Category Archives: Sonstige Literatur (Erzählungen etc.)

Zu “Dinosaurier auf anderen Planeten” von Danielle McLaughlin


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Wenn einige Rezensent*innen diese Debütautorin mit den unnachahmlichen Alice Munro und dem berühmten William Trevor vergleichen, sind die Erwartungen zwangsläufig hoch. Ich glaube nicht, dass Danielle McLaughlin diesen Standard ganz erfüllt, dennoch handelt es sich bei “Dinosaurier auf anderen Planeten” um eine vielversprechende Sammlung von Geschichten, die im Laufe der Zeit an Schwung gewinnt.

Wollte man die Geschichten in etwa auf einen Nenner bringen, könnte man sagen, dass diese meist eher leisetretende Sammlung vor allem vom vereinzelten Individuum erzählt, ihren sich entwickelnden Platz in einem oft ungewissen, immer geheimnisvollen Universum beschreibt. Wie einst bei Raymond Carver ist die titelgebende Geschichte die letzte und enthält folgende Beschreibung (es geht in der Geschichte um einen kleinen Jungen, der glaubt, einen Dinosaurierschädel entdeckt zu haben): “Es gab Sterne, Millionen von ihnen, die vertrauten Konstellationen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie waren weißglühende Wolken aus Staub und Gas, und wenn man ihnen zu nahe kam, konnte das Licht einen blenden.”

Tiere kommen in Dinosaurier auf anderen Planeten nicht gut weg, ebenso wenig wie in vielen Fällen Eltern-Kind-Beziehungen oder Beziehungen zwischen Liebenden. Eine besonders beunruhigende Geschichte, “Eine andere Gegend”, handelt von einer unbedarften, naiven Frau namens Sarah, die mit ihrem neuen Freund Jonathan zum Haus seines Bruders Aidan und dessen hochschwangerer Freundin Pauline reist. Während die Wehen bei Pauline einsetzen, wird Sarahs Unschuld erschüttert, als sie von den beunruhigenden und geheimnisvollen Aktivitäten der Brüder erfährt.

Ein andere Geschichte handelt von einer gestressten Ehefrau, deren arbeitsloser Ehemann mit ihrem psychotischen kleinen Sohn zu Hause bleibt. Die Spannung steigt, während wir die Besessenheit des Sohnes von toten Enten miterleben und ein Wanderprediger, der wie Angelina Jolie aussieht, auftaucht, ebenso wie ein verdorbener Mann, der der Grund für das Unglück sein könnte.

Mit psychologischem Scharfsinn gestaltet Danielle McLaughlin ihre Geschichten, die gegen Ende – größtenteils – Auflösung, Entfremdung und in einigen Fällen Erlösung mit sich bringen.

Widerständiges


Gestern, am ersten November 2021, wäre Ilse Aichinger 100 Jahre alt geworden. Es gibt wohl nur wenige moderne Schriftstellerinnen, denen trotz eines so schmalen Werkes eine so große Verehrung zuteil geworden ist ihr. Sie gilt als Meisterin der kurzen Prosa, ist so etwas wie eine literarische Ikone und es gibt wohl kaum eine*n Student*in des kreativen Schreibens (oder auch der Germanistik, Literaturwissenschaft, etc.), die*der nicht mit ihrer Spiegelgeschichte in Berührung gekommen ist oder mit sonst einer ihrer filigranen Erzählungen.

Nun ist zum Anlass ihres Geburtstags bereits Ende September dieser Band mit (genau hundert) verstreuten Publikationen erschienen, deren Spanne vom Jahr 1948 bis zum Jahr 2005 reicht. Betitelt ist der Band mit „Aufruf zum Mißtrauen“, ein programmatischer Titel (und der Titel eines Textes im Buch), der gewisse zentrale Aspekte von Aichingers Schreiben und Denken gut zusammenfasst, aber zumindest auf mich auch ein bisschen irreführend wirkt, so als handle es sich bei den verstreuten Publikationen vor allem um Glossen, Pamphlete und dergleichen.

