, fast noch harmlos. Zu ihnen gesellen sich die großen Ungleichheiten bei der Bezahlung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf männliche und weibliche Körper in der Öffentlichkeit und, auf einer abstrakten Ebene, das generelle Fehlen eines weiblichen Faktors in den Erhebungen von Daten zu jeglichem Thema. Dabei wird nicht nur die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen systematisch unterschlagen, sondern elementare und nachweislich feststellbare Bedürfnisse von Frauen bleiben unberücksichtigt. So kommt es zu der Welt in der wir leben – einer Welt, die für Frauen ein wesentlich problematischerer und unzureichend eingerichteter Ort ist als für Männer. Und auch das allgemeine Narrative dieser Welt, mit allen darin zusammengeführten Geschichten von Erfolg, Glück, etc. ist meist männlich.

Die Folge dieser zutiefst männlich dominierten Kultur ist, dass männliche Erfahrungen und Perspektiven als universell angesehen werden, während weibliche Erfahrungen – also die Erfahrungen der Hälfte der Weltbevölkerung – als, nun ja, Randerscheinung wahrgenommen werden. […] Deshalb auch ergab 2015 eine Studie über Wikipedia-Einträge in mehreren Sprachen, dass Artikel über Frauen Wörter wie »Frau«, »weiblich« oder »Dame« enthalten, während Artikel über Männer nicht »Mann«, »männlich« oder »Herr« umfassen (weil das männliche Geschlecht stets unausgesprochen unterstellt wird).

Gerade was die Entwicklungsgeschichte der Menschheit betrifft, haben wir meist die männliche Geschichte und die Errungenschaften für die Männer vor Augen – Frauen haben von der Athener Demokratie ebenso wenig profitiert wie von Renaissance und Aufklärung, trotzdem werden sie als übergreifende Errungenschaften gefeiert (die emanzipatorischen Bewegungen gelten dagegen dezidiert als Errungenschaften nur für Frauen). Diese aufs Männliche fixierte Weltsicht wird, wie Criado-Perez sehr umfassend darlegt, für universell gehalten, während eine weibliche Perspektive meist als ideologisch (!) aufgeladen gilt und mit diesem Argumente auch oft beiseitegeschoben wird.

»Unsichtbare Frauen« erzählt, was geschieht, wenn wir die Hälfte der Menschheit einfach vergessen. Es zeigt, wie die geschlechtsbezogene Datenlücke Frauen im Lauf eines mehr oder weniger normalen Lebens schadet – hinsichtlich der Stadtplanung, der Politik oder der Arbeitsplätze.

Es ist in der Tat ein Mammutwerk, das die Autorin hier vorgelegt hat, und das mit jeder vorgebrachten Statistik, mit jedem neuen Themengebiet, auf das Criado-Perez zu sprechen kommt, fundamentaler wird. Man kann es, so behaupte ich, nicht ohne teilweises Entsetzen und Erschrecken lesen. Dass die Macht- und Bezahlstrukturen in unseren Gesellschaften ungerecht sind, ist bereits in einer breiteren Öffentlichkeit angekommen. Dieses Buch aber zeigt, wie tief die Wurzeln, Vorstellungen und Mechaniken, die diese Strukturen stützen und von ihnen hervorgebracht wurden, in alle Winkel des Alltags reichen. Von den einfachsten Wahrheiten bis zu den komplexesten Diskriminierungen ist dabei alles enthalten – viele Geschichten über die repräsentative Abwesenheit von Frauen in allen (für sie) wichtigen Bereichen.

Jede/r sollte zumindest einen Blick in dieses Buch werfen. Vor allem Männer und besonders die, die glauben, sie lebten nicht in einer sexistischen Welt und hätten einen objektiven Blick auf die Dinge (oder ein objektiver Blick würde ihnen täglich präsentiert).

Studien haben gezeigt, dass die Überzeugung, man selbst sei objektiv oder nicht sexistisch, zu weniger Objektivität und mehr sexistischem Verhalten führt.

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Flucht, ein Teil der Menschheitsgeschichte


Wussten Sie, dass Thilo Sarrazins Vorfahren Hugenotten waren, die aus dem katholischen Frankreich fliehen mussten? Nun, diesen speziellen Fakt werden Sie nicht aus diesem Buch erfahren, aber er steht sinnbildlich für eine Wahrheit, die niemand leugnen kann und die in Andreas Kosserts Buch vor uns ausgebreitet wird: Flucht, das ist nicht ein Thema unserer Zeit, es war und ist ein Thema aller Zeiten und Teil der Menschheitsgeschichte.

Tatsächlich ist ja schon die Ausbreitung der Spezies Mensch über den gesamten Erdball kaum anders zu erklären. Wohl spielte auch Neugier bei diesen Wanderbewegungen eine gewisse Rolle, aber meist waren es bestimmt andere Gründe, die Menschen dazu brachten, in andere Region zu ziehen: Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen oder einfach Platz- und Ressourcenmangel. Selbst in ein paar der ältesten schriftlichen Zeugnisse ist Flucht ein großes Thema, bspw. in der Bibel.

Nachdem Kossert derlei am Anfang seines Buches ausgeführt hat, geht es dann in einem Großteil des Buches um das Thema HeimatAmbivalenzen eines Gefühls, unterteilt in die Kapitel Weggehen, Ankommen, Weiterleben, Erinnern und Wann ist man angekommen?. Hier zeigt er im Spiegel verschiedenster Fluchterfahrungen wie fragil und gleichsam zwingend der Begriff Heimat ist und warum wohl kaum ein Mensch vollkommen freiwillig diesen Ort verlassen wird.

Alles in allem ist das Buch eine starke, zwar neutral vorgetragene, aber mit genug Implikationen versehene Studie, die sehr oft emotional zu berühren weiß. Kossert ist hier Großes geglückt! Eine wichtige Botschaft seines Werkes ist: Geflüchtete Personen kamen immer ungelegen, aber da jede*r von einem Tag auf den anderen zur Flucht gezwungen sein kann, sollten wir viel mehr Verständnis an den Tag legen.