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Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu Julia Ebners “Wut”


Wut Wir leben einer Zeit der kumulativen Extreme (und des kumulativen Extremismus), einer Zeit also, in der verschiedene (radikalisierte) Ansichten und Krisenfälle sich gegenseitig aufschaukeln und die Fronten verhärten. Das hat viele unterschiedliche Gründe, die in den meisten Fällen ihre Wurzeln in der verschleppten Auseinandersetzung mit (oder der Nichtbeachtung von) den Folgen technologischer und historischer wie geopolitischer Veränderungen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche haben.

Die Einmischung der USA und ihrer Bündnispartner in das (dadurch fast gänzlich zerstörte) Mächtegleichgewicht im Nahen Osten (bei gleichzeitiger Abhängigkeit von den Rohstoffen dieser Region) und generell das postkoloniale (aber nicht postkapitalistische und damit nicht wirklich postkoloniale) Chaos, hat in den letzten Jahrzehnten und Jahren zu Dynamiken geführt, die Bürgerkriege, Fluchtbewegungen und zusätzliche Verheerungen zur Folge hatten. Gleichzeitig bröckelte das scheinbar im kalten Krieg errungene „westliche“ Machtmonopol und der Kapitalismus (und mit ihm die Globalisierung) befindet sich wegen seiner neoliberalen Zuspitzungen endgültig in einer schweren Krise, die Mitteleuropäer*innen nur deswegen so wenig zu spüren bekommen und verleugnen können, weil sie im Auge des Sturms sitzen und immer noch glauben, sie könnten agieren, obgleich sie nur noch reagieren.

Aber eigentlich spüren auch wir diese Krise, die eine ökonomische und ökologische Krise ist und eine Herausforderung, der sich die Menschheit längst geschlossen gestellt haben müsste. Was hält sie davon ab? Hauptsächlich der Glaube, man müsste immer noch den Kuchen verteilen, obwohl es längst darum geht, dass vielleicht bald keine Zutaten mehr da sind. Albert Camus unheilvolle Diagnose, dass menschliche Geschichte ein Kampf um Privilegien und nie wirklich die Suche nach einer einheitlichen Vision war und ist, lebt fort.

Als Analystin bei der Londoner Extremismusbekämpfungsorganisation Quiliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde, war es mein oberstes Ziel, die Pläne von Terroristen frühzeitig zu durchschauen und zu durchkreuzen. […] In meinen Gesprächen mit Extremisten in rechtsradikalen Foren erkannte ich, dass das Drehbuch der Rechtsextremen dem der Islamisten erstaunlich ähnlich ist. […][…] Die Rhetorik und der modus operandi weisen in mancherlei Hinsicht eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Beide stacheln zum Hass gegen den anderen auf, der angeblich die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert. Beide Seiten fühlen sich in ihrer kollektiven Identität und Würde angegriffen. […] Beiden ging und geht es darum, durch kontrollierte Provokation und strategische Polarisierung das selbstzerstörerische Potenzial der Gesellschaft freizusetzen, sodass sie letztendlich freie Bahn haben, um ihr eigenes radikales Modell zu etablieren. […] Dies macht die beiden Extreme faktisch zu „rhetorischen Verbündeten“.

Einer der Konflikte, der unsere Gesellschaften davon abhält (ja: abhält) sich den drängenden Fragen der Zukunft zu stellen (bspw.: Wie können wir das Ökosystem unseres Planeten retten? Wie unsere Wertvorstellungen ineinander integrieren? Wie die Erzeugnisse unserer Industrien und die Rohstoffe unseres Planeten gleichmäßig und fair verteilen?) ist der Konflikt, der sich vermeintlich an der Zugehörigkeit zu Völkern und Glaubensgemeinschaften entzündet. Längst haben sich diese Zugehörigkeiten durchdrungen (wie es in der Geschichte schon oft vorgekommen ist, ja, zur Normalität gehört), aber es gibt immer noch Menschen, die glauben, sie sauber voneinander trennen zu müssen (und zu können). Menschen, die ein binäres Weltbild pflegen und weiterhin glauben, dass die beiden Position zwangsläufig gegeneinander antreten müssen.

Julia Ebner hat ein Buch über diese Menschen mit extremen Vorstellungen geschrieben. Die darin verfolgte Hauptthese ist, dass zwei der wichtigsten extremistischen Bewegungen unserer Zeit, die islamistische und die rechtsextreme, letztlich zwei Seiten einer Medaille sind, deren Narrative sich in vielen Punkten gleichen und die sich darüber hinaus auch gegenseitig stärken. Sie nehmen die Positionen und Taten des jeweils anderen Extrems als Beispiele, um größere Gruppen oder ganze Gesellschaften zu verdammen und zu stigmatisieren und Anhänger*innen für ihre Weltsicht zu gewinnen. In diesen verzerrten und vereinfachten Ansichten ist bspw. Trump die Personifikation des Westens und die Selbstmordattentäter und fanatischen Gläubigen stellen den durchschnittlichen Muslim dar.

Obwohl es sich vielleicht von selbst versteht, ist es wichtig zu betonen, dass die meisten Muslime keine Islamisten sind und die meisten Islamisten keine Dschihadisten.

Ebner, aus Österreich stammend und in London arbeitend, versucht in „The Rage“ (sie schrieb das Buch auf Englisch) anhand vieler symptomatischer und repräsentativer Schicksale, Begegnungen und Geschichten, die Vorstellungen und Dynamiken innerhalb der rechtsextremistischen und radikalisierten islamistischen Kreise und Netzwerke zu beschreiben; zu zeigen, wie sie ihre Weltbilder in die Ängste der Bevölkerungen integrieren und wie sie diese Aktionen mit Multimedia, popkulturellen Einflüssen und sozialen Netzwerken unterstützen.

Ein wichtiger Punkt, um den sich das Buch dabei durchaus verdient macht, ist das Augenmerk, welches auf die wichtige Stellung des Narrativ gelegt wird, der glaubwürdigen und einfachen Geschichte, die der Kit sind, ohne den extreme Haltungen schnell in sich zusammenfallen würden. Die Welt ist jedem geöffnet und verstellt durch seine/ihre Interpretation der eigenen Erfahrungen und wir sind oft darauf angewiesen, dass uns die Zusammenhänge, die diese Erfahrungen (innerhalb von größeren Strukturen) bedingen, erklärt bzw. erzählt werden.

Der erste Schritt zur Bekämpfung des Extremismus besteht darin, den Geschichten von Extremisten zuzuhören. Natürlich geschieht das am besten innerhalb der jeweiligen Communities – dort, wo die unzensierten Gespräche stattfinden.

So beginnt das Buch auch mit der Schilderung einer Teilnahme an einer Demonstration der EDL (English Defence League) und an einer Diskussionsveranstaltung der Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“) – an ein und demselben Tag. Das erweist sich zum Auftakt als keine schlechte Idee, untermauern die Schilderungen der Veranstaltungen doch zum einen gleich die Grundthese, dass Extremist*innen sich letztlich – abseits dessen, worauf sie sich stützen – in ihren Forderungen und Methoden oft gleichen, während sie auf der anderen Seite, durch die Darstellung des Kontaktes mit Teilnehmer*innen der jeweiligen Veranstaltungen, die menschlichen Profile hinter den Organisationen ins Licht rücken.

Weil Extremismus stets mit der Entmenschlichung anfängt, werde ich mein Möglichstes tun, um nicht in dieselbe Falle zu tappen, und stattdessen bestrebt sein, jede einzelne Person als menschliches Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften darzustellen.

Man muss Ebner zu Gute halten, dass sie in diese Falle tatsächlich nicht getappt ist. Ihre Beschreibungen der (vielen, vielen) Personen, die im Buch auftauchen, sind sicherlich manchmal von Erschütterungen durchzogen, aber nie über ein obligatorisches Maß hinaus wertend oder verurteilend.

Überhaupt ist sie bestrebt, die Vorstellungen, die man sich auf beiden Seiten (und in der von den Extremen zunehmend eingenommenen Mitte der Gesellschaft) von den Akteur*innen der rechtsextremen und islamistischen Organisationen macht, etwas aufzubrechen. Nicht, indem sie diese Akteur*innen als missverstanden darstellt oder sie allzu stark als Opfer gesellschaftlicher und sozioökonomischer Missstände inszeniert (obwohl sie dies mitbedenkt und bei passenden Gelegenheiten auch anspricht), sondern schlicht ihre Motive und Aussagen durchleuchtet und so der Irrationalität ihrer Taten und Weltbilder ein Umfeld gibt, was ihre Ansichten zwar nicht unbedingt verständlicher oder zugänglicher macht, aber sie der Vereinfachung entzieht. Viele Täter*innen und Akteur*innen stellt sie als Menschen dar, die aufgrund ihrer Lebensgeschichten Identitätskrisen aufwiesen und sich auch deshalb für radikale Konzepte, die ihnen bei der Festlegung ihrer Identität und Zugehörigkeit halfen und Ziele festlegten, empfänglich zeigten.