Das ist nicht der Fall, vielmehr erwartet die Leser*innen ein Mix aus Gedichten, Feuilleton, Briefen, Beiträgen für Anthologien und andere Gelegenheitsschriften, dramatischen Fragmenten/Szenen, u.v.a.

Die Beiträge sind chronologisch geordnet, es gibt keine Gruppierung/Einteilung nach Art der Texte, was zunächst etwas beliebig anmutet, aber den Leser*innen eben die Gelegenheit gibt, dem einzigen roten Faden des Buches zu folgen, nämlich der mannigfaltigen Darstellung von Aichingers Positionen und ihrer Entwicklung.

Ich muss zugeben, dass ich mich, obwohl durchaus begeisterter Aichinger-Leser, mit dem Band etwas schwergetan habe. Das Konzept (100. Geburtstag = 100 Texte) klingt zunächst griffig, aber in der Praxis hätten vielleicht etwas weniger Texte dem Band gutgetan. Denn mancher Beitrag wirkt, trotz seiner unbestreitbaren Relevanz für die Aichinger-Forschung, deplatziert, weil nicht unbedingt von Interesse für Leser*innen, die sich mit Aichinger als Autorin, aber nicht unbedingt als Person auseinandersetzen wollen.

So erscheint der Band streckenweise weniger wie ein Lesebuch, das unbekannte Glanzstücke Aichingers dem Publikum präsentieren soll, und mehr wie eine Werkausgabenkomplettierung (was aber vermutlich nicht der Fall ist, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Zahl der Beiträge ein Zufall ist).

Trotzdem gibt es natürlich einige wichtige und auch starke Beiträge. Besonders interessant fand ich Aichingers Auseinandersetzung mit den Geschwistern Scholl. Aber auch ihre Gedanken zu Thomas Bernhards „Heldenplatz“, zu Gert Jonke und der Gruppe 47 fand ich sehr anregend, ebenso eine Rezension zu einem Buch von Julian Schutting. Und gefreut habe ich mich, dass auch ein paar mir unbekannte Gedichte von Aichinger enthalten sind.

Meine Bedenken habe ich angebracht und abseits dieser will ich von Kauf und Lektüre des Bandes nicht abraten. Es stellt einen guten Querschnitt durch unterschiedlichste Aspekte von Aichingers Werk und Wirken dar. Vielleicht ist auch gerade die unterschiedliche Relevant der Beiträge für manche Leser*innen eine spannende oder angenehme Abwechslung.

Kanada, aus Sicht der Literatur


index Aus einem Land kommend, in dem das Wort „Nationalliteratur“ wohl noch lange, zurecht, einen sehr zweifelhaften Ruf haben wird, war ich gleichermaßen gespannt und skeptisch, als ich auf den ersten Seiten von Atwoods „Survival“ las, es war ihre Absicht in diesem Buch die spezifischen Felder und Kategorien der kanadischen Literatur herauszuarbeiten.

Man muss vorwegnehmen, dass sich Atwood in ihrem Vorwort zunächst darauf verlegt, zu sagen, was „Survival“ nicht ist: keine Chronologie der kanadischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, keine Geschichte der kanadischen Literatur anhand der Biographien der Autor*innen, keine umfassende Studie, kein Nachschlagewerk und auch Werten, also eine Art Kanon aufbauen, möchte die Autorin nicht. Ja, was ist denn dieses Buch dann, warum soll man es lesen, fragt man sich als Leser*in da und auch Atwood stellt (sich) diese Frage, nachdem sie all diese möglichen Erwartungen zurückgewiesen hat.

Und beantwortet sie gleich im Anschluss, wie oben bereits angedeutet: Das Buch soll eine Reihe von Grundstrukturen herausarbeiten, die die kanadische Literatur von allen anderen unterscheidbar macht. Kurzum, nachdem man dieses Buch gelesen hat, soll man ein Buch zur Hand nehmen und die ersten paar Seiten lesen und dann schon sagen können: das ist CanLit. Oder: das Buch konnte nur in Kanada geschrieben werden.

