Herman Melvilles „Mardi“, zu seinem zweihundertsten Geburtstag bei Manesse neu aufgelegt (vorher 1997 erstmals in der ACHILLA-Presse), erschien ursprünglich zwei Jahre vor „Moby Dick“ und ist wohl das einzige von Melvilles Werken, dass es an Umfang und Kühnheit mit seinem Meisterwerk aufnehmen kann.
Gleichsam stellt es auch eine Art Vorarbeit zu „Moby Dick“ da, einen Übergang zwischen den launig-abenteuerlichen, stark autobiographischen Südseeeskapaden seiner beiden früheren Romane „Typee“ und „Omoo“ (für manche Interpret*innen ist „Mardi“ eine umfangreichere und ausgefeiltere Version von „Typee“) und der philosophisch-unterlegten Stilvielfalt von „Moby Dick“. Melville selbst schrieb im Vorwort:
„Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann.“
Inhaltlich ist das Buch im Prinzip eine einzige große Fabelei, ein Beispiel für jenes unbändige Erzählen, das meist mit den frühen Zeiten des Romans und/oder mit einigen frühen Beispielen amerikanischer Literatur assoziiert wird, bspw. mit Miguel de Cervantes „Quijote“, den Werken von Francois Rabelais und Laurence Sterne, bzw. Walt Whitmans „Grashalme“ oder Edgar Allen Poes einziger Roman „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“.
Zwar beginnt das Werk noch harmlos, mit einem Walfänger und einer Flucht, doch schon nach etwa hundert Seiten fängt die Handlung an, sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit kontinuierlich selbst zu überrumpeln, abzuschütteln. Zahllose Charaktere und unzählige Schauplätze tummeln sich auf den folgenden sechshundert Seiten und in jeder seiner 169 Szenen ist das Buch schon auf dem Sprung zur nächsten. Neben größeren philosophischen Abschweifungen ergeht sich das Buch hier und da auch in satirischen Einlagen, Sagen- und Märchenkosmen werden aufgeworfen und wieder eingestampft, alle paar Seiten eine neue Wendung, beseelt von allerhand.
Es gibt wenige Bücher, mit denen man wirklich eine Reise ins Ungewisse, Unentdeckte, teilweise ins Unergründliche antreten kann, aber „Mardi“ ist eines dieser unbändigen Literaturereignisse, die einen daran erinnern, das dem Erzählen eigentlich keine Schranken gesetzt sind und den Erzähler*innen bis heute alle Mittel, von Willkür bis zu Psychologie, zur Verfügung stehen. Melville schöpft grandios aus dem Vollen, dennoch ist das Buch streckenweise auch eine Zumutung, eine schillernde und beeindruckende, voller Pathos, der heute undenkbar wäre, aber gerade deshalb eine gewisse Anziehung besitzt, wenn man sich darauf einlässt.
Großartig und auf jeden Fall das Anmerkungs- und Fußnotenverzeichnis, das das Buch erst zur Gänze für heutige Leser*innen zugänglich macht. An die 600 Fußnoten hat der Übersetzer Rainer G. Schmidt dem Werk beigefügt, die Begriffe erklären und Spekulationen zur Lage von Orten beitragen – und vieles mehr. Mit einem solchen Kompass kann man sich getrost auf das Abenteuer einlassen!