Es sollte nicht vernachlässigt werden in den heutigen Diskussionen, dass die Freiheiten, die unsere westlichen Gesellschaften propagieren (auf manchen Ebenen und in manchen Ausprägungen mit einer Vehemenz, die auch schon wieder an Zwang erinnert), offenbar auch eine Belastung für manche Menschen sind, die sich nach einem klaren Selbstbild sehnen und nicht ersehen können, wie sie außerhalb von konkreten, geschlossenen Weltbildern zu einem solchen finden. Das hat natürlich einiges mit dem schnellen Tempo der Veränderungen und auch etwas mit der Wahrung von stürzenden Privilegien zu tun – ich bin kein Freund der Freund*innen von geschlosseneren Weltbildern, ich teile ihre Ängste nicht, aber ich verstehe, woher sie rühren. Sie auszuklammern, das zeigt das Buch, befördert Radikalisierung, weil sie sich als die einzige Alternative präsentieren kann.

Die Tatsache, dass wir unsere Identität nach Belieben formen können, bedeutet auch eine große Belastung: Selbstdefinition kann ein schwieriger Prozess sein, auf den nicht jeder vorbereitet ist.

Auch mit vielen anderen bequemen Vorstellungen räumt Ebner auf und es gibt einige Punkte in ihrem Buch, die sie mit wunderbarer Klarheit und Prägnanz anspricht. Dazu gehört bspw. die Rolle der Medien (und das Verhalten ihrer Konsument*innen) bei der Popularisierung von extremistischen Positionen. Sie nennt das Kind beim Namen: es gibt „unverantwortliche Medien“, die ihren Auftrag der Berichterstattung als Anlass nehmen, um reißerische und stark konnotierte Berichte über Ereignisse und Phänomene zu schreiben/zu senden, bei denen eine differenzierte und längerfristige Berichterstattung wichtig wäre, auch um die Vorurteile und eindimensionalen Vorstellungen von vielen Dingen zu korrigieren. Sie tragen mit, was sie eigentlich aufbrechen und auf verschiedene Gesichtspunkte verteilen sollten.

Aber anscheinend haben manche Medien kein Interesse daran, sich als Gegenbild zum Gerede am Stammtisch, zu Gerüchten und Vereinfachungen zu verstehen, sondern biedern sich immer mehr bei diesen Formen an (was, so meine persönliche Meinung, eine himmelschreiende Dummheit war und ist).

Man kann sich unverantwortliche Medien als Theater vorstellen, das die von Terroristen verfassten Stücke inszeniert und die Eintrittskarten für die Vorstellungen verkauft. Derweil drängt die Öffentlichkeit, die sich das Schauspiel ansieht, Politiker, auf die Bühne zu gehen, um in dem Stück mitzumachen, und zwar nach dem Drehbuch der Terroristen.

Und die Politiker*innen widersetzen sich diesem Trend nur bedingt (und stehen natürlich auch dann und wann vor einem Dilemma). Ebner schreibt:

Sichtbar zu handeln wird wichtiger als effektiv zu handeln.

Und bringt damit auf den Punkt, was derzeit allerorten geschieht, nämlich das Populismus immer mehr dabei ist, zum normalen Politikstil zu werden.

An der Geflüchtetenkrise erhitzen sich derzeit viele Gemüter und obgleich ich schon viele vernünftige Stimmen zu dem Thema gehört habe, überwiegen nach wie vor die irrationalen und stark vereinfachten Perspektiven auf dieses Phänomen. Ebner zeigt wie leicht sich dieses Thema instrumentalisieren ließ, wie einfach es zugelassen wurde. Denn genau das ist geschehen – diese „Krise“ wurde instrumentalisiert, ebenso wie es der islamistische Terror wurde.

Natürlich sind die Verbrechen, die Terroristen in Europa begangen haben, schrecklich, verwerflich, erschütternd. Aber es sind Verbrechen, wie sie jeden Tag auf dem ganzen Globus im Namen vieler Religionen, Ideen und sonstigen Motivationen begangen werden. Jeden Tag missbraucht jemand die Idee der Liebe, der Gerechtigkeit, der Vernunft, etc. um jemand anderem weh und/oder Unrecht zu tun – deswegen werden diese Ideen nicht verdammt. Eine Idee – und auch eine Religion – kann nichts dafür, wenn sie missbraucht wird. Und genau das tun islamistische Selbstmordattentäter – sie rechtfertigen etwas, das sich nicht rechtfertigen lässt, mit einer Religion, deren Schriften Raum für Ausdeutungen lassen und die von vielen anderen, die nach ihnen leben, auf eine ganz andere Weise gedeutet werden. Es gibt nicht den einen Islam. Es sollte außerdem nicht vergessen werden:

Die meisten Terroropfer sind Muslime, und die große Mehrzahl der dschihadistischen Anschläge findet im Nahen Osten und in Afrika statt. Im Jahr 2015 ereigneten sich 75 Prozent der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus in Irak, Afghanistan, Nigeria, Syrien und Pakistan.

In Europa werden die geringen Prozente derweil genutzt, um Ressentiments und Vorurteile zu schüren. Es werden gesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt, um Terrorismus zu verhindern. Natürlich müssen wir uns um Sicherheitsmaßnahmen kümmern – aber nicht zu jedem Preis. Denn wir müssen gleichzeitig akzeptieren, dass es keinen letztendlichen Schutz vor Verbrechen gibt. Sie entstehen in den Köpfen von Menschen jeglichen Alters, jeglicher Glaubensrichtung, jeglicher Herkunft – und auf die Köpfe der Menschen hat, zum Glück, niemand Zugriff. Man kann versuchen früh anzusetzen, Gräben und Isolation gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Europa hat schon vorher Migrationsbewegungen erlebt und unsere Gesellschaften können, wenn zusammengearbeitet wird, diese neue Bewegung ebenfalls verkraften und Menschen helfen, die vor Krieg und Mord und Folter geflohen sind. Natürlich werden wir teilen müssen, etwas abgeben müssen von unserem Wohlstand. Aber ganz abgesehen davon, dass wir diesen Wohlstand auch einer jahrhundertelangen Ausbeutung anderer Erdteile verdanken – was ist so schlimm daran, etwas abzugeben, wenn es hilft, wenn es eine konfliktärmere Zukunft hervorbringt? Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir wirklich leben wollen und was das für andere Menschen an anderen Orten bedeutet.

Deswegen sollte beherzigt werden, was Ebner über die Geflüchtetenbewegung kurz und prägnant schreibt, nämlich dass

eigentlich nicht Europa mit einer Flüchtlings- und Migrantenkrise konfrontiert ist. Es sind die Flüchtlinge und Migranten, die mit einer Krise Europas konfrontiert sind.

Diese Krise Europas, die sich auch im Aufkommen von isolationistischen und nationalstaatlichen Ideen zeigt und in extremen Positionen – gerichtet gegen einen Feind, der viel größer gemacht wird als er ist, um dem eigenen Extrem mehr Bedeutung zu verleihen –, wurde nicht herbeigetragen von Menschen aus Syrien und anderen Ländern. Sie fand schon früher statt und tritt nun klar zutage. Und hat ihren Ursprung einfach darin, dass wir (West-)Europäer*innen in den letzten Jahrzehnten so gelebt haben wie wir gelebt haben. Und diese unsere Einstellung muss auf allen Ebenen überdacht werden.

Ebners Buch – obgleich es sein Hauptaugenmerk auf die Ränder der Gesellschaft legt und von dort allerlei Informatives heranträgt – handelt letztlich auch von dieser Krise. Einer Krise, die so groß tobt, obwohl eigentlich nur so wenig toben und viele andere unsicher stillhalten oder mal mittoben oder sich abwenden.

Und in dieser Hinsicht ist es, trotz einiger Mängel, ein wichtiges Buch. Es will viel, es reißt viel an und es tauchen jede Menge Personen auf, die allzu schnell wieder verschwinden. Es will zu viel. Aber es scheitert dennoch nicht, denn in diesem “zu viel” geschehen immerhin allerlei Durchbrüche, die allerhand Proben liefern, von Verhältnissen, die uns umgeben und, obgleich sie extrem sind, längst die gemäßigte Sicht in einigen Punkten mehr und mehr beeinflussen, für sich gewinnen.

Es ist dieses Buch letztendlich ein Aufruf, ein Aufruf zum Dialog, der allein das Abdriften in die Extreme – die es immer geben wird, denen man aber nicht den Diskurs überlassen darf – verhindern kann. Am Ende schreibt Ebner:

Verschließen wir niemandem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was die Humanisten und die Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.

Über zweite Chancen, über Utopisches und das Wagen muss nachgedacht, geredet werden. Und es müssen Narrative entwickelt werden, die sich um das Gemeinsame und Verbindende bemühen – den Geschichten erschaffen Vorstellungen, bedingen Handlungen. Das zeigt Ebners Buch überdeutlich und dies ist, wie bereits gesagt, wohl der wichtigste Verdienst dieser Schrift. Sie wendet sich gegen Ungenauigkeit und Unverhältnismäßigkeit und damit gegen zwei Phänomene, die in der Zeit von Fake-News, Kommentarspaltenhetze und Millionen von Pseudoexpert*innen, unsere schlimmsten Alpträume geworden sind. Wie sagte schon George Orwell:

Ungenaue Sprache hindert uns daran, klar zu denken, und veranlasst uns, törichte Gedanken zu reproduzieren.