Um das zu erreichen hat Atwood ihr Buch in einige Kapitel unterteilt, die solche Grundstrukturen umreißen und die da heißen: „Überleben“, „Die Natur als Ungeheur“, „Tiere als Opfer“, „Ureinwohner“ und noch einige weitere. Jedem dieser Kapitel ist eine Doppelseite an Zitaten vorangestellt, dann folgt die jeweilige Auseinandersetzung.

Gleich warnen muss man wohl alle Leser*innen, dass Atwood eine Vorliebe für Lyrik hegt. Ich persönlich begrüße das, aber es wird sicher einige Leser*innen abschrecken. Mit Vorliebe meine ich nicht, dass sie nur oder mehrheitlich Lyrik zitiert, aber doch im größeren Maße als man es gewohnt ist und vor allem nicht in einem eigenen Kapitel, sondern kapitelübergreifend.

Auch ansonsten legt Atwood einige Eigenheiten an den Tag, manche sympathisch, manche etwas enervierend. So ist bspw. der Untertitel „Streifzug“ ernst zu nehmen, denn in der Tat bewegt sich Atwood schnell von einem Beispiel zum anderen und es geht ihr tatsächlich mehr um die Kategorien als um die Autor*innen und die einzelnen Werke. Wer sich daher sehr gezielte Lesetipps erhofft, wird vermutlich eher enttäuscht sein.

Schön ist dagegen, mit welch unprätentiöser Art Atwood durch die Literatur ihres Landes führt. Sie betont schon zu Anfang, dass es sein sehr persönlicher und auch nicht gerade neuer Einblick ist, den sie gewährt, aber dennoch hat man das Gefühl, sehr gut auseinandergesetzt zu bekommen, warum die Bücher und Texte, die Atwood ins Zentrum rückt, gut das nachbilden, was in der kanadischen Lebenswirklichkeit und Literatur dominant ist.

So muss man am Ende auch sagen, dass dieses Buch fast schon mehr über Kanada und seine Welten aussagt, als über seine Literatur (natürlich tut es das durch das Fernrohr der Literatur, aber der Ausblick ist eben das Thema, nicht die Beschaffenheit des Fernrohrs). Das ist natürlich nicht schlimm, solange man sich nichts anderes erwartet. Ich habe den Streifzug genossen, gerade weil er sich wenig mit literaturwissenschaftlichen oder stilistischen Punkten aufhält. Anderen wird es anderes gehen. Aber die sind hiermit gewarnt.

P.S.: Wichtig ist natürlich auch anzumerken: Das Buch erschien im Original 1972, also vor fast 50 Jahren.

Eine haltlos-semiheitre Farce


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So wörtlich meint man das ja eigentlich nicht, wenn man von der Unsterblichkeit der Dichter redet, aber hier sind sie, Dante und Homer, quicklebendig, in einem Haus des Schweigens irgendwo in Italien, in dem sie in einem Fort von Dingen plaudern, die sich als Metaphysik ausgeben, aber eher Manierismus sind.

Wolf Wondratscheks neues Buch ist eine Farce, anders kann man es nicht bezeichnen, und der von ihm (oder dem Verlag) gewählte Untertitel „Komödie“ deutet das ja auch an. Und so wartet man als Leser*in, während die beiden Granden sich darüber streiten, ob die Nachtigall nun eine tolle Sängerin abgibt und wie es um die Götter beschaffen ist, eigentlich darauf, dass irgendwo auf all dem glatten Parlieren auch der Witz aufblitzen möge. Müssen da nicht Spott und Spitze im Spiel sein, wenn jemand, völlig an jedem Zeitgeist vorbei, über diese beiden, fast schon mythologischen Personen schreibt?

Nun, sicherlich gibt es einige „komische“ Momente, aber das Buch hat letztlich mehr von einer beckettschen Komödie, als von einer klassischen (von einer epischen oder einer göttlichen ganz zu schweigen). Überhaupt ist es schwer zu glauben, Beckett habe bei Wondratscheks Lustspielerei nicht Pate gestanden, schließlich gibt es ein Prosastück von ihm, das „Dante und der Hummer“ heißt; von da ist es ja nicht weit zu Homer oder zur Köchin (zum Humor allerdings, allem Anschein nach, leider schon).

