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Zu “doggerland” von Ulrike Draesner


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Letztens lass ich einen elektrisierenden Gedanken (in Randall Munroes Buch “What if 2”), nämlich, dass alle jetzt lebenden Menschen zwangsläufig von ein paar wenigen hundert Menschen abstammen müssen, mit denen uns eine nie abgebrochene Fortpflanzungskette verbindet. Kein besonders überraschender Gedanke, aber doch elektrisierend, weil darin die generelle Erkenntnis steckt, dass unsere ganze unübersichtliche Gegenwart aus dem entstanden ist, was sich durchgesetzt und überlebt hat (während vieles andere auf der Strecke blieb). Wir stehen sozusagen nicht auf dem Höhepunkt der bisherigen Schöpfung, wir liegen hinter dem Nadelöhr (oder die Gegenwart ist sogar das Nadelöhr).

Und somit ist auch die Vergangenheit nicht einfach die Geschichte vom Wandel, der zur Gegenwart führt, sondern das Zuhause einer Vielfalt, die heute nicht mehr existiert oder nur noch in Fragmenten und Bruchstücken erhalten geblieben ist. “Doggerland” eine Region zwischen Norddeutschland und Großbritannien, vor über 8000 Jahren vom Meer verschlungen, kann als Sinnbild für diese riesige Vergangenheit, die nur in Teilstücken fortlebt, angesehen werden.

Zum einen lebt sie in den Mythen fort, den Geschichten um Atlantis und den Garten Eden, in den gräulichen Phantasien von Lebensraum und Germanentum. Aber man landet auch zwangsläufig in doggerland, zumindest abstrakt, wenn man sich rückwärts in der Sprache bewegt, in einem Raum, in dem sich das Angelsächische und Deutsche annähern, bis zwischen ihnen zahlreiche Funken von Bedeutung überspringen.

Was erhellen diese Funken? Manchmal nur eine fast schon kalauerische Verwandtschaft, aber oft genug kann man im Lichte dieser Funken einen Blick auf die Vergangenheit erhaschen. Wie in einem Teilchenbeschleuniger, werden die Sprachteilchen aufeinander geschossen, mit der ungeheuren Geschwindigkeit, die Jahrtausende in wenigen Sekunden überbrückt, und die Reaktionen reichen von Verpuffen, über Leuchten bis hin zu stabilen neuen Elementen, unbekannten Bausteinen der Wirklichkeit.

Wie viel kann uns die (Sprach)Geschichte über uns selbst sagen? Was aus der Vergangenheit tragen wir in uns mit und inwieweit sind wir diesem Erbe verpflichtet? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, aber Draesner liefert mit Doggerland eine Möglichkeit, sich auf ihren Grund zu begeben. Man muss sich teilweise auf ihre Assoziationen einlassen, teilweise kann man aber auch seine ganz eigenen Wege gehen. In jedem Fall erwartet einen eine spannende Reise.

Geht so


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„Über dir hängt Schwermut an der Wand

wie eine sehr alte Girlande,

mit einem Meer aus Elefanten

und Betonluftballons dran,

die geformt sind wie Monster.

[…]

Ich wollte immer wie die anderen sein .

Nur dass das absolut nichts bringt

und dass das absolut nicht geht,

weil es die anderen ja schon gibt.“

Lange habe ich mich dem Hype um Julia Engelmann entzogen. Poetry-Slams waren noch nie mein Fall, vor allem poetische Poetry-Slams nicht, und auch als Engelmanns Texte anfingen als Bücher zu erscheinen, hielt ich noch Abstand. Zu groß schien mir die Gefahr, dass mir, als passioniertem Lyrikleser, ihre Texte wie dilettantische Verse vorkommen würden, nicht auf der Höhe der Zeit.

Nachdem mir aber wieder und wieder einige Leute erzählten, wie schön die Autorin schreiben würde und wie wichtig diese Texte wären, habe ich diesen Best-of-Band zum Anlass genommen, mir Engelmanns Gedichte einmal anzuschauen.

„Ich würde so vieles sagen, aber bleibe meistens still

weil – wenn ich das alles sagen würde,

wäre das viel zu viel.“

Leider muss ich sagen, dass meine Befürchtungen größtenteils eingetroffen sind und in Summe kann ich mit den Texten wenig anfangen. Das liegt vor allem an zwei Aspekten.

Zum einen ist es offensichtlich, dass Engelmann wenig bis gar keine zeitgenössische Lyrik gelesen hat. Das ist keinesfalls ein Muss für das Schreiben von Gedichten hier und heute (oder eine Garantie für deren Qualität), aber es ärgert mich. Denn es gibt viel gute Lyrik da draußen und Engelmann könnte einiges von ihr lernen (bspw. manches über Ökonomie).

Zum anderen, und das ist der wichtigere, zentrale Punkt: Mir geht die „Sorge dich nicht, lebe“-Atmosphäre des Buches auf die Nerven. Ich bin gewiss kein Befürworter von ungebremsten Zynismus, in der Kunst oder sonstwo, verschmähe keine Happy Ends und lasse mich gern mal von Positivem mitreißen. Aber bei vielen Gedichten in diesem Band habe ich mich dann schon gefragt: ist das noch Poesie oder schon Seelenpetting, Syntax oder Self-Care, Ambivalenz oder doch nur ami volare?

Ich will nicht den Gate-Keeper spielen und entscheiden was Lyrik ist und was nicht, aber müsste ich das Buch labeln, würde ich es eher unter Selbsthilferatgeber einsortieren und nicht bei den Gedichten. Dafür spielt es auch viel zu selten wirklich eine Rolle, dass der Text ein Gedicht ist, es hat selten etwas mit dem zu tun, was er vermitteln soll.