 

Zu W. G. Sebalds “Luftkrieg und Literatur”


Luftkrieg und Literatur Wie gehen größere Gesellschaften mit Traumata um? Kann eine Gemeinschaft aus einer Vergangenheit lernen, muss sie sich mit ihr beschäftigen oder ist es besser, diese Vergangenheit zu vergessen, damit sie die Zukunft nicht überschattet? (Aber verschwindet Vergessenes wirklich – und wenn es tatsächlich verschwindet, bleibt wohl dennoch eine Lücke, die nicht verschwindet, oder?)

Mit diesen Fragen hat sich u.a. Kazuo Ishiguro in seinem jüngsten Roman „The buried giant“ auseinandergesetzt, allerdings gekleidet in ein von phantastischen und mythischen Metaphern durchzogenes Gewand und vor dem Hintergrund einer Epoche Großbritanniens, die wenig erforscht ist. Dennoch ist es ein starkes Werk, welches Fragen nach der Notwendigkeit des Erinnerns und Vergessens im großen Stil aufwirft.
W. G. Sebalds Buch „Luftkrieg und Literatur“ schlägt da in eine durchaus kleinere, handfestere Kerbe und stellt die Frage auch nicht bedächtig, sondern durchaus bohrend.

„Die Frage, ob und wie der von Gruppierungen innerhalb der Royal Air Force seit 1940 befürwortete und ab Februar 1942 unter Aufbietung eines ungeheuren Volumens personeller und wehrwirtschaftlicher Ressourcen in die Praxis umgesetzte Plan eines uneingeschränkten Bombenkrieges strategisch oder moralisch zu rechtfertigen war, ist in den Jahrzehnten nach 1945 in Deutschland, soviel ich weiß, nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden“

Sebald führt in seiner Schrift aus, dass natürlich auf der Hand liegt, wieso dies nicht geschah: weil eine Bevölkerung, die in großen Teilen ein Regime gestützt hatte, das mörderische Kriege in viele Länder Europas trug und noch mörderischere Lager errichtete, um jüdische Menschen und Mitglieder viele anderer stigmatisierter Menschengruppen zu ermorden, keine Rechenschaft verlangen konnte von den Ländern, die gegen dieses Land gekämpft und dazu u.a. auch großangelegte Bombardements aus der Luft genutzt hatten.

Im Folgenden ist es auch nicht die deutsche Bevölkerung, die Sebald bei diesem Thema in die Mangel nimmt, sondern die deutschen Autor*innen der Nachkriegszeit, in deren Werken zwar Krieg und Entbehrung, Mord und NS-Terror eine Rolle spielen, nicht jedoch der Bombenkrieg gegen deutsche Städte. Was tatsächlich verwunderlich ist, denn immerhin hatte dieser Bombenkrieg in den Jahren 1944 und 1945 gigantische Ausmaße erreicht und manche deutschen Innenstädte wurden zu 80% oder 90% zerstört. Die meisten Autor*innen, die in Deutschland verweilten oder in den Jahren nach dem Krieg zurückkehrten, müssen das Ausmaß der Zerstörung mitbekommen haben, zumindest aus zweiter Hand davon gehört haben. Und doch: in den Schriften findet man meistens nur die Trümmer, nicht die Zerstörung. Sebald geht auf ein paar Ausnahmen ein und wie sich die Darstellung dort auf verschiedene Weise, akkurat oder unpassend, gestaltet.

Der Bombenkrieg war, zumindest in Großbritannien, lange umstritten und gilt heute als ein strategischer Misserfolg, der keines seiner Ziele (Demoralisierung der Zivilbevölkerung, Schwächung der Kriegswirtschaft, Unterbrechung der Versorgungslinien) erreichen konnte und gerade gegen Ende des Krieges jegliche Notwendigkeit verloren hatte und dennoch bis zuletzt betrieben wurde – also zuletzt auch als ethisches Desaster, das sich lediglich im Windschatten der vielen, noch größeren Verbrechen seiner Zeit und auch durch die moralisch höhere Warte der Siegermächte, an größerer Empörung vorbeischmuggeln konnte. Selbstverständlich ging der Bombenkrieg letztlich von Deutschland aus und wenn die Nazis die Mittel gehabt hätten, hätten sie ganz England auf diese Weise in Schutt und Asche gelegt (Pläne dafür gab es zuhauf).

Warum aber in dieser alten Wunde rühren? Und sind Autor*innen verpflichtet, gesellschaftliche Traumata aufzuarbeiten, abzubilden? Letztere ist eine große, sehr weitreichende Frage, die auch Sebald nicht klären kann oder will. Ihm ging es 1999 darum, auf einen irritierenden Fakt aufmerksam zu machen, eine Lücke in der deutschen Literatur und in welchem größeren Kontext er diese Verfehlung sieht und er deutet nur selten an, warum dieser Fakt generell relevant und problematisch ist.

Womit wir wieder bei der ersten Frage sind: Warum aber in dieser alten Wunde rühren? Diese Frage beantwortet Sebald zwar wie gesagt nicht in aller Deutlichkeit, aber sie lässt sich leicht beantworten. Wobei man zunächst einschränkend sagen muss: die Lage ist heute eine andere, wozu wohl am meisten der deutsche Historiker Guido Knopp beigetragen hat (ob zum Guten oder zum Schlechten, ob akkurat oder eher nicht, sei dahingestellt). Sein Buch und die Serie „Der Jahrhundertkrieg“ (2003) umfassten Beiträge zum Bombenkrieg und zu den Feuerstürmen von Hamburg und Dresden, gerade noch rechtzeitig durchaus, um noch lebenden Zeitzeugen miteinzubeziehen. Diese Dokumentationen haben den Bombenkrieg durchaus wieder ins nationale Bewusstsein gerückt (was durchaus auch unschöne Folgen hatte).

Auch diesen Teil der jüngeren deutschen Geschichte zu behandeln (mit dem jeder Mensch, der in deutschen Innenstädten lebt und aufwächst, letztlich indirekt konfrontiert ist, was man oft merkt, wenn man die Innenstädte in anderen Ländern besucht) ist vor allem wichtig, damit das Narrativ dieses Kapitels nicht von rechtsextremen Positionen und Motiven vereinnahmt wird, die diese Episode gerne und erfolgreich als Tabu inszenieren und von der „geplanten Vernichtung“ der deutschen Bevölkerung und dergleichen faseln, einen Opfermythos kreieren, auf dessen Sockel nicht nur von Erinnerung, sondern vor allem von Vergessen und vom Blick nach vorne die Rede ist (eine sehr schizophrene Auseinandersetzung mit Geschichte findet in solchen Inszenierungen statt).

Sebalds Vorlesungen (dies waren die Texte in dem Buch, ergänzt um einen Nachtrag und den Essay zu Alfred Andresch, ursprünglich) trugen zur Wiederentdeckung von Gert Ledigs „Vernichtung“ und Hermann Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“ bei, zwei Büchern, die nicht unbedingt schöner Lesestoff sind, aber das ganze existenzielle Ausmaß der Zerstörung greifbar machen, wozu auch Sebalds Spurensuche einiges beiträgt.

„Luftkrieg und Literatur“ ist sicher heute kein Buch mehr, das anstößt oder offenbarend ist. Aber noch immer ist es ein wichtiges Werk über die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit und darüber, wie ein Fehlen des literarischen und öffentlichen Aufgreifens von bestimmten Themen ein Verdrängen befördern kann oder überhaupt erst kreiert. Es hat also vor allem einen exemplarischen Wert und eine Lektion in Geschichte und Literatur gleichermaßen. Wie wichtig ist Darstellung und die in ihr bewahrte Erinnnerung? Eine Frage, die sich die Literatur immer wieder stellen MUSS.

 

Zu “Weimarer Verhältnisse?”, einer Anthologie aus dem Reclam Verlag


Weimarer Verhältnisse „Die Rückkehr des Nationalismus und die Erfolge des Rechtspopulismus haben eine neue Debatte über die Grundlagen und Gefährdung der Demokratie in Gang gesetzt. Auch die etablierten Demokratien des Westens machen die Erfahrung, dass der politische Grundkonsens, auf dem sie ruhen, nicht mehr so selbstverständlich ist, wie noch bis vor kurzem angenommen.“

In der Bundesrepublik Deutschland hat der im Vorwort beschriebene »Rechtsruck« zu Debatten geführt, in denen immer wieder von „Weimarer Verhältnissen“ die Rede ist. Im Gegensatz zum Geschwafel von „spätrömischer Dekadenz“ wirkt dieser Rückgriff auf das Beispiel der ersten bundesdeutschen Demokratie seriös: Das Schicksal der Weimarer Republik war ein wichtiger Fehlerkatalog für die Ausarbeitung von Verfassung und Grundgesetzes der Bonner Bundesrepublik und bleibt ein Menetekel deutscher Geschichte.