Und ebenso haltlos wie in Becketts „Warten auf Godot“, wenn auch nicht halb so  tragisch-komisch, gebärden sich Wondratscheks Dante und Homer beim Warten auf das Schweigen oder das Ende der Unsterblichkeit. Dass es noch viel zu sagen gäbe über sie oder ihre Werke, dergleichen wollen diese beiden Figuren anscheinend Lügen strafen. Sie langweilen die Leser*innen nicht direkt, aber sind auch weit davon entfernt, zu unterhalten. Zelebrieren, das scheint ihr einziger Zeitvertreib zu sein und es ist fraglich, ob das der Leser*innen liebster Zeitvertreib ist, die wohl in den seltensten Fällen unsterblich sind.

Nun, vielleicht befinden wir uns ja auch gar nicht in einem Haus in Italien, sondern in der Hölle erster Kreis. Das wäre wahrlich eine Pointe, die Becketts würdig wäre. Dort ist Dante ja in seiner “Göttlichen Komödie” Homer zum ersten Mal begegnet, der ihn prompt in den Club der großen (unsterblichen) Dichter aufnahm. Hat Dante sich da etwa unwissentlich auf einen Teufelspakt eingelassen, als er diese Ehren nicht ablehnte? Und büßt nun dafür in einem ewigen Gespräch mit dem Mann, der ihm den Lorbeer verlieh?

Nun, das ist etwas weit hergeholt, ich weiß. Und wahrscheinlich nicht das, was Wondratschek bei dieser Farce im Sinn hatte. Aber es würde erklären, warum das Buch die Unsterblichkeit als so dröge Angelegenheit inszeniert. Da hätte man vielleicht vorher mal Arno Schmidt konsultieren sollen.

In jedem Fall: ein großer Wurf ist das kleine Büchlein in meinen Augen nicht. Wer aber sich gern als geistiger Feinschmecker sieht und sich köstlich zu amüsieren versteht, dem kann man „Dante, Homer und die Köchin“ vielleicht schon empfehlen. Selbst wenn es dann nicht gefällt, wird die Person sich wohl verpflichtet fühlen, es zu lesen, vielleicht sogar während der Lektüre zu rühmen, denn es wirkt bis zur letzten Seite so, als könnte schon um die nächste Ecke, auf der nächsten Seite, endlich der Schmu in den Schmaus übergehen.

Dass man am Ende hungrig bleibt, verzeiht man Wondratschek weniger als Beckett. Jener aber ließ auch nur ein paar Rüben vorkommen, derweil Wondratschek eine Köchin auffährt. Das weckt dann irgendwie falsche Erwartungen.

Warten auf den Fatalismus, Italien 1939/40


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„Es ist merkwürdig, in welcher Eintracht hier alle die Möglichkeit eines Krieges gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich meine nicht nur die Bevölkerung, die die Fakten nicht kennt, sondern auch Kenner der Materie. (Venedig, 16. Juli 1939)“

Die Schriftstellerin Iris Origo wurde in England geboren, als Tochter eines reichen amerikanischen Industriellen und einer irischen Adeligen. Von 1927 bis zu ihrem Tod lebte sie jedoch mit ihrem Mann in Italien, in Chianciano Terme nahe Montepulciano (in der Toskana) und in Rom.

Die meisten ihrer Werke sind historischer Natur und beschäftigen sich mit italienischen Persönlichkeiten, u.a. Francesco Datini und Giacomo Leopardi. Bekannt wurde sie international durch ihr Toskanisches Tagebuch, ein Bericht aus den Kriegsjahren 1943/44, der zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, dann aber doch 1947 erschien.

Unveröffentlicht blieben zunächst, obwohl bekannt, Origos Aufzeichnungen aus den Jahren 1939/40; sie erschienen erst nach ihrem Tod, vermutlich weil sie unspektakulärer waren als die Schilderungen aus den späteren Kriegsjahren.