„Keine Ahnung, ob das Liebe ist,

vielleicht werde ich das nie wissen.

Aber immer, wenn du bei mir bist,

hör ich auf, dich zu vermissen.“

„Du machst mich espressowach,

bin lange nicht mehr weggeschlummert,

weil in meiner Brust der Bass

so laut gegen die Decke wummert.

Hörst du nicht? Die Nachtigall

singt vierundzwanzigsieben.

Wärst du mit mir zum Abiball

gegangen, wär ich geblieben.“

Die einzige Kategorie in der es noch Lichtblicke gibt sind die Liebes-/Beziehungsgedichte. Hier gibt es ein paar ausgefallene Bilder, ein paar Ambivalenzen, ein bisschen weitläufigere Ansätze. Trotzdem bin ich unter dem Strich einfach nicht so angetan wie viele von Frau Engelmanns Texten. Das wird der Begeisterung, die ihr entgegenbrandet, keinen Abbruch tun und soll es auch nicht.

„mein Herz ist das Berghain

und du kommst nicht rein“

In launisch lauschenden Gewässern, mit vielen Sehwegen


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„Und schon beginnt Arbeit,
man webt den Thron, das Tau, auf dem man sitzt – Text,
ein Strickpulli, eine Angelschnur, an der man sich
fortlaufend die Zähne ausbeißt, am Hauptfaden.
Wie gut es uns steht, engmaschig, am gesetzten Ende,
Anfang von Saison, von Biographie.“

Auf der ersten Seite, noch vor dem eigentlichen Text, befindet sich in „Phosphor, ein Übergeben“ (neben drei Zitaten, eins von Rilke, zwei von Hilde Domin, die ein interessantes Zwiegespräch halten) eine Definition des Wortes phōsphóros (dem griechischen Ursprung des Namens Phosphor), das „lichttragend“ bedeutet (wegen dem Leuchten des weißen Phosphors bei der Reaktion mit Sauerstoff).

Doch auch ganz oben auf dieser ersten Seite, wo noch einmal der Titel des Werkes steht, gibt es noch etwas zu entdecken, nämlich einen mit Klammern versehenen Untertitel: „(Ein auf dem Kopf stehendes Fermatenzeichen ist eine besetzte Barke).“ In der Tat sieht die Fermate, stellt man sie von den Füßen auf den Kopf, aus wie ein mastloses Schiff. Sie ist ein Zeichen der Musiknotation, ein Aushalte/Innehalten-Zeichen, das die Musiker*innen anweist, hier eine kurze Pause zu machen, den Einsatz zu verzögern; so entsteht ein Raum für das Nachklingen, aber auch für die Erwartung; gleichsam kann es wohl auch für eine Unterbrechung stehen, eine Irritation, die bspw. einen neuen Blick auf das Verhältnis von Klang und Stille ermöglicht.

„Nicht geschieden,
flackert, wabert
der Sinn, gebunden
durch
die Potenz:
nicht abreißen lassen,
wir halten, wir halten mehr
als wir sollten“

Es ist also einiges, was Katharina Kohm uns schon von Anfang an mit auf den Weg gibt – was dazu führt, dass sich die von manchen Versen und Worten aufgeworfenen Bezüge schon zu Beginn mannigfaltig verzweigen.

Phosphor hat dreizehn Kapitel, die jeweils (bis auf das erste und das letzte), mehrere eigenständige Texte beinhalten, die sich in Form und Ton nicht selten unterscheiden. Gleichzeitig ist das ganze Buch ein Text, in dem es wiederkehrende Motive und Narrative gibt.

Dieser Gesamttext gleicht ein wenig einem Flusslauf: es gibt Katarakte, dann wieder ruhigere Stellen mit glatten Oberflächen, dann wieder einen langsam sich steigernden oder plötzlich einsetzenden Sog.

Wer genau spricht, in den einzelnen Gedichten, ist nicht immer auszumachen. Die Pronomen wechseln von Textabschnitt zu Textabschnitt, im Ganzen könnte man fast von einem Pronomenflimmern sprechen: mal geht es um ein angesprochenes Du, an anderen Stellen steht ein Wir im Mittelpunkt, dann wiederum ein auf sich fokussiertes Ich.

„Käferartig
trinken wir Tau
am frühen Morgen,
bleiben schwer
unter Chitin.

Wir stoßen mit der
Mistkugel überall an,
wenn wir die Wege
queren,
rauchen wir Glück.“

Vor allem in den Passagen, in denen es ein Wir gibt oder die auf andere Weise eine breitere Gruppe anzusprechen scheinen, herrscht oft ein mahnender, klärender Ton. Hier wirkt der Text nicht selten wie ein Monolog, eine eigenwillige Bestandsaufnahme, eine groß angelegte, traumwandlerische Dekonstruktion. Immer wieder entfacht sich hier eine Gesellschaftskritik, die sich von ruhigen Darlegungen bis zu drastischeren Feststellungen erstreckt; diese Kritik (oder vielleicht eher: Entzifferungswut) entzündet sich an den Fragen des wahren Lebens im Falschen wie sich der Phosphor am Sauerstoff (der Lebensgrundlage) entzündet.