Dennoch droht einem Vergleich der gegenwärtigen politischen Lage mit Weimar dasselbe, wie einem Vergleich von derzeitigen politischen Akteuren mit der Person von Joseph Goebbels: diese Vergleiche drohen zu hinken. Was können wir also wirklich bis heute aus Weimar lernen und was an diesem Rückgriff muss, bei näherer Betrachtung, zum bloßen Schreckgespenst verkommen?

Sieben Autorinnen und Autoren (namentlich Ute Daniel, Jürgen W. Falter, Hélène Miard-Delacroix, Horst Möller, Herfried Münkler, Werner Plumpe, Andreas Wirsching) gehen dieser Frage anhand von verschiedenen Facetten nach, bei deren ein Vergleich zwischen Weimar und der derzeitigen politischen Lage ansetzen könnte.

Die verschiedenen Gesichtspunkte sind durchaus interessant, wobei die beiden stärksten Texte vom Mitherausgeber Andreas Wirsching stammen, der auch neben Jürgen W. Falter am meisten Position zur Gegenwart bezieht. So liefert er bspw. eine gelungene Definition von Populismus:

„Populisten lehnen die politisch-soziale und kulturelle Vielgestaltigkeit demokratischer Gesellschaften ab. Sie behaupten hinter dem verfassungsmäßig zustande gekommenen politischen Willen gebe es ein anderes, ein »wahres«, »eigentliches« und in sich einiges Volk, das sie zu repräsentieren vorgeben. […] Sie lehnen es ab, die komplexe Realität zum Ausgangspunkt der Politik zu machen. Stattdessen zwängen sie die Konflikte moderner Gesellschaften in die Kategorien eines pseudomoralischen Rigorismus ein, der, konsequent zu Ende gedacht, nur Schuldige und Opfer kennt.“

Nach Wirschings Eingangstext beschreibt Werner Plumpe die wirtschaftlichen und Horst Möller die systempolitischen Probleme der Weimarer Republik. Ihr Resümee, obgleich vorsichtig mahnend, ist im Prinzip das Resümee der gesamten Anthologie: Ja, Weimar hat uns noch etwas zu sagen, aber ein Vergleich zwischen den Weimarer Verhältnissen und unsere politischen Lage hinkt nicht nur, er greift schlichtweg an einigen Stellen ins Leere, so sehr er auch mancherorts zu haften scheint.

Schon eher vergleichen kann man AfD und NSDAP, was Jürgen W. Falter anhand von deren Wählerschaft und Ideologie tut. Wohlgemerkt: es geht ums Vergleichen, nicht ums Gleichsetzen. Das Ergebnis ist in Sachen Wählergruppen doch sehr ähnlich, in der Ideologie aber stellenweise abweichend; und die verschiedenen Zeiten, in denen diese Parteien existierten, sowie die Erinnerungskultur der BRD, tun ihr Übriges. Die AfD muss natürlich auch keine NSDAP werden, um potenziell gefährliche oder potenziell antidemokratische Ausmaße anzunehmen. (Antidemokratisch waren beispielsweise auch die KPD der Weimarer Republik und andere Splitterparteien.)

Ute Daniel beschreibt in ihrem Text die Weimarer Presselandschaft und deren Dynamik, Herfried Münkler beleuchtet die euro- und geopolitischen Bedingungen, die sich in der Zwischenkriegszeit um die erste deutsche Demokratie herum entwickelten. Hélène Miard-Delacroix überfliegt dann noch einmal die deutsche Mentalität.

Ist das Büchlein lesenswert? Ja, aber nur zum Teil aus aktuellem Anlass. Manches darin taugt eben nur als Geschichtsstunde (die nie schaden kann), als politische Bildung, aber nicht als tagesaktuelle, politische Bildung. Denn letztlich: Mit Globalisierung, Umweltkrise, Digitalisierung, etc. steht unsere Zeit vor Problemen, die mit denen der Weimarer Zeit nicht vergleichbar sind – und umgekehrt! (Allenfalls die Entwertung der Arbeit ist vielleicht ein Überschneidungspunkt)

Wozu Weimars Beispiel weiter anhalten sollte sind allgemeine Wachsamkeit und die Bereitschaft im Ernstfall gemeinsam gegen extreme Positionen einzutreten. Auch wenn in Deutschland ein »Rechtsruck« spürbar ist, sind die Auswüchse derzeit weniger destabilisierend für das politische Gefüge als in vielen anderen europäischen Nationen – eben auch weil Weimar und seine Folgen bekannt sind. Es muss nun darum gehen, die Konflikte zu lösen und die Themen anzugehen, mit denen die Populisten derzeit noch ihren Wählerfang betreiben. Die Bühne, auf der das geschieht, bietet sich heute besser dar, als einst in Weimar.

„Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine langetablierte Tradition. Sie definiert sich nicht über machtstaatliche Ansprüche, weder nach innen noch nach außen, sondern ist geprägt von der verheerenden Erfahrung von Diktatur, Krieg und Verbrechen.“

Eine Polemik im Umfeld des Buches “mit Rechten reden” von den Autoren Leo, Steinbeis und Zorn


Mit Rechten reden „bestünde die Rechte mehrheitlich aus Holocaustleugnern, Hitlerfans, Brandstiftern und Terroristen, handelte es sich bei Ihnen, mit einem Wort, vor allem um gewaltbereite Neonazis, dann hätten wir kein Problem mit ihnen. Wir hätten einen Job zu erledigen. Die Umtriebe einer staatsfeindlichen und latent kriminellen Subkultur könnten wir getrost den Wächtern überlassen: der Polizei, der Bundeszentrale für politische Bildung, Ursula von der Leyen und der Antifa. Unsere Perspektive schließt Rechtsterroristen und Neonazis nicht aus, aber wir halten es mit einer Maxime der angelsächsischen Rechtspraxis: Hard cases make bad law. Wir werden, heißt das, die Extremfälle der Rechten von ihren moderaten Varianten her verstehen, nicht umgekehrt.“

Das Böse wird nur siegen, wenn die Guten es zulassen. Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen. Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.

Jeder hat sicherlich schon einmal eine Abwandlung des Zitats “The only thing necessary for the triumph of evil is for good men to do nothing” von Edmund Burke gehört. Damit lässt sich das Herz kampfeslustig und gleichsam rührig anheizen und man kann es allen entgegenhalten, die noch unschlüssig am Rande des Schlachtfelds stehen und sich fragen, worum hier genau gekämpft wird und was passiert wenn die eine oder die andere Seite gewinnt.

Ich mag diesen Spruch, nicht ob seines Pathos, aber wegen dem Wunsch, der Hoffnung, die darin enthalten sind. Die Hoffnung, dass die Entwicklung des Menschen doch einen guten Weg einschlagen kann, der wegführt von den vielen zersetzenden Elementen in unserer Natur, und es uns ermöglichen wird, die bestmöglichen Gesellschaften einzurichten, auf diesem einzigen Planeten, auf dem wir derzeit leben können.

Natürlich ist dieser Spruch auch problematisch und das nicht nur, weil er das biblisch-abstrakte Schema von Gut und Böse mit sich führt. Er kann nämlich auch als eine Anstiftung zum unveräußerlichen Konflikt verstanden werden, der nur dadurch enden kann, dass eine der beiden Seiten endgültig obsiegt. Dass das nicht nur global, sondern auch zwischenmenschlich ein Holzweg ist, hat die Historie gezeigt, die persönliche wie auch die globale. Wenn das Gute triumphiert, ist es längst nicht mehr das Gute. Dialektik steckt überall drin – wenn man eine Hälfte wegschneidet, spaltet sich die übriggebliebene.

Auch bei den Kategorien Links und Rechts hat sich das gezeigt: den Triumph linker Politik und linker Gesellschaftsmodelle schien in der Zeit zwischen 2. Weltkrieg und Jahrtausendwende nicht aufzuhalten. Freie Liebe, freie Gesellschaften, freie Meinung, freies Denken, Selbstbestimmung Sozialpolitik, etc. Die Linke, so schien es, hatte „gesiegt“. Und ignorierte in Folge alles, was nicht in ihr Weltbild passte. Leider gab es aber viele Leute, die diese Dinge weiterhin glaubten, welche die Linke ausführlichst ignorierte. Zu viele. Und dass die Linke mit ihren Meinungen ein Problem hatte, hörte mit der Zeit auf, ihr Problem zu sein.