Es ist aber gut, dass diese Aufzeichnungen doch noch erschienen sind und auch in einer Übersetzung von Anne Emmert (mit einem Vorwort von Lucy Hughes-Hallett und einem Nachwort von Katia Lysy, der Enkelin von Origo) auf Deutsch vorliegen. Es fehlt ihnen beileibe auch nicht an Dramatik, ganz im Gegenteil: die Leser*innen werden Zeug*innen der aufgeladenen Atmosphäre am Vorabend des Krieges, der in Italien alles andere als sicher und gewollt erscheint.

Vielmehr schildert Origo bei verschiedenen Gelegenheiten das Bangen der Land- und Stadtbevölkerung um ihre Söhne und den Frieden, oft gipfelnd in dem Wunsch, nicht in den „deutschen“ Krieg hineingezogen zu werden. Überhaupt hat ein Großteil der Italiener anscheinend nicht viel für den deutschen Verbündeten übrig (wenn auch nicht viel für die Franzosen und Polen, noch etwas mehr für die Engländer, zumindest zunächst), selbst wenn man gemeinhin vom italienischen Faschismus, mal mehr mal weniger glühend, überzeugt ist. Die meisten hoffen darauf, dass Mussolini seine Forderungen ohne Gewalt durchsetzen kann und Italien seine Unabhängigkeit zelebrieren darf, aber nicht verteidigen muss.

Origo schildert vor allem Gespräche mit Freund*innen und Zufallsbekanntschaften, gibt Zeitungs- und Rundfunkberichte wieder (mit ihrem teilweise verstörenden Mischmasch aus Informationen, Desinformation und Propaganda) und versucht die Stimmung in der Bevölkerung zu deuten. Ihre Darlegungen sind meist kurz und sachlich; die Persönlichkeiten und Zusammenhänge, auf die sie referiert, werden direkt am unteren Seitenrand erläutert.

Immer wieder findet Origo, trotz der dramatischen Entwicklung und ihrer eigenen Verwicklung in die Geschehnisse (ihr Patenonkel ist in der amerikanischen Botschaft tätig, ihre Mutter englische, sie selbst amerikanische Staatsbürgerin), auch Zeit für Anekdotisches, bspw.:

„Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.“ (15. Mai 1940)

„Eine seltsame Zeit des Wartens“ kann wohl nicht bedenkenlos allen Leser*innen empfohlen werden, ist aber, so wage ich zu behaupten, auch kein gewöhnliches Tagebuch. Vom März 39 bis Juli 40 (danach schloss sich Origo freiwillig dem italienischen roten Kreuz an und begann, wie oben erwähnt, erst wieder 1943 mit ihren Aufzeichnungen) gibt es uns einen ziemlich guten Einblick in die Geisteswelt und die Gefühle eines Teils der italienischen Bevölkerung – und zeigt auf, wie unklar, verwirrend und wechselhaft diese Monate für viele Menschen in Italien waren, wie sehr das erste Kriegsjahr dort nicht allein von Begeisterung und Eifer, sondern Misstrauen, Hoffnung und Zweifeln begleitet war. Am Ende obsiegt, so möchte man pointiert und zynisch schreiben, nicht der Faschismus, sondern der Fatalismus in den Herzen der Bevölkerung.

Der Geschichtenermöglicher


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Bob Dylans 80. Geburtstag ist nun schon eine Weile her und ebenso meine Lektüre dieses Buches (lange fiel es mir schwer dazu etwas zu schreiben; immernoch, wie man wohl sehen wird) mit Geschichten rund um den Sänger mit der quäkigen Stimme und der gewaltigen Fantasie. Den Homer unserer Zeit nennt ihn der Herausgeber Maik Brüggemeyer und noch so einiges anderes, das meiste davon ist allerdings sehr treffend, es ist ein schönes Vorwort, das gerade in seiner Schönheit ein bisschen seinen Schatten auf manche der folgenden Texte wirft.