„Wir raten schlecht.
Man will sich in der Regel nicht wandeln. Die gekratzte
Sicherungskopie der Zeit hallt an den Wänden der
Erinnerung und verhakt sich wie Vinyl und springt über
Spuren, läuft aber rund, spielt dasselbe Thema des
gefügten Materials. Repeat one.
Die Schädeldecke stockt vor lauter Updates, vom
Überschreiben wird dem analogen Lied laufend
schwindelig.“

Die Bewegungen, die die einzelnen Gedichte vollziehen und die das Werk als Ganzes unternimmt, sind immer wieder überraschend. Teilweise kommt einem der Text wie ein Zweiggespinst vor, eine fruchtbehangene Sprache, von der ich als Leser Sätze pflücke, wie etwa:

„Es geht um das andere Verstehen, das Stehen bleiben.“

„Wir sind Chronisten, deshalb können wir denken.“

„Bis in den Enddarm bestehen wir aus Unverdautem,

aus potenziell dazwischen Gedichtetem“,

welche fast schon die Struktur, in der sie sich befinden, zu reflektieren scheinen – oder zumindest die Gedanken, die sich Leser*innen dazu machen könnten.

Manchmal steigert sich die Stimme des lyrischen Ich in ein fast schon komisches Schimpfen, das aber dann mitunter zu einem eindringlichen Auseinandersetzen gerinnt. Auch auf der Mikro-Ebene bleibt die Bewegung faszinierend: zwei ähnlich-klingende oder sonst wie aufeinander verweisende Worte können gemeinsam zu einer Weiche werden, die den Text in neue Bahnen lenkt; manchmal verbinden sich zwei Motive zu einem neuen oder schon mal aufgeworfenen Narrativ; aus zwei Details entsteht ein Komplex oder umgekehrt.

Ein Übergeben, so lautet der Zusatz des Titels, und ich verstehe diesen Zusatz als „Überbringen“ wie auch als „Kotzen“, denn der Text klingt mal wie eine Handreichung, besonders in meditativen Passagen wie diesen:

„Man begehrt, was man jeden Tag sieht, oder zu sehen
gewohnt war, bis zu einem bestimmten Alter. Dann
sucht man, was man einst begehrte. Immer wieder.“

und dann wieder wie ein Wüten und Raffen – darin auch viel Körperliches, worin auch wiederum ein Verwinden steckt, das Verwinden einer Liebesgeschichte, die das lyrische Ich „überlebt“ hat; eine weitere Ebene, ein weiterer roter Faden, der sich durch den Band zieht.

„Über Nacht kommt der Winter
doch noch, Januar in Jade,
es liegt Schnee, die Sonne scheint;
ich habe Liebe überlebt
und werde über ihr alt.“

Ich muss ehrlich zugeben, dass es mir schwergefallen ist, die verschiedenen Fäden und Ebenen unter einen Hut zu bringen oder sauber voneinander zu trennen. Das Motiv der Barke/des Schiffes, das eine wichtige Rolle spielt (als Bild für die Lebenstüchtigkeit, aber auch verknüpft mit dem Eingangssatz über die Fermate), kann ich nur in Teilen mit der Liebesgeschichte zusammenbringen; das Motiv der Pferde, die zu Seepferden werden, das Motiv des Meeres als Lebensgrundlage, das Motiv der Äpfel (sowohl Aug-Äpfel, als auch Holzäpfel, Stechäpfel – darin schwingen potenziell noch religiöse Bezüge mit: Sündenfall, aber auch im Stech-Apfel die Dornenkrone), das Motiv der Käfer u.v.a. – in ihnen allen blitzen faszinierende Metaphorik und Überlegungen auf, die ich aber nicht auf einen Nenner bringen kann (dazu kommen noch eingeflochtene Zitate, die einzelne Teile wiederum in größere Kontexte stellen und die Arbeiten von Ruth Tesmar, die extra für diesen Band konzipiert wurden und mit den Texten wechselseitig korrespondieren).

Man braucht aber einen solchen Nenner auch nicht, um beglückt in Kohms Werk zu lesen, das einem vieles “übergibt”, das man drehen und wenden und genau in Augapfelschein nehmen kann, einen aber auch hineinzieht in sein Geschehen, seine Ansprüche und Aussprüche; man wird als Leser*in in viele Richtungen geschickt und muss diese Reisen gern unternehmen.

Ein besonderes Logbuch, ein Besinnungscontest, eine Verästelung und Verrätselung – man könnte „Phosphor, ein Übergeben“ mit vielen Namen belegen, keiner würde es wohl ganz zu fassen kriegen. Aber letztlich findet sich in dem Text selbst ein kleines Eingeständnis – dahingehend, dass das Gedicht selbst gar nicht wissen kann, was es meint, worauf es abzielt, wohin die Reise mit ihm geht, was es auslöst.

„Das Gedicht; es weiß nicht mehr, wo es herkommt. Wie
der Pfeil der sich an den Bogen nicht erinnert und nicht
an die Hand, an die Augen, die sein Ziel bestimmen
wollten. Es trifft bewusstlos ins Ziel, oder verfehlt es.“

All dies hier, im Licht, geht mit


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„Lichtstrahlen wärmten uns den Rücken
schoben uns an wie warme Windhände
auf dem Weg unsere Schatten vor Augen
rhythmisch bewegt durch unser Gehen

[…]

Blieben verhaftet unseren Schatten
dem mühsamen Weg nach oben zur Kuppe
wo alle Richtungen wieder offen
wir uns drehten zur Sonne“

Fast schon programmatisch klingt der Titel von Sandra Hubingers zweitem Gedichtband: „wir gehen“. Und tatsächlich ist der Titel in Teilen auch Programm: ein nicht näher definiertes Wir bewegt sich durch Landschaften, gemeinsame Tätigkeiten, später Erinnerungen. Aber der Reihe nach.