„Wenn ich jemandem nicht helfen will, kann ich sagen: das ist dein Problem. Und genau das könnte mir auch derjenige antworten, dem ich mitteile, ich hätte ein Problem mit ihm. Er könnte nämlich zurecht feststellen, dass dieser Satz mehr über mich sagt als über ihn. Wenn du ein Problem mit mir hast, könnte er entgegnen, dann ist das dein Problem. Ich bin, wie ich bin. […] Dies ist nämlich kein Buch über Rechte und auch kein Buch gegen Rechte. Zumindest nicht nur. Was immer wir an ihnen kritisieren mögen, allein dadurch, dass wir die Rechten als Teil eines gemeinsamen Problems auffassen, nehmen wir eine andere Perspektive ein als all jene, die meinen, es sei damit getan, sie identifizieren, zu beobachten, zu beschreiben und dann Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung zu ergreifen.“

Womit wir endlich in diesem Buch angekommen sind, das sich ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt hat: Rechte und Linke an einen Tisch zu bringen. Nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten – und mit dem Verweis darauf, dass sie ohne einander nicht auskommen. Denn ob sie wollen oder nicht: sie leben in einer Gesellschaft, die nicht einer allein bestimmen wird; auch eine links ausgerichtete autoritäre Regierung wäre immer noch autoritär. Solange beide den anderen besiegen/zerstörten oder seine Meinungen verbieten/unter Strafe stellen wollen, ist diese Auseinandersetzung kein Gewinn für die Gesellschaft, sondern ein Scheingefecht, in dem nichts entschieden, dafür aber alles aufgefahren wird – was letztendlich den Blick auf die wichtigen Themen, die es anzugehen gilt, eher verstellt und wodurch die Auseinandersetzung zu einem Spiel wird, das nicht nur unproduktiv, sondern auch verdammt lästig ist, weil beide Seiten Regeln aufstellen, die der andere nicht befolgen will, was beide Seiten nur frustriert – oder im Fall der Neuen Rechten: freut.
Denn dann können sie sich als Opfer unfairer Mitspieler präsentieren, die sich nicht mal mit ihnen auf offensichtliche Regeln einigen können und unrealistische Parameter vorschlagen. Und so müssen sie nicht über ihre Inhalte reden, sondern reden über das Wie oder Wann oder Wo oder Warum oder Wer.

„Nein, allein über die Inhalte kriegt man die Rechten nicht. Entweder man verharmlost sie als Sekte schrulliger Modernitätsverweigerer, oder man dämonisiert sie als Untote aus dunkler Vergangenheit. Beides verfehlt den Kern der Rechten. Aber beides gefällt ihnen. Sie spielen nämlich ein Spiel mit uns. […] Nun heißt unser Buch aus guten Gründen nicht: wie man mit Rechten redet. Denn das würde ja voraussetzen, eine »man« und eine »Rechte« genannte Gruppe ließen sich ebenso deutlich voneinander unterscheiden wie Untergebene und Chefs […] Wir begreifen, so viel sei verraten, als »rechts« keine eingrenzbare Menge von Überzeugungen oder Personen, sondern eine bestimmte Art des Redens. […] Wir wollen eingreifen, aber nicht in bestehenden Debatten, sondern in eine Republik, die dabei ist, in den Arenen des Spektakels und den Stuben Verwaltung eines ihrer kostbarsten Güter zu verspielen: die Lust am offenen Streit.“

Gerade dieser letzte Satz ist immanent wichtig. Die Debatten werden geführt und sollen geführt werden. Aber die Art und Weise, wie wir in unserer Gesellschaft mit diesen Debatten umgehen, ist oft, gelinde gesagt, furchtbar. Auf beiden Seiten. Ich selbst erlebe es jeden Tag auf Facebook. Einen Tag Facebook-Kommentare lesen und schon glaubt man nicht mehr, dass die Menschheit wirklich mit der Fähigkeit zur Reflexion, zum wertfreien Denken, zur Dialektik oder mit Vernunft ausgestattet ist. Oder muss feststellen, dass diese Fähigkeiten anscheinend von dem Wunsch, sich zu profilieren, schnell übervorteilt werden können. Das ist zugegebenermaßen eine heftige Wertung, die nicht umhinkommt, so auszusehen, als würde sie von einem hohen Ross gesprochen werden. Mir ist klar, dass sie etwas zu allgemein formuliert ist und stelle hiermit klar, dass diese Polemik auf Probleme hinweist und sie nicht detailiert schildert. Dieser Text soll ein Anstoß sein. Ein Anstoß über einige Punkte nachzudenken – ein Anstoß, das Buch zu lesen.

„Die Frage, wer die Rechten für uns sind, ist nämlich nicht zu beantworten ohne die Frage, was die Rechten aus uns machen.“

Wer sind die Rechten denn für mich? Sind sie die, deren Meinung ich nicht teile? Deren MeinungEN ich nicht teile? Deren Meinungen ich auf einem bestimmten Gebiet nicht teile? Die ihre andersgeartete Meinung sagen (statt sie zu denken und dementsprechend zu wählen, zu handeln, zu glauben)? Die sich asozial verhalten? Die sich inhuman verhalten? Die nicht progressiv sind, sondern konservativ? Die nicht liberal sind, sondern elitär? Die nicht idealistisch sind, sondern materialistisch? Die nicht vegan sind, sondern überzeugte Benzinfahrer und Fleischesser und auch gerne Klamotten einkaufen?

Ich weiß, wer die Rechten in jedem Fall nicht sind: der Feind. Es sind Menschen wie ich einer bin. Ich bin dafür, dass ihnen geholfen wird, wenn sie Not leiden und dass sie verhaftet werden, wenn sie ein Verbrechen begangen haben. Ich bin dafür, dass sie ihre Steuern zahlen und dass sie das Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben (ganz abgesehen davon, dass Konzepte wie Straffvollzug, Steuern, Not und freie Meinungsäußerung natürlich individuell diskutiert werden können und ich an dieser Stelle auch nicht mit einer abschließenden Definition dieser Konzepte dienen kann).

Worum es mir und auch den Autoren des Buches geht, wenn ich/sie dermaßen polemisieren: Um ein Auflösen des ewigen: gegen-gegen-gegen! Zugunsten eines: wie können wir denn wirklich an einer besseren Welt arbeiten? Ist es dazu hilfreich, einfach nur die Rechte zu bekämpfen? Tritt das Gute allein dadurch ein, dass man das Böse bezwingt, verbietet, brandmarkt? Offensichtlich nicht, ganz im Gegenteil.

„Wer die Moral im Schilde führt, so die Rechten mit Nietzsche, will herrschen. Und wer die Menschheit sagt, so die Rechte mit Carl Schmitt, will betrügen.“

Wer davon spricht, dass das Rechte wieder „salonfähig“ geworden ist, der sollte sich das nächste Mal, wenn er andere Leute ob ihrer Sprachwahl kritisiert, auf die Zunge beißen. Salons sind nicht gerade gesellschafsnahe Orte – sondern bestimmten Gesellschaften vorbehaltene Orte. Es sind genau die Orte, in denen sich große Teile der intellektuellen Linken in den letzten Jahrzehnten eingerichtet haben. Nun sind sie fassungslos, dass die Rechten eintreten: was machen die denn in unserem schönen Salon. Das ist unser Salon, unserer! Hier können wir uns in Ruhe dort kratzen, wo es andere juckt!

„Als ob die Demokratie ein Salon wäre! Als ob Sätze allein dadurch gälten, dass irgendjemand sie äußert! Als ob da Sagbare eine Erlaubnis bräuchte. […] Wenn die Rechten und die Moralisten nur diese wenigen Unterschiede kapieren würden, den Unterschied zwischen Faktizität und Geltung, den Unterschied zwischen dem Stoff und dem Werk und den Unterschied zwischen dem Hass und dem Schönheit, dann hätten wir kein Problem mehr. Dann könnten wir streiten, in dem die einen die Existenz der Ungleichheit gegen die nivellierende Tendenz der Moral verteidigen, und die anderen das Recht auf Gleichheit gegen die Anmaßung der Stärke. Denn Menschen sind einander ja nie nur gleich oder ungleich. Sie sind immer beides.“

Seien wir ehrlich: Es gibt Unterschiede. Zwischen allen Menschen. Nur sollten diese Unterschiede, die ja alles in allem etwas Wunderbares sind (es wäre ja schlimm, würden alle dieselben Texte schreiben, dieselben Kaffeetassen designen, sich dieselben Witze ausdenken, etc.), eben keine Rolle spielen, wenn es um die Eignung und die Privilegien von Menschen geht, in jeder Hinsicht.

Es ist diese Form der Einteilung, die die Unterschiede erst problematisch macht – sie sind es nicht aus sich heraus. Sie zu leugnen ist daher problematisch; die Einteilung muss geleugnet werden, die Unterschiede zu leugnen kann schwer nach hinten losgehen. Die Grenzen verschwimmen, die Dinge werden hohl. Identität, diese komplexe Idee, wird von den Rechten stark vereinfacht. Sie wird aber auch von den Linken vereinfacht, wenn die behaupten, dass sie völlig willkürlich ist. Sie ist sehr ambivalent, vielschichtig und sollte letztlich abseits des Persönlichen auch keine Rolle spielen. Aber sie ist nicht willkürlich und gegenstandslos (was auch nicht alle Linken behaupten, aber ich habe es schon linkausgerichtete Person behaupten hören).