Denn der Ausbund an Geschichten, der diesem Vorwort dann folgt, ist einerseits beachtlich, andererseits dermaßen wild durcheinandergewürfelt, dass dem Rezensenten schon das Wort “beliebig” auf der Zunge liegt, er sich schon aufs Nörgeln einstellt – aber, halt. Moment.

Denn ist nicht gerade das die einzig richtige und mögliche Form der Huldigung, wenn es um Robert Zimmermann geht: die facettenreiche? Ist der Facettenreichtum nicht auch seine größte Stärke, seine Wandel- und Unberechenbarkeit? Insofern ist die Heterogenität des Bandes gerechtfertigt, vielleicht sogar notwendig.

Trotzdem gibt es natürlich Texte, die herausstechen und andere, die nicht so recht zu überzeugen wissen. Die erste Geschichte von Frank Goosen hat noch eine schlichte, aber wirksame Manier (davon gibt es einige im Buch) und Simple Twist of Fate von Marion Brasch arbeitet gut mit den diffusen Aspekten von Dylans Musik. Aber Tom Kummers Geschichte zu Ballad of a thin man fand ich zum Beispiel reichlich profan, ebenso erschien mir Judith Holofernes Kurzauftritt zu I want you ein bisschen luftleer.

Sehr interessant fand ich dagegen den Text von Stefan Kutzenberger, in dem er, ausgehend von dem Song Let it be me von Dylan, die Geschichte einer Paarbeziehung und gleichsam noch die Geschichte eines übergreifenden Narratives in Hollywoodfilmen, an denen dieses Paar beteiligt ist, erzählt.

Komisch und herrlich ist auch Michael Köhlmeiers Episode über ein Treffen zwischen Dylan und der Schachlegende Bobby Fischer. Und geradezu wundervoll, wie Ilona Hartmann sich einfach vom Topos Dylan löst und trotzdem die Berührungen seiner Musik in ihrer Geschichte mitschwingen lässt.

Auch Stella Sommers Text hat mir gefallen, er ist persönlich und schlägt doch am Ende einen wunderbaren Bogen zu einem der wichtigsten Aspekte von Dylans Anfängen, nämlich dem Einfluss, den Woody Guthrie auf ihn hatte; ich glaube Dylan würde es sehr begrüßen, dass er Erwähnung findet.

Bei manchen Texten ist mir etwas zu viel Selbstdarstellung enthalten (bspw. Knarf Rellöm und Bernadette la Hengst), bei manchen vielleicht auch zu wenig. Einer der wenigen wirklich originellen Texte (was für sich noch nicht unbedingt eine Qualität ist, hier allerdings schon) stammt von Jan Brandt, Darin wird eine alternative Bewegung mit Meinungen von außen, zu ihrer Konzeption und ihren Aktionen, konfrontiert. Ich mag den Text, weil hier auch die Ambivalenz ins Dylans Musik eine Rolle spielt, in eine Geschichte übersetzt wird.

Hat Dylan den Beatles das Kiffen nähergebracht? Hatte er ein geheimes Aufnahmestudio im Süden von Mexiko? Und worum zum Teufel geht es denn nun in “Ballad of a thin man”? Nun, das sind jedenfalls alles gute Geschichten, die von ihm und um ihn, und letztlich geht es bei Dylan ja darum: er erzählt gute Geschichten, die irgendwie alle Rätsel sind und irgendwie alle Parabeln; und gibt auch Anlass zu guten Geschichten, ist, wie Brüggemeyer im Vorwort schrieb, ein Geschichtenermöglicher.

Diese Anthologie zollt dieser Qualität mit ihrer Vielfalt an Texten Respekt und weiß durchaus zu unterhalten, nicht immer, aber oft genug.

Dem eigenen auf den Grund, die Gründe


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Wenn du dem Kern der Geschichte nicht nahekommen kannst, dann stimmt etwas mit der Erzählweise nicht.

Vermutlich gibt es kein Buch, dass angehenden Schriftsteller*innen beibringen kann, gute Bücher zu schreiben (es mag allerdings manche geben, die sie vor den ersten Fehlern bewahren und ihnen eine Menge Zeit sparen). Manche Autor*innen aber vermögen einen guten Einblick in ihr Handwerk zu geben und daraus lassen sich dann durchaus einige Rückschlüsse ziehen, was das Schreiben generell angeht; diese Einblicke taugen nicht als Richtlinien, aber vielleicht doch als Wegweiser.