Im ersten Kapitel sind es vorwiegend herbstliche und winterliche Umgebungen, die vollzogen werden. Lichtzustände, Farben, feinste Be- und Entzifferung von Auswüchsen, Abläufen – wie ein große Kulisse, die in die eigene Blutbahn gespült wird, zieht das Außenweltliche vorbei, zieht uns hinein in seine Gegebenheiten. Oder sind wir es, die in einem bestimmten Moment aus einer bestimmten Konstellation von Natur eine Gegebenheit machen?

„Eine Nebelhaut schwamm über dem Mischwald
unser Atem dampfte uns voraus als würden wir
gezogen von einer Lokomotive so schwarz wie
der Acker ringsum da stapften wir querfeldein“

Der Mensch kann sich als momentane Auswirkung seiner eigenen Handlungen wahrnehmen. Kann der Mensch auch die Natur als momentane Auswirkung ihrer Prozesse wahrnehmen? Oder: kann er sie überhaupt anders wahrnehmen (begreifen kann er sie durchaus als etwas anderes, aber wahrnehmen)?

Vielleicht mute ich Hubingers Gedichten zu viel zu, wenn ich diese, sehr verwinkelten Fragen über sie stülpe. Aber wenn sie auch nicht auf sie abzielen, setzen sie sich doch auf beeindruckende Weise mit ihnen auseinander – auf welche Weise unsere Wahrnehmung zur Natur durchdringt und wie die Natur unsere Wahrnehmung durchdringt.

„Schneeverwehungen in Gips gegossener Atem
Prozesse angehalten Zurechtgesponnenes mit
Seidenschlingen gebunden gefroren zu winzigen
Borsten die Behaarung junger Wolfsspinnen“

Schon im zweiten Kapitel wird diese Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Mensch-Natur noch auf andere Weise deutlich, denn jetzt wird der Naturkontakt intensiviert und gleichsam kultiviert: es geht ums Ernten, Jäten, Pflanzen. Die Erde bringt hervor und die Erde bleibt an den Fingern, unter den Nägeln, wenn man sie berührt, in ihr herumwühlt; sie nimmt auf und gibt.

Oft wird die Natur (in der Wissenschaft) als ein selbsterhaltendes (sich selbst erhaltendes) System begriffen, ein Apparat der besonderen, aber dennoch schematischen Art, in dem alles letztlich vorhersehbar ineinandergreift. Menschen glauben jedoch (in der Regel) an höhere Prozesse, eine ganze Kultur aus Vorstellungen/Hoffnungen ist entstanden, in der die höheren Möglichkeiten des Menschen zutage treten sollen. Hubingers Beobachtungen und Darstellungen erden diese Vorstellung auf eigenwillige und anschauliche Weise.

„Das Summen schwoll an als löste
sich vom Baum ein Pfropfen wir mieden
die Bestachelten in den Blüten
Flügelpaare motorisiert mit vollen Pollenhosen“

Ihre Gedichte gehen sehr nah heran an die Phänomene, schildern die Abläufe und Strukturen von Dingen und Erfahrungen, bis sich darin mitunter Konzentrationen von kaum fassbaren Einheiten und Verrückungen auftun.

Trotz des teilweise fast schon dokumentarischen Stils, gibt es immer wieder sehr starke Bilder, die umso größere Wirkung entfalten, weil man in den akribischen Darlegungen der Gedichte manchmal nicht mit ihnen rechnet.

„Die Treppe hinab schwenkten wir zwischen uns
die Büchertasche schüttelten sie dass die Wörter
von einem Buch ins andere sprangen
wie in unbekannte Häuser einstiegen“

Während im dritten Kapitel eher luftigere Töne angeschlagen werden und Vögel zu den unterschwelligen Protagonist*innen avancieren und im vierten Kapitel Strände und das Meer Einzug halten, ist das folgende Kapitel eine Besonderheit.

Die Gedichte in diesem fünften Kapitel sind inspiriert von Alan Weismans Buch „Die Welt ohne uns“, in welchem der Autor imaginiert, was passieren würde, wenn die Menschen von einer Sekunde zur nächsten von der Erde verschwinden würden, Schritt für Schritt – zunächst, was die nächsten Tage passieren würde, dann die nächsten Jahre und Jahrzehnte und schließlich, was bleiben würde von unserer Zivilisation, nach tausenden von Jahren.

Diese Gedichte sind aber nicht nur besonders, weil sie von den Überlegungen des Buches inspiriert wurden, sondern auch, weil das charakteristische Wir/Uns der anderen Gedichte fehlt. Hier wird dann spätestens auch deutlich, dass der Titel „wir gehen“ auch anders gedeutet werden kann: nämlich als ein „wir verschwinden“.

Vor dem Hintergrund dieser zweiten Bedeutung bekommt auch die Auseinandersetzung mit der Natur in den vorangegangen Kapiteln eine zusätzliche Nuance: die Beobachtung ihrer Prozesse, deren Bestandteil auch wir eines Tages wieder sein werden (unfähig, die herausragende Position, die Warte der Beobachtung, zu halten), wird zur Vergegenwärtigung der Sterblichkeit, des Verschwindens trotz der Fülle, trotz aller Wahrnehmung, allen Aufnehmens.

„Unsere Bewegungen spalteten sich ab
von uns geweht über die Ebene gleich Rauch
sich tummelnde Phantome uns nachahmend
schwebten sie ins Unterholz wo es knisterte“

All dies Aufgreifen der Natur also nur ein geschickter Spiegel für die existenzielle Geworfenheit des Menschen? Natürlich nicht nur. Viel von dem, was ich hier ausgebreitet habe, kann man getrost als Metaphysik abtun, die ich für mich aus der Physis dieser Gedichte abgeleitet habe, die sich aber nicht zwingend aus ihnen ergibt. Ihre Sinnlichkeit, die weder wirklich grob noch wirklich fein ist, ihre ganz eigene, fast unbeteiligte Zärtlichkeit, ihre im „wir“ konzentrierte, aber nie ganz fassbare Teilhaftigkeit, die manchmal fast wie eine Teilnahmslosigkeit wirkt, das alles kann auch ganz für sich stehen, braucht keine Theorie zum Anlehnen.