Die Linke. Leo, Steinbeis und Zorn richten einen deutlichen Appell an sie:

„Aus einer Bewegung zur Emanzipation der Arbeiterklasse war eine Partei von Anti-Faschisten, Anti-Imperialisten und Anti-Kapitalisten geworden. Und genau das machte sie ideologisch verwundbar. Denn der geistige Preis für den Sieg war hoch. Um sich in der Welt zu behaupten, hatte die Linke ihre beiden größten Schätze, die Dialektik und den Humanismus, geopfert. […] Die Linke dachte im Freund-Feind-Schema. Wie die Rechte. […] Ein kaum erträglicher Zustand, aus dem nur Selbsterkenntnis, eine Rückkehr zu Marx, und Erneuerung, herausgeführt hätte. Aber die Linke entschied sich für den Selbstbetrug. Statt das Denkschema eines nicht besonders denkstarken Feindes zu kritisieren, fügte sie sich ihm. Und schminkte es mit Moral. Freunde und Feinde verwischte sie zu Opfern und Tätern, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Geschlechter unterschied sie nach unterdrückten Schwachen und abzuwehrenden Starken.“

Natürlich blieb die Linke eine Bewegung der Emanzipation. Und diese Emanzipation ist eine mehr als großartige Errungenschaft, sie weist Wege zu einem Miteinander, das dem menschlichen Bedürfnis nach Entfaltung und nach Harmonie gleichermaßen entspricht. Und viele „Rechte“ verstehen seltsamerweise nicht, dass „Sicherheit“ eben gerade aus der Selbstbestimmung abseits der Norm entstehen kann und nicht an Traditionen oder etwas Übergreifendes geknüpft sein muss.

Dennoch: die Linke ist mit ihrer moralisierenden (nicht moralistischen) Tendenz teilweise ins Abseits geraten, in die eigenen Echoräume. Dort werden Debatten geführt, die auf den ersten Blick entscheidend, auf den zweiten Blick künstlich wirken; wie ein Meinungsboard, an dem sich alle einmal austoben und Ferien vom Über-Ich nehmen können. Nicht immer, nicht zwangsläufig. Aber stetig. Manchmal werden dabei die menschlichen Faktoren gut in den Mittelpunkt gerückt – und manchmal im theoretischen Höhenflug außer Acht gelassen, über Bord geworfen. Was bedauerlich ist, denn das kreative, intellektuelle und dialektische Potential, das sich dabei zeigt, ist eigentlich grandios. Nur bewegt es sich oft im Kreis. Oder wird einfach per Katapult zu den Rechten rübergeschossen.

„Die Rechte ist Wille zur Macht ohne Kraft zur Gestalt. […] Die Ziele der Linken waren immer schon richtig, so wie ihr Hang zur Selbstgerechtigkeit schon immer fatal war. […] Und darum macht es uns fassungslos, dass sie ihr einst so überlegendes Denken durch moralischen Eifer ersetzt hat – von dem wir uns haben einlullen lassen. Wir haben eine rote Schleife um das Weiße Haus gebunden und es Donald Trump geschenkt.“

Wir müssen wieder ins Gespräch, wir Menschen von rechts und links und dazwischen. Denn nur am Tisch, im Gespräch, sind die Argumente der linken Seite besser, stärker – im Kampf auf offener Straße, emotionsgeladen, schmierig, in den Medien, mit Gewalt und Fake, können die Linken keinen Blumentopf gewinnen. Gott sei Dank! Es wäre bedenklich, wenn es nicht so wäre. Vor allem zeigen sich die Rechten am Tisch, im Gespräch, dann oft als das, was sie wirklich sind: quängelnde Phrasendrescher, kleine Kinder, die zürnen und heulen, die prahlen und Luftschlösser bauen, die Fakten verdrehen. Die nicht mehr der Erfahrung klarkommen, in einer Welt zu leben, in der nicht alles nach ihren Vorstellungen eingerichtet ist (im Gegensatz zu den Linken, die das fast schon überproportional verinnerlicht haben).

„Die Erfahrung, dass man selbst, so wie man ist, und die Welt, so wie sie ist, nicht zusammenpassen wie Mutter und Schraube, kennt auf die eine oder andere Weise doch jeder.“

Ich weiß nicht wie und ob es möglich ist. Aber es wäre wichtig, wieder Kommunikationskanäle einzurichten und die Politik, die Gesellschaft wieder daran zu orientieren, was sich in klaren Debatten als die bessere Lösung erweist. Es wird oft die linke Lösung sein. Aber solange man den Dialog mit Rechten meidet, wird die rechte Lösung öfter gewählt, weil sie lauter und (in Ermangelung der Reflexion) selbstbewusster schreit und zu den komplexesten Problemen die einfachsten Lösungen präsentiert und sich auch als exquisite Alternative verkaufen kann.

Also, im Sinne dieses Buch, das eine kritische Lektüre lohnt und viel Stoff zum Nachdenken gibt (noch mehr als ich hier auffächern, ansprechen kann): mit Rechten reden. Nicht ihnen eine Bühne bieten, nicht ihnen auf den Leim gehen – das würde voraussetzen, dass man die Diskussionen verliert oder zu schnell zu einem Ende führen will, weil man eh glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben. Wie die Geschichte gezeigt hat, kann sich der Mensch längerfristig vernünftigen und logischen Argumenten nicht widersetzen. Darauf ist wieder zu bauen, zu hoffen.

„Wir machen euch ein Angebot: Wir hören auf euch mit Moral zu traktieren. Ihr wollt die Syrer hier nicht haben? Gut, das können wir euch nicht verbieten. Ihr habt das Recht, diese Position einzunehmen. Aber lasst uns eure Argumente hören, eure Wertungen, eure Kosten-Nutzen-Rechnungen, eure Gefahrenprognosen, eure Lesart des Rechts. Versucht uns zu überzeugen, dass die Bundesregierung das Recht eklatant gebrochen hat. Wir sehen das nämlich anders.“

Ein offener Brief an Herrn Gauland


Zitat Alexander Gauland: “haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen.” (In einer Rede am 02.09.2017, Videolink)

Lieber Herr Gauland,

da Sie so dreist sind, kurz vor der Wahl (und überhaupt!) solche Aussagen zu tätigen, wird es Sie sicher nicht stören, wenn ich kurz dazu Stellung beziehe.

Sie verweisen in Ihrer Rede darauf, dass ja auch die Briten und die Franzosen stolz auf ihre Anführer, ihre Soldaten seien – warum also nicht wir Deutschen!? Vergessen wir einmal ganz kurz (obwohl Sie es anscheinend wirklich vergessen haben oder komplett vergessen wollen), dass viele Soldaten der deutschen Wehrmacht an zahlreichen Massenerschießungen und anderen Kriegsgräueln beteiligt waren und einem Regime gefolgt sind, welches grundlos Nachbarländer überfallen, besetzt und teilweise auch ausgeplündert hat – das allein sollte schon ausreichen, ein Wort wie Stolz erst gar nicht in den Mund zu nehmen; vor allem im Nachhinein.

Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, ist stolz darauf zu töten – wahrscheinlich verdienen manche Soldaten unser Mitleid und unseren Beistand, weil sie Dinge erleben mussten, denen sie psychisch nicht gewachsen waren. Aber worauf sollte jemand stolz sein, der andere Menschen über den Haufen schießt? Was hat er vollbracht? Im besten [sic!] Fall war er gezwungen, so zu handeln (oder glaubte es, denn auch darüber lässt sich streiten).

Es soll hier nicht unter den Tisch gekehrt werden, dass die Verbrechen, die britische Soldaten z.B. in Teilen Afrikas oder die französischen Soldaten z.B. in Algerien begangen haben, ebenfalls abscheulich waren. Aber wenn die französische oder britische Bevölkerung/Nation auf diese Momente ihrer Geschichte stolz ist, ist das kein Grund, zu sagen: dann dürfen wir ja auch! Dann ist es viel, viel wichtiger zu sagen: ich falle auf diese Glorifizierung nicht mehr herein. Für mich gibt es nichts, was an den brutalen Episoden der Vergangenheit herrlich ist oder ein Gefühl wie „Stolz“ rechtfertigen kann.

Wie viele andere Menschen haben Sie, Herr Gauland, anscheinend die Zäsuren nicht begriffen, die Ausschwitz, die Gulags und die zwei Weltkriege (und Vietnam etc.) darstellen. Es hat sich ein Bewusstsein entwickelt, dahingehend, dass Krieg im Zeitalter unserer technischen Mittel endgültig ein Wahnsinn geworden ist, der auf jeden Fall und zu jederzeit verhindert werden muss. Und das Soldat*innen, die sich an Angriffskriegen beteiligen (müssen), keine Helden*innen sind (und es, rückblickend betrachtet, nie waren), sondern Schlachtvieh oder Mörder*innen – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. (Man könnte höchstens darüber diskutieren, inwiefern Krisensicherungen und Friedenprozesse durch Militärpräsenz unterstützt werden können, etc.). Es geht mir nicht darum, irgendeinen Soldaten oder eine Soldatin zu verurteilen – es geht um die Realität, an der Sie sich offenbar vorbeiflüchten wollen in einen sinnlosen Kampf um die Deutung der Vergangenheit, die bitte schön anders in die Gegenwart hineinstrahlen soll. Eine solche Umdeutung würde an den gegenwärtigen Gegebenheiten derweil auch nichts ändern, da muss ich Sie enttäuschen.