Neben Mario Vargas Llosas Briefe an einen jungen Schriftsteller und Geheime Geschichte eines Romans ist Terézia Moras Nicht sterben bisher eines der besten Bücher, dass ich über das Handwerk des Schreibens gelesen habe. Natürlich gibt es zahllose Ratgeber auf diesem Gebiet (zu den besseren gehört hier noch Schreiben für ewige Anfänger von Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger), aber dergleichen erscheint mir oft zu anorganisch, statisch, beflissen.

Da sind mir Berichte aus der Werkstatt wie bei Llosa oder hier bei Mora lieber. Allein schon deshalb, weil sie neben den Einblicken in die Entstehung von Texten auch die Hintergründe und Verbindungen zum Leben des*der Schreibenden offenlegen. So kann man als Leser*in direkt eine der wichtigsten Grundlagen des Schreibens begreifen: dass dieser Tätigkeit keine Alternative zum Leben ist, keine andere Welt, sondern sehr eng mit dieser verbunden ist, nur aus einem Zwischenspiel heraus entsteht.

Manche meiner Recherchegänge bestehen ausschließlich aus Verirren. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise eben nicht das finde, was ich mir zu finden vorgenommen habe, sondern das, was wirklich da ist.

In fünf Kapiteln breitet Mora ihre literarische Biografie aus. Sie beginnt beim ersten Buch, dem Erzählband “Seltsame Materie” und schildert, warum die Erzählungen so und nicht anders entstehen konnten, wie die zentralen Erfahrungen ihrer Kindheits- und Jugendjahre die Texte inhaltlich aber auch formal prägten.

Schon dieses erste Kapitel bringt den Leser*innen die Essenz von guter Literatur nah: Notwendigkeit. Es mag hübsche Geschichten geben, unterhaltsame Bücher, die nicht aus Notwendigkeit, einem inneren Bedürfnis, einem Verlangen nach Bericht, nach Niederschrift, entstanden sind. Aber Kunst entsteht, so würde ich behaupten (und Mora würde da glaube ich zustimmen) aus Notwendigkeit (wobei nicht automatisch Notwendigkeit gute Kunst hervorbringt).

Auch die weiteren vier Kapitel halten zahllose anschauliche Details über das Schreiben, über Konzeption und Figurenaufbau bereit. Mora zeigt, wie bestimmte Entscheidungsprozesse vonstattengehen, warum sie an manchen Aspekten zunächst scheiterte und wie sie dieses Scheitern durch neue Ansätze überwand.

Wer sich dafür interessiert, wie Leben und Werk zusammenhängen und was es bedeutet, schriftstellerisch tätig zu sein, dem kann ich Nicht sterben nur ans Herz legen. Und wer Passagen wie die folgende gern liest, ist auch herzlich eingeladen, den neben allem anderen ist das Buch natürlich auch ein stilistischer Genuss, voller Erkenntnisse und Ideen, die wie nebenbei auftauchen und dennoch Eindruck hinterlassen.

Zusammengefasst kannst du dein Eigenes gefunden haben, aber das bedeutet noch lange nicht, das bedeutet keineswegs, nicht im Geringsten, dass deswegen etwa Extraraum und Extrazeit im Universum dafür entstanden wäre. Nix. Stattdessen: Tage, an denen sich alles und jeder dagegen verschworen zu haben scheint, dass du dein Eigenes tust. Von früh um 5, wenn du denkst, ihnen zuvorkommen zu können, bis um Mitternacht, wenn du schließlich aufgibst: Gezerr und Geschrei, wohin du dich auch wendest. [] Es ist weder mehr Raum noch mehr Zeit dafür, es ist nur da, was immer da war: das ununterbrochene Strömen der Welt, und das Wenigste davon ist so, dass es die Klarheit der Gedanken und Empfindungen fördert. Zwischen dir und der Welt besteht die ungleiche Situation, dass sie: ist, während du: versuchst, etwas zu tun.