„Als eine aus dem Takt geschlagene Partitur
erschien uns diese Natur wir notierten ihren
Pulsschlag ihre Fieberkurve den höchsten Ton eines
Singvogels das Pianissimo von rieselndem Sand“

Während im sechsten Kapitel eine fast endzeitliche Stimmung herrscht, in jedem Fall kryptischere, feingliedrige Motive dominieren, passiert im letzten siebten Kapitel ein weiterer Schwenk und entrückt das Geschehen in die Kindheit, in die Zeit der Spiele und Entdeckungen.

Diese letzte Transformation zeigt noch einmal, dass ich mir hier den Mund fusselig reden könnte und trotzdem einige Aspekte der Gedichte verfehlen würde. Diese Gedichte agieren scheinbar wenig und präsentieren doch so viel, vollziehen bloß nach und sind doch bemerkenswert vielschichtig, wenn man sich einmal anschickt, sie wirklich anzuschauen und nicht nur zu durchqueren.

„Mit dem Kompass einer Piratenkindheit
betraten wir das Hausinnere: die Nadel
schlug aus stach mehrmals in die Herzwand
als wir uns drehten um Achsen von

Erinnerungen die ächzten brachen
Himmelsrichtungen vergaßen doch zog
uns magnetisch die Wendeltreppe“

Ungefiltert: Liebeskummer und Depression


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„mein erster schwarm war Benny »Düsenjet« Rodriguez. dieser junge rannte so schnell, dass er zu fuß fliegen konnte. wäre ich ein tier, dann ein kolibri. wenn ich kolibri sage, meine ich, zuweilen vergessen meine hände, wie man etwas hält, werden zu zwei teetassen in einem erdbeben. ich bin ein gerassel zersplitterter knochen. wenn ich sage: mein körper, meine ich offene eingeweide und noch einiges mehr. […] sitzt du je am ende eines bettes und lauschst der drehung der welt? ich höre dieses lied überall. wenn ich sage: dieses lied, meine ich die zeit. die zeit ist eine heilige katastrophe in gestalt geerbter zifferblätter, die nicht zu meinen handgelenken passen. das einzige instrument, das ich zu spielen weiß, ist ein muskel. ich mag meinen körper am meisten, wenn ich mich nicht sorge, wie viel platz er einnimmt.“

Es war ein einziger Auftritt, der die Kanadierin Sabrina Benaim auf einen Schlag berühmt machte. 2015 trat sie beim NPS (National Poetry Slam) auf und trug dort ihr Gedicht „explaining my depression to my mother/wie ich meiner mutter meine depression erkläre“ vor. Bis heute wurde das Video des Auftritts 9,3 Millionen Mal angeklickt.

Im Video ist eine Performerin zu sehen, die mit ihrem Gedicht zu ringen scheint und es doch mit aller Leidenschaft vorträgt; eine Intensität, eine Unbedingtheit liegt in ihrer Stimme, die bricht und dann wieder hervorbricht, hinter der man (auch wenn es eine Performance sein mag) Angst in großen Wellen anbranden hört. Es ist beeindruckend und schmerzhaft, sich diesen drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden langen Dialog anzuhören. Ein kleiner Ausschnitt:

“mom,
my depression is a shapeshifter
one day it’s as small as a firefly in the palm of a bear
the next it’s the bear
on those days I play dead until the bear leaves me alone/

mom,
meine depression ist eine gestaltwandlerin;
an einem tag ist sie so klein wie ein glühwürmchen in der tatze eines bären,
am nächsten ist sie der bär.
an solchen tagen stelle ich mich tot, bis mich der bär in ruhe lässt.

[…]

anxiety is the cousin visiting from out of town
that depression felt obligated to invite to the party.
mom, I am the party.
only I am a party I don’t want to be at./

die angst ist der cousin, der von außerhalb der stadt zu besuch kommt,
und die depression fühlt sich verpflichtet, ihn zur party mitzubringen.
mom, ich bin die party!
nur bin ich eine party, auf der ich nicht sein will.“

(auf Englisch kann man das ganze Gedicht hier nachlesen;)

2017 erschien dann „Depression & Other Magic Tricks“. Der Titel wurde bei der deutschen Ausgabe (aus mir persönlich unbegreiflichen Gründen) geändert in „Das Leben und andere Zaubertricks“. Möglicherweise wollte man das Wort Depression umgehen (wobei es ja trotzdem auf dem Cover steht, als Teil des englischen Originaltitels). Was absurd wäre, wenn man bedenkt, dass es in Benaims bekanntesten Gedicht und auch in anderen Texten in dem Band darum geht, Tabus zu überwinden, ungefiltert über Schmerz und Angst und mental health zu sprechen, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Verharmlosung, die in der deutschen Übersetzung des Titels stattfindet, untergräbt außerdem dessen Ambivalenz.

Denn natürlich ist Depression kein Zaubertrick (das Leben auch nicht). Die Übersetzung von „magic trick“ trägt hier (meiner Meinung nach) zusätzlich zur Beschönigung bei. Zaubertrick – in dem Wort steckt etwas Schelmisches, Kindliches, aber auch Virtuoses und zu wenig von der Fremd- und Selbsttäuschung, die die das Wort ausdrücken soll. In Übersetzungen wie „andere Tricks/andere (dunkle) Täuschungen“ sähe ich mehr von der ursprünglichen Ambivalenz herübergerettet.