Ich betrachte die heutige, aufgeklärte Position gegenüber der deutschen Vergangenheit (auch gegenüber den Taten der deutschen Soldaten im 2. Weltkrieg) nicht als Stillstand oder Rückentwicklung, sondern als Evolution. Als einen Schritt hin zu einer Welt, in der wir vor jedem bewaffneten Konflikt zurückschrecken, weil wir wissen, welch grauenhafte Dynamiken und Auswüchse er mit sich bringt; kein menschliches Wesen, das aktiv an einem Krieg teilnimmt, hat irgendetwas davon. Die Protagonist*innen von Kriegen zu verherrlichen, führt weg von der zukunftsweisenden Idee, das Krieg keine Option mehr sein darf.

Sie sagen, wir müssten mit unser falschen Vergangenheit aufräumen – nein, das Gegenteil ist der Fall: die deutschen Nachkriegsgenerationen haben ihre Vergangenheit angenommen (und es hat lange gedauert) und das ist wichtig – die Franzosen und die Briten sollten dies im Übrigen auch tun, mit klarem Blick auf die Verbrechen, die im Namen ihrer Nationen verübt wurden. Womit ich nicht sagen will, dass die deutsche Gesellschaft weiter oder besser ist. Was ich meine: es ist wichtig, sogar unabdinglich, dass wir die Vergangenheit weiterhin in dem Licht sehen, das Sie so unbedingt verrücken möchten. Denn dieses Licht weist einen Weg (wenn auch noch lange nicht den besten oder klarsten) in ein weniger konfliktorientiertes, demütigeres Miteinander.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie stolz darauf, dass junge Menschen ausgeschickt wurden, um zu töten. Dann sage ich Ihnen: ich werde mich nicht von einem alten Idioten wie Ihnen irgendwo hinschicken lassen und zusehen, wie Sie die mühsame Aufarbeitungsarbeit von Friedensaktivist*innen zerstören. Und ich hoffe, dass viele Leute vor der Wahl noch begreifen, dass jemand, der ernsthaft propagiert, dass man auf Leute, die zum Töten entsandt wurden, stolz sein soll, nicht für irgendetwas steht, dass man im 21. Jahrhundert – in dem genug schwere Aufgaben auf uns zukommen (Klimawandel, Digitalisierung, neue Definition der Arbeit, Kolonialismus-Aufarbeitung, Globalisierte Gesellschaften) – noch vertreten kann.

Wenn Sie unbedingt auf jemanden stolz sein wollen, dann seien Sie es auf die Menschen, die in Deutschland jeden Tag für kleine Löhne alte Menschen betreuen, auf Kinder aufpassen oder diese unterrichten, die Integrationsprogramme leiten oder sich ehrenamtlich für Kultur, für Minderheiten und Bildung und gegen Hass und Diskriminierung engagieren (etc.); auf die Migrant*innen, die unser Wirtschaftswunder mit ermöglicht haben und lange wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden (und es teilweise noch werden) und die trotzdem geblieben sind; seien Sie stolz auf die freiwilligen Helfer*innen, die in den Geflüchteten-Unterkünften helfen; seien Sie, meinetwegen, stolz auf die Soldat*innen, die von der UNO auf Friedenmissionen geschickt werden (wobei auch darüber äußerst kritisch zu reden wäre, da auch diese Einsätze viele Übergriffe und viel Gewalt mit sich brachten). Ob Soldat*in sein eine Sache ist, für die man sich irgendwie rechtfertigen muss, ist etwas, das zu diskutieren wäre und vieles mehr zu diesem Thema wäre zu erörtern.

Aber eins weiß ich: stolz zu sein auf irgendetwas, das Soldaten an Kriegshandlungen je auf diesem Planteten begangen haben, zeugt von Narrheit, Dummheit, Stumpfsinn. Und wenn Ihre Partei dafür steht, mit Ihnen als Spitzenkandidat, dann, entschuldigen Sie vielmals, halte ich sie für unwählbar. Bedenken Sie vielleicht, was Heinrich Heine – den Sie (wiederum dreist) in Ihrer Rede erwähnen, ohne sich anscheinend je mit seiner zwiespältigen Position zur deutschen Kultur auseinandergesetzt zu haben – sagte, hier leicht abgewandelt wiedergegeben: „Eine Kultur, die sich auf Kriege und Gewalt beruft, wie kann sie je etwas anderes hervorbringen als Krieg und Gewalt.“

Sie haben es soweit gebracht mit Ihrer Partei, Herr Gauland, dass man Ihnen zurufen kann, was Thomas Mann an den Dekan der Universität Bonn – und das Naziregime, das ihn protegierte – schrieb (Link): “Deutschland, soll ich beschimpft haben, indem ich mich gegen sie bekannte! Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.” Ich dachte, dieser Tag sei längst gekommen und hoffentlich ist er nicht mehr fern.

 

Zu dem wichtigen Buch “Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie” von Hajo Funke und Walid Nakschbandi


“Viel unmittelbarer und weitreichender als anderswo ist die Entwicklung der Demokratie und ihrer Institutionen in West-Deutschland (und Österreich) immer auch abhängig von der Auseinandersetzung mit einer Geschichte, von der sich die Republik absetzte. Die Auseinandersetzung von Gesellschaft und Politik mit Rechtsextremismus und Antisemitismus ist in diesem Sinn auch ein Index für den Grad der Etablierung der demokratischen Institutionen und der demokratischen Kultur selbst.”

Der Klappentext von „Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie“ ist leicht irreführend, geht es doch in diesem Buch nicht um alle Probleme, mit denen die demokratisch organisierte gesellschaftliche Grundordnung in Deutschland derzeit zu kämpfen hat. Globalisierung, Finanzmarktwillkür und die damit verbundenen wirtschaftlich-sozialen Folgen werden nur am Rand gestreift (Für diese Themen empfehle ich eher „Kein Wohlstand für alle!?“ von Ulrich Schneider).

In diesem Buch geht es um die Bedrohung durch rechtextremistische und fremdenfeindliche Positionen, die in den Jahren der Geflüchteten-Krise neuen Aufwind bekommen haben und bereits seit Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wie konnte das passieren? Diese Frage nimmt sich naiv und unbescholten aus, zumal die Geflüchteten-Krise und ihre Begleiterscheinungen oft als „Ursachen“ benannt werden, aber sie ist trotzdem folgerichtig. Denn wie können in einem Land, dessen jüngste Vergangenheit die Auswüchse und Folgen eines ungeheuerlichen Unrechtsregimes (oder zweier Unrechtsregime, was Ostdeutschland angeht) gesehen hat, in dem ähnliche Formen der Fremdenfeindlichkeit zu beispiellosen Gräueltaten geführt haben, die liberalen und toleranten Grundsätze so schnell zersetzt und offenkundig mit Füßen getreten werden?

“Für eine ganze Generation, die sogenannte Generation Golf, gab es nichts anderes als Helmut Kohl und eine zufriedene Bundesrepublik, die sich dann um Ostdeutschland zum wiedervereinigten Deutschland erweiterte. Man schien mit sich zufrieden und brauchte politisch nicht allzu wach sein. Man war sich seiner selbst bewusst. Große Konflikte schien es nicht mehr zu geben.”

Am Anfang – und das macht dieses Buch im Verlauf einer Nacherzählung über die Demokratisierung der bundesdeutschen Gesellschaft deutlich – stand das zähe Ringen einiger weniger, die sich im Deutschland der Adenauerzeit nicht mit einem Neuanfang begnügen, sondern die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten und klar als Teil der deutschen Vergangenheit ausgestellt wissen wollten. Vielen Menschen in meiner Generation dürfte es gar nicht wirklich bewusst sein (und deswegen sollten auch sie dieses Buch lesen) wie lange es dauerte, bis die Gesellschaft und die mediale Öffentlichkeit zu einem offenen, deutlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vorgedrungen waren. Erst 2005 (!) wurde z.B. in Berlin ein Denkmal für die 6 Millionen getöteten europäischen Juden errichtet.