Zu einer Auswahl aus Katherine Mansfields Tagebüchern


Fliegen wirbeln tanzen Eines der ersten Bücher, die ich auf einem Flohmarkt kaufte, war eine vollständige Ausgabe der Tagebücher von Katherine Mansfield, herausgekommen bei der Deutschen Verlags Anstalt 1975. Hätte ich sie damals doch aufmerksamer studiert und nicht nur nach Anekdoten und Frivolitäten abgesucht! Hier hätte ich vielleicht, in der Jugend, Linderung für die Auseinandersetzungen mit meinen Gefühlen gefunden.

Denn derlei begegnet einem bei Katherine Mansfield in Hülle und Fülle: ein Bekenntnis der Gefühle, vom tiefsten Sturz & härtesten Boden bis zur großen Leichtigkeit & hohem Flug. Der Titel des Auswahlbandes bei Manesse „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben“ ist daher gut gewählt, er fängt ein wie bewegt diese Notate sind – wenngleich die vier Begriffe vielleicht etwas zu positiv besetzt sind.

Das Leben der Katherine Mansfield war kein leichtes, nicht nur, weil sie mitunter rücksichtslos gegen sich selbst war, sondern auch weil sie ein freieres und ungezwungeneres Leben führen wollte, als es den meisten Frauen damals möglich war. Immer wieder versuchte sie „ihrer Seele das Sklavische auszutreiben“, geriet dabei aber in Konflikt mit den Erwartungen anderer und auch mit ihren eigenen Ansprüchen, deren steten Wandel man in den Tagebüchern miterleben kann.

„Solange Menschen leben und sterben, werden diese Stücke relevant sein“, hat Harold Bloom über die Stücke Shakespears gesagt. Und solange Menschen zwischen Konventionen und Gefühlen, Ideen und Enttäuschungen ihr Dasein fristen, solange werden die Tagebuchaufzeichnungen von Mansfield von Bedeutung sein und vielleicht Trost spenden, vielleicht auch nur zeigen, wie recht man hat sich „verwundet zu fühlen von Umständen, die nicht vergehen wollen.“

Zu den Vorlesegeschichten von Peter Maiwald


100 kurze Vorlesegeschichen Der 2008 verstorbene Autor Peter Maiwald war mir bisher vor allem als Dichter ein Begriff, als Verfasser von so herrlichen Liebesgedichten wie diesem:

„Saßen in der weißen Wanne
und erklärten sie zum Meer.
Deine Körperinsel schob sich
langsam zu der meinen her.

Und wir wuchsen so zusammen
zu dem Lande, du und ich,
waren Dschungel, Wüsten, Meere
und so fremd entdeckten sich

Städte, Straßen, Häuser, Gärten,
Berge brachen Feuer aus,
Wasser fluteten durch Haus,
bis die Nachbarn sich beschwerten.“

Darüber hinaus hat er sich, nicht nur mit diesem Werk hier, anscheinend um die Kinderliteratur verdient gemacht. Das Buch „100 kurze Vorlesegeschichten“ ist ein wunderbares Sammelsurium, voller verspielter, dabei aber nicht infantiler, sondern eher dezent hintersinniger Geschichten, nicht selten von spaßiger Natur und mit gelind-ironischem Esprit.

Manche erinnern an die Geschichten Peter Bichsels, andere haben eher konventionellen Charakter. Es gibt, für meinen Geschmack, in manchen von ihnen allzu klare Fingerzeige und moralische Insignien, aber das ist bei Kinderliteratur ja keine Seltenheit – und überwiegt bei Maiwald letztlich nicht.

Am meisten gefällt mir, dass die Geschichten nur im geringen Maß auf phantastische Elemente zurückgreifen und vielmehr Erfahrungswelten beschwören, die gut nachvollziehbar sind, vor allem für Kinder. Wer auf der Suche nach Vorlesegeschichten für klein und groß ist, kann ruhig zugreifen.