„an den tagen, da ich aufwache
& mein name ein beschönigendes wort ist
für deprimiert oder ängstlich oder was auch immer,
trinke ich meinen kaffee, während die unbelebten gegenstände
in meiner wohnung zu mir sprechen.

[…]

was man dir nicht sagt über selbstpflege:
dass sie dir das gefühl geben kann, der coach zu sein,
der spielführer & jeder … andere … spieler.
oh, & das maskottchen.
sie kann dir das gefühl geben, vornehmlich das maskottchen zu sein.“

Benaims Gedichte haben eben auch nichts Lockerleichtes, Selbstbewährtes. Vielmehr sind sie aufwühlende und nachhaltige Auseinandersetzungen. Nicht nur mit Depressionen, sondern auch mit der Abwesenheit des Vaters, unerwiderter Liebe und (physischer) Krankheit. Es sind schonungslose Reflexionen über das eigene Befinden und den Umgang damit; über die Mechanismen, in denen man gefangen ist. Manchmal ist ihre Bildsprache wuchtig und originell, dann wieder zart und sehr gemäßigt.

Dieser Wechsel ist ein bisschen so, als würde jemanden ein furioses, heftiges Klaviersolo spielen und dann plötzlich herumklimpern, melodisch zwar, aber sehr langsam, fast ohne Dynamik, sich vorantastend. Es gibt Gedichte von Benaim, die ein fortlaufender Prosatext  (wie das Gedichtbeispiel am Anfang) und andere, die lediglich so etwas wie kleine Notizen sind. Zwischen diesen Polen, zwischen Expressivität und Vorsicht springt ihre Sprache hin und her, mal nur ein Funke, mal ein unter Hochspannung gesetzter, leuchtender Kreislauf.

„ich befinde mich im lebensmittelgeschäft, weil ich traurig bin. ich
bin traurig, weil niemand in mich verliebt ist. niemand ist in mich ver-
liebt, aber jeder liebt mich. jeder liebt mich, weil ich gut darin bin, men-
schen ein gutes gefühl zu geben. ich bin gut darin menschen ein gutes
gefühl zu geben, weil ich häufig an mir selbst gearbeitet habe. ich arbei-
te an mir selbst, weil ich häufig traurig bin. ich bin häufig traurig, aber
wenn ich menschen ein gutes gefühl gebe, fühle auch ich mich für eine
kleine weile gut. ich fühle mich für eine kleine weile gut, bis ich einsam
werde.“

Ich würde Sabrina Benaim zu einer Gruppe von Dichterinnen und Performerinnen zählen, die in den letzten Jahren durch Texte und Auftritte gleichermaßen auf sich aufmerksam gemacht haben (wie etwa auch Koleka Putuma, von der 2019 ein starker Band bei Wunderhorn erschien, oder auch Kate Tempest, deren Bücher regelmäßig im Suhrkamp Verlag erscheinen). Bei allen drei genannten Beispielen haben die Texte einen starken politischen Aspekt, setzen sich mit Homophobie, Rassismus (Putuma), Kapitalismus, Entfremdung (Tempest) und mental health (Benaim) auseinander.

Vermutlich (hoffentlich) wird man einmal auf diese Gruppe von jungen Frauen zurückblicken und erkennen, dass sie wichtige Impulse für die Diskussionen der Gegenwart geliefert und geholfen haben, bestimmte Themen in die Gesellschaft hineinzutragen. Gleichwohl will ich Benaims Lyrik nicht nur auf den Aspekt der mental health-Thematisierung reduziert sehen. Ihr erster Gedichtband enthält letztlich Gedichte über all die Ängste und Hürden eines jungen Lebens: Selbstfindung, Zurückweisungen, Angst vor der Zukunft, Struggle mit der Kindheit, dem Aufwachsen, Perspektivlosigkeit, erste Verluste, erste Rückschläge. Ihre Texte sind nicht lebensklug, aber die vielen Konfrontationen darin machen aus ihnen so etwas wie einen Überlebens-Bericht, ein Soforthilfe Kit für die Verletzungen, die das Leben als (junger) Mensch mit sich bringt. Insofern ist die Übersetzung des Titels vielleicht doch gerechtfertigt (aber selbst dann wäre damit immer noch mehr verloren als gewonnen).

„um zu vergessen,
vergräbt sich das
artischockenherz in blättern,
hin zur quelle des wahren hungers,
um satt auszusehen,
um üppig zu erscheinen

*

meine großmutter sagt,
herzschmerz sei
eine hugrige raupe,
die gefüttert werden muss,
damit sie flügel ausbilden
& fortfliegen kann“

[…]

in meinem zentrum hängt eine kleine glocke,
ich weiß sie nicht zu läuten,
aber ich habe sie läuten hören.
ich kann nicht aufhören, daran zu denken,
wann sie das nächste mal läuten wird.“

Von Ron Winkler beschenkt


Ron Winkler gehört zu jenen Dichter*innen, bei denen man schon nach wenigen Seiten Lektüre den Eindruck bekommt, sie entnähmen ihre Worte und Sätze nicht der Sprache, sondern beschenkten im Gegenteil die Sprache immerfort mit ihren Wendungen und Formulierungen.

Natürlich entsteht dieser Eindruck gerade deshalb, weil solche Dichter*innen in großem Umfang auf vorhandenes Sprachmaterial zurückgreifen, damit arbeiten. Es entsteht eine elementare Poesie, eine dingliche, und in Winklers Fall sind Witz und Geist das Magma in diesen Dingen, das aus ihnen an die Oberfläche sprudelt und sich darauf verläuft, gerinnt zu Kunstwerken, halb aus Dingmaterial und halb aus Sprachmaterial.