Lange Jahre war die Diskussion in der Bundesrepublik umkämpft, das Thema wenig sensibilisiert. Wenn Paul Celan (dessen Eltern von den Nazis ermordet worden waren und der selbst in einem ihrer Arbeitslager nur knapp dem Tod entronnen war) sich auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1951 vom linken Schriftsteller Hans Werner Richter anhören musste, die Vortagsweise seines Gedichts „Die Todesfuge“ erinnere an die rhetorische Intonation eines Joseph Goebbels, zeigt das nur, dass selbst antifaschistisch, antikonservativ und antirestriktiv eingestellte Menschen die Tragweite der deutschen Vergangenheit vernachlässigten oder nicht verstanden. Als die jüdische Autorin Mascha Kaléko 1960 den Fontane-Preis der Akademie der Künste in Berlin ablehnte, weil das ehemalige SS-Mitgliedes Hans Egon Holthusen in der Jury saß, empfahl der Geschäftsführer der Akademie, Herbert von Buttlar, nachdem er Holthusens SS-Mitgliedschaft wegdiskutiert hatte, den Emigranten, wenn es ihnen hier nicht gefalle, doch einfach fortzubleiben. Noch in den 80er Jahren konnte Helmut Kohl nach Israel reisen und als nahezu einzigen Intellektuellen einen ziemlich dubiosen Journalisten wie Kurt Ziesel mit sich führen, ohne dass dies ungewöhnlich war für die Haltung der bundesdeutschen Öffentlichkeit gegenüber der Vergangenheit.

Der Kampf um das Anerkennen und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des dritten Reichs (und damit einhergehend: den Verbrechen der deutschen Bevölkerung, welche dieses Regime wählte und in großen Teilen stützte) währte lang und ist auch noch nicht abgeschlossen – auch das zeigt das Buch anhand einiger Beispiel aus neuster Zeit, wie etwa dem Film „Der Untergang“ (2004) oder dem Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Ein früher großer Rückschlag war hier sicherlich die Rede, die Martin Walser 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, in der unter anderem von der „Auschwitz-Keule“ die Rede war und die Überwindung der deutschen Vergangenheit propagiert wurde.

“Die Bereitschaft zu solchen Aussagen kommt nicht von ungefähr. Autoren wie Walser […] bedienen Teile der deutschen Bevölkerung, und sie wollen ihre Motive nach einem Schlussstrich oder danach, die eigene Erfahrung als Opfer, sei es als Vertriebene, in Luftschutzkellern oder des nationalsozialistischen Systems selbst mehr zur Geltung gebracht sehen. Sie sehen sich als die unterschlagene Seite der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn diese Geschichte stets in den Familienromanen und erst recht in den ersten zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland im Zentrum stand. […] Die Walser-Debatte repräsentierte den unwürdigen Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus vonseiten führender Kräfte in Politik und Wirtschaft”

Anhand solcher Beispiele und ihrer Einbettung zeigt das Buch die von Anfang an und bis heute herausgeforderte Demokratie Deutschland. Die Herausforderung ging anfangs vor allem von ihrer Vergangenheit aus, heute auch in großen Teilen von ihrer Zukunft. Denn wo liegt diese Zukunft?

“das Ausmaß von Politik- und Demokratieverdrossenheit sowie die Enttäuschung darüber, wie Demokratie funktioniert, ist schon länger dramatisch. Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass trotz des relativen Wohlehrgehens der Bundesrepublik Deutschland die Enttäuschungen in den letzten 25 Jahren nicht abgenommen, sondern sich zum Teil noch verstärkt haben.”

Lange Zeit über lag die Zukunft in einer Annäherung der deutschen Staaten, nach 1989 schien die Zukunft auf einmal gesichert und idyllisch. Doch gerade in dieser Zeit, den 90er Jahren, gab es wieder vermehrt fremdenfeindliche und rechtsextreme Gewalttaten. Das fehlende Eingeständnis, dass Deutschland bereits seit 20, 30 Jahren ein Einwanderungsland war und die Probleme bei der Eingliederung der ostdeutschen Gebiete, führten bei vielen perspektivlosen Menschen zu einer Suche nach Sündenböcken und nach alternativen Ideologien.

Von diesen ersten Erschütterungen aus führt ein direkter Weg in die heutige Zeit, zu den Bewegungen von Pegida und zu Parteien wie der AfD, die allerdings nicht so schnell und durchschlagend möglich gewesen wären ohne Thilo Sarrazin, der kurz nach dem Anfang der Finanzkrise eben jenen Topos vom Sündenbock ausnutzte, um armen- und migrantenfeindliche Thesen unter dem Deckmantel der zeitgeschichtlichen Kritik zu publizieren.

“Die Sarrazin-Antwort heißt: Es ist der Sündenbock, der Schuld ist. Nicht die Finanz- und Ökonomiepolitik. Und nur die Abschaffung des Sündenbocks hilft uns aus der Krise, nicht eine andere Krisenreaktionspolitik.”

Die neuen Sündenböcke sind die Muslime oder allgemein die eingewanderten Menschen, die uns angeblich auf der Tasche liegen und unsere Kultur zerstören wollen. Dass ausländisch stämmige Mitbürger*innen seit vielen Jahren mehr in die Sozialsysteme einzahlen als sie von dort beziehen, scheint die meisten Stammtische noch nicht erreicht zu haben, ebenso wenig wie die Studien, die nachweisen, dass viele nach Deutschland emigrierte Menschen sich Integrationsmaßnamen wünschen, die aber vielfach einfach nicht gewährleistet werden (und anfangs, in der Zeit der ersten Gastarbeiter*innen, überhaupt nicht gewährleistet wurden, stattdessen wurden diese Menschen wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt).

Der Umgang mit dem Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches. Die Geschichte dieses Umgangs in den Jahren seit 9/11 wird kurz, aber anschaulich, beleuchtet. Die Verteufelung des Islam hat dabei an einigen Stellen Züge angenommen, die beschämend sind, wenn man weiß (und alle Leute sollten es doch wissen), dass gerade in Deutschland die Verteufelung einer Religionsgemeinschaft bereits einmal zu ungeheuren Verbrechen geführt hat. Und engstirnig und plump, vorurteilsbehaftet und destruktiv sind diese Verteufelungen in den meisten Fällen sowieso.

“Alle Probleme der islamischen Welt werden aus zeitlosen Vorschriften des Islam abgeleitet. Eine Verzerrung und Irreführung gleichermaßen.”

Die bundesdeutsche Demokratie ist herausgefordert und viele Menschen in diesem Land sind zurecht unzufrieden mit den demokratischen und gesellschaftlichen Missständen. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht gut leben, viele Menschen in diesem Land wurden von den Mechanismen der Wirtschaft abgehängt, es wird zu wenig in Bildung und Wohnungsbau investiert und zu wenig in puncto Integration- und Toleranzprogramme getan. Das alles sind Missstände, die es anzugehen gilt, aber stattdessen wählen Leute aus Frustration die AfD, die weder eine „kleine Leute“-Partei ist, noch irgendwie zur Verbesserung der bundesdeutschen Situation beitragen wird, wenn sie das einlösen wollen, was in ihrem Wahlprogramm steht. Weder die Sozialsysteme, noch ein Großteil der Bevölkerung würden von diesem Programm profitieren. Stattdessen würden liberale und soziale Errungenschaften stark darunter leiden. Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ fasste die autoritäre Position der AfD einmal gut zusammen:

“Für die AFD enden die Freiheiten der Individuen dort, wo sie mit dem Willen einer angeblichen deutschen Volksmehrheit und ihrer Volkskultur kollidieren. Die Partei vertritt ein Politikverständnis, in dem die Mehrheit immer Recht hat und Minderheiten sich unterzuordnen haben.”

Das ist eine Gesellschaft, in der ich nicht leben will. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der die Mehrheit sich der Minderheit gegenüber verpflichtet fühlt. Der Wert einer Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Minderheiten, mit ihren Bedürftigen, mit ihren Kindern umgeht. Und die Demokratie kann immer nur so stark sein wie die Gesellschaft. Ob die Gesellschaft die Herausforderungen, der sich unsere Demokratie gerade zu stellen hat, annimmt, ist daher entscheidend.

Man spürt, dass dann und wann eine unterschwellige Wut in dieses Buch einfließt, nicht was die Aussagen und Stellungnahmen angeht, aber in der Klarheit und der schnellen Reaktion auf eingebrachte Beispiele konservativer oder regressiver Argumentation kann man sie spüren. Diese Wut lässt das Buch hier und da vielleicht etwas zu perfekt sitzend wirken, weil wenig Raum für Ambivalenzen bleibt. Allerdings macht das Buch von Anfang an klar, dass es darin um die Darstellung einer Gefahr, ihrer Geschichte und ihrer Ausmaße, und nicht um eine erschöpfende, umfassende Analyse der derzeitigen Situation geht. „Deutschland – Die Herausgeforderte Demokratie“ ist eine Studie, die aufklärerisch wirken soll, die zeigen soll, wie wichtig es nach wie vor ist, die demokratische und tolerante Grundordnung zu unterstützen und zu verteidigen – sie ist eine Errungenschaft, die nicht selbstverständlich ist.

Das zu zeigen, knapp und eindringlich und mit einer Fülle an Beispielen, die anschaulich und klar sind, und vielen (aber nicht überhand nehmenden) Verweisen auf Studien, Originalzitate und andere Phänomene des Zeitgeistes, ist der Verdienst dieses Buches. Ein wichtiges Buch über die Vergangenheit und die Zukunft unserer Demokratie.