Es ist, trotz aller Euphorie, schwierig, Leuten diesen Gedichtband bedenkenlos ans Herz zu legen, vor allem solchen, die bis dato wenig zeitgenössische Lyrik gelesen haben. Oder anders formuliert: niedrigschwellig sind Winklers Gedichte nicht, zumindest auf den ersten Blick.

Doch vermutlich ist die entscheidende Frage, mit welcher Motivation man diesen (oder auch manch anderen Lyrikband) zu lesen beginnt. Mit dem Wunsch nach konkreten Erkenntnissen und klaren Definitionen wird man dieses Buch vermutlich vergeblich durchblättern. Ein besserer (und eigentlich auch schönerer) Ansatz wäre, wenn man das Buch mit dem Wunsch aufschlagen würde, eine Interaktion zwischen Sprache und Welt zu erleben.

Um das auszuführen: Wo in vielen Büchern die Sprache zur Erklärung der Welt dient, ihr also untergeordnet ist, begegnen sich bei Winkler Sprache und Welt (und dazwischen noch das Ich) auf Augenhöhe (das ist im Grunde die Essenz von Poesie, Winkler treibt sie mit Witz und Spiel auf so manche hochgelegene Spitze).

Es beginnt ein Wechselspiel zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, bereits Formuliertem (das als Phrase, Stereotype, Klischee, etc. auch schon Teil der Welt, der Dinge geworden ist) und im Werden begriffener Formulierung, Idee „von“ und Idee „zu“.

Vom Politischen bis zum Persönlichen hat Winkler alles mögliche in seinen Gedichten vermengt, manchmal mit Anflügen von Zärtlichkeit, manchmal mit Winkelzügen von Brachialität. Manchmal kommen einem seine Texte wie Spiele vor, manchmal kommt einem im Lichte der Gedichte aber eher die Welt wie ein Spiel vor, bei dem die Gedichte vehement auf eine Änderung der Regeln pochen oder sie einfach flugs beschließen, einen neuen Pfad eröffnen.

Hier, im Anhang dieser kurzen Rezension, zur Anschaulichkeit ein paar Sätze und Halbsätze mit denen das Buch die Leser*innen beschenkt. Wer davon angetan ist, der sollte das Buch schleunigst kaufen:

der wunderbare Strichcode der Nadeln einer Tanne

Erholung finden am dafür vorgesehenen Tropfen.

das muss jetzt schleunigst aus den Tastorganen.

ich finde es okay, wenn Dinge irgendwann Gebirge werden.

ihnen [Wiesen] zugefügt ein gleißendes, ein mehrfach haltbar angekreuztes Zwitschern.

schau an, was wirkt wie von sich selbst gewünscht.

ich kann nicht durchs Salamanderfluchtportal.
doch ich kann.

bist du ein gutes Zeichen? wie ist denn deine Käferleistung,

die Partitur des edlen Ächzens eigener Erfahrung.

frag dich durch die Erde, durch alle
nicht ans Stromnetz angeschlossenen Dimensionen von Erde.

ich schäume nicht mit
Einsamkeit.

gewiss, oft macht Grau den Unterschied
und nur noch Laien können helfen.

bloß nicht per Volk
entschieden sein.

für die Türsteher der Clubs in Gegenden, die in der Bibel
unter »Ich liebe dich« firmieren,

vielleicht bin ich noch nicht
in Einzigartigkeit zerlegt.

wie wir wissen, sind Möwen eine Sprachnachricht fürs Leben.

Tausende von kleinen Unterwassertüren.

hast du ein Holster
für das Gute?

produziere Helium für die Zeugen.

(ich fühle mich persönlich angeblumt)

schau erst nach rechts und links, bevor du dein Gehirn durchquerst,
mit deinen Anteilsscheinen an Atlantis.

ich überdauerte in eine eigene Heimat.

auf Lichtbelange angewandt.

ich wirkte klein
neben dem Panzer. konnte nicht strahlen
wie Uran, dafür der Beste sein
in Muskelkater, wenn es darauf ankam.
die Liebesbriefe, die ich schrieb, pastellene
Panikparadiese.

ich lass die Fragezeichen
einseitig geöffnet, muss niemanden vereisen.

ohne Trennpronomen
sich ins wilde Sichverlieren begeben.

unsere Wangen folgen keinem
Ablaufplan.

still stehen die Berge wie von sapphischen Motoren angetrieben.

schau ins Gedicht, vielleicht findest du dein eigenes Licht.

Ein paar Rezensionen zu Gedichtbänden


Die neusten Rezensionen zu Gedichtbänden:

“Plötzlich alles da” von Dorothea Grünzweig

“Séptimas” von Klaus Anders

“Depression and other magic tricks” von Sabrina Benaim

“In Erwartung der Zeichen” von Peter Engel

“Vibrationen” von Kae Tempest

“Am Ende der Stadt” von Adina Heidenreich

Endlich eine umfassende Anthologie zur dänischen Dichtung


Licht überm Land
Es ist nur zu hoffen, zu wünschen, dass sich diese Tendenz fortsetzt, vielleicht sogar Schule macht: Mit „Licht überm Land“ bringt der Hanser Verlag die dritte größere Lyrikanthologie in zwei Jahren heraus (letztes Jahr „Grand Tour“ und „Im Grunde wäre ich lieber Gedicht“). Während diese letzten Anthologien eine breite Palette von Autor*innen aus verschiedenen Ländern und Zeiten vorlegten, ist die neuste einem einzigen Land und seinen Dichter*innen gewidmet: Dänemark.

Ich habe vorab ein bisschen recherchiert und festgestellt, dass es zwar einige Lyrikanthologien zur schwedischen (bspw. „Von Nordenflycht bis Tranströmer“, Edition Rugerup oder „Schlittenspur durch den Sommer“, Wunderhorn), zur isländischen („Isländische Lyrik“, Insel Verlag) und zur norwegischen („So schmeckt ein Stern“, Edition Rugerup oder „Sternenlichtregen“, Wunderhorn) Lyrik gibt, aber keine (lieferbare) zur dänischen. Das Buch füllt also eine Lücke.

Und füllt sie fulminant aus. Chronologisch wird hier die ganze Breite der dänischen Dichtung, von den mittelalterlichen Balladen, über Klassiker wie Hans Christian Andersen, Jens Peter Jacobsen und später Inger Christensen, bis zu den neusten Namen (einige der letzten Dichter*innen sind nach 1990 geboren) erschlossen, abgesteckt. Die Herausgeber haben zudem die Strömungen, Moden und Entwicklungen in den Epochen herausgearbeitet und grob voneinander abgegrenzt.

Beim Lesen fällt auf, wie eigenwillig sich die dänische Lyrik in der Nachkriegszeit, bis heute hin, entwickelt hat. Vom Lakonischen bis zum Brachialen lässt sich hier alles finden, aber eben voll der Eigenwilligkeit. In jedem Fall lohnt allein schon die Dichtung dieser Epoche die Anschaffung der Anthologie.

Wie gesagt, ich wünsche mir, dass diese neue tolle Anthologie auf absehbare Zeit nicht die letzte bleiben wird, die Hanser herausbringt, denn wieder fühle ich mich (wie schon zuletzt im Fall der anderen beiden Anthologien, sowie natürlich durch die regelmäßig erscheinenden Bände in der Edition Lyrik Kabinett) reich beschenkt. Ein ganzer Dichtungskosmos ruht hier zwischen diesen hellblauen Einbanddeckeln, wirft Licht über ein Land und seine Zeiten.

 

Eine herausragende Lyrik-Anthologie


Natur! Natur, die viel besungene, die schützenswerte, die romantisierte, die arrangierte, die psychologisierte, die fragmentierte, die marginalisierte, die ausgebeutete. Idylle, Trieb, Zerstörung, Heimat, Ressourcen, Frieden, Leben, Erholung, Wildnis, etc. – kaum ein Begriff ist mit so vielen Assoziationen und Ideen verbunden, geradezu verstellt von ihnen, wie die Natur. Und es gibt ja nicht mal „die“ Natur. Es gibt die Natur des Kosmos, es gibt den Flecken grün oder Wald nah bei der Haustür, es gibt die Gebiete hinter den Rändern der Stadt, jenseits des Urbanen, und der Begriff Natur kann auch als Eigenschafts-, als Wesenswort dienen (Bsp.: Die Natur des Menschen).

Naturlyrik war eine Zeit lang ein bisschen aus der Mode (nicht bei allen Schreibenden in allen Sprachen und Ländern wohlgemerkt), was sich mit dem Auftreten der Anthropozän-Debatte (siehe auch: „all dies hier, Majestät, ist deins“, eine Lyrikanthologie bei Kookbooks, die Gedichtbände „Ouisa“ von Verena Stauffer und die neusten Gedichtbände von Daniel Falb, sowie das Buch „Anthropozän: Dichtung in der Gegenwartsgeologie“ beim Verlagshaus Berlin) und der Eco-Poetry durchaus geändert hat.

Die Anthologie von John Burnside verlässt sich allerdings im hohen Maße auf Klassiker und arrivierte (wenngleich in Deutschland teilweise unbekannte) Autor*innen und schöpft eher wenig aus diesen neusten Bewegungen. Es ist in Folge dessen auch, trotz des gegenwartsbezüglichen und exzellenten Vorwortes von Burnside, eine Anthologie, die den Begriff Natur eher facettenreich umkreist, statt ihn in Kontexte einzusetzen und über dieses zu definieren.

Das ist aber weniger ein Versäumnis, sondern vielmehr eine gelungene Verlagerung. Wie der Titel es schon andeutet: hier soll es primär um die Natur gehen, wie sie erfahren, erlebt wird, nicht um ihre kontextuelle Verortung; kein Teilzug ihres Wesens soll ausgelassen werden, weil er nicht in derzeitige Debatten passt.

Die Autor*innen reichen von Homer bis zu Nick Lantz und Burnside hat viele prominente Namen aus vielen Weltgegenden untergebracht, in fünfzig Fällen Erstübersetzungen und Erstveröffentlichungen. Als deutschsprachiger Lyrikleser fehlen mir „natürlich“ einige Namen, von Sabine Scho über Daniel Falb und Marion Poschmann bis zu Jürgen Brôcan (etc.). Aber auch bei den Klassikern fehlen mir Autor*innen wie Robert Frost oder Inger Christensen, oder, aus der Gegenwart, Jen Hadfield.

Aber an Anthologie-Auswahlen gibt es immer etwas zu kritteln und das, was da ist, spricht für sich. Ja, „Natur!“ ragt aus dem Feld der Themen-Lyrikanthologien heraus und sollte in keinem Bücherschrank fehlen, denn es versammelt nicht einfach populäre, immer wieder gedruckte Texte, sondern eine sorgsam getroffene Auswahl, die nahezu alle Aspekt der Naturerfahrung, auf vielerlei Arten und Weisen, illuminiert. Sehr empfehlenswert!