Tag Archives: Alkohol

Mal wieder ein bestechender Roman von Julian Barnes


Die einzige Geschichte

Julian Barnes hat die Gabe Romane zu schreiben, nach deren Lektüre man das Gefühl hat, man könne nicht so weitermachen wie bisher. Vielleicht ist dies das ultimative und letztendliche Potenzial des Romans, ein Versprechen, das die besten Werke dieser Gattung stets einlösen müssen.

Barnes Bücher sind aber dennoch etwas Besonderes, denn seine Prosa ist zusätzlich, vor allem in „Die einzige Geschichte“, ein kleines anatomisches Wunder: in ihr fallen Empfindung und Verstand in vielerlei Hinsicht zusammen, zumindest liegen sie oft sehr nah beieinander. Dass diese Nähe nicht in Klischees kulminiert oder sich in eine Flucht vor jedem Anschein von Klischee hüllt, macht sie noch beeindruckender. Eine direkte Folge dieser Vermengung von Geist und Gefühl ist einerseits die Zugänglichkeit von Barnes Romanen (für alle Leser*innengruppen) und andererseits eine Komplexität, die sich aus dem unerschöpflichen Konfliktpotenzial der beiden Regungen ergibt.

In „Die einzige Geschichte“ spielt außerdem (wie schon in dem großartigen Roman „Vom Ende einer Geschichte“), die Erinnerung, ihre Beschaffenheit, Verlässlichkeit und Konditionierung, eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler Paul erinnert sich, mit einem Abstand von 50 Jahren, an den Beginn seiner ersten großen Liebe zu der Mitte 40jährigen Susan (er ist zu diesem Zeitpunkt gerade 19) und versucht ihre Beziehung und deren Verlauf zu rekonstruieren. Dabei durchlebt er die Ereignisse teilweise erneut und befragt seine Entscheidungen, gelangt von elementaren Fragen zu kleinen, individuellen Details, von winzigen Eindrücken zu größeren Zusammenhängen, während sich den Leser*innen langsam die Hintergründe offenbaren …

Kann man Gefühle verstehen? Oder muss man schlicht an sie glauben? Sind wir wirklich der Protagonist unserer Erinnerungen oder mehr der Erzähler, ja, der Schöpfer? Was bedeutet es eigentlich zu lieben und sind wir als Liebende auch Erinnernde oder müssen wir das trennen? Ist Liebe ein Heil oder nur ein Wünschen?

Es ist unmöglich, hier alle Fragenkomplexe aufzugreifen, die Barnes seinen Ich-Erzähler streifen und durchdringen lässt. Feststeht: als Leser*in wird man fast auf jeder Seite mit kleinen, unspektakulären, aber dennoch in vielerlei Hinsicht tiefgreifenden Offenbarungen konfrontiert, oder sollte ich eher sagen: beschenkt?

Nur drei kleine Beispiele, aus dem Zusammenhang gerissen, aber vielleicht vermögen sie einen Hauch von den Auseinandersetzungen, Weisheiten und Gedanken wiederzugeben, die dieses Buch enthält:

„An einer Korrelation zwischen der Stärke des Gefühls und dem Ausmaß des Glücks ließen ihn seine eigenen Erfahrungen inzwischen zweifeln.“

„In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich etwas Absurdes sagen kann.“

„Es ging um mehr: um das Ich und wo man es aufbewahrte und wer, wenn überhaupt jemand, es voll und ganz sehen durfte.“

„Die einzige Geschichte“ legt ein ruhiges, in dieser Ruhe aber letztlich trügerisches Erzählen an den Tag, in dem sich samt und sonders das Dilemma der Liebe, ihrer Geschichten, Vorgeschichten und Umfelder, in vielen Facetten spiegelt. Barnes vermag es, ohne Rührseligkeit oder Sentimentalität, von den Schmerzen und Freuden des Erinnerns, von der Angst, dem Leiden und letztlich auch dem Verschwinden zu erzählen, die zwar nicht den Kern des Liebens ausmachen, aber ihn stets umkreisen, auf instabilen Bahnen.

 

 

Zu den “Sämtlichen Gedichten” von Matthias Politycki


Sämtliche Gedichte Politicky “In jedem Mond steht steil ein Stöckelschuh.
Aus jedem U-Bahn-Schacht rülpst ein Gedicht.
Durch jede Zeile, da fließt du und du und du –
ein grüner Tintentext: mehr nicht.

In jeder Pfanne brät ein Kruzifix.
Aus jedem Pflasterstein grinst ein Gesicht.
Mit jedem Wort schweigst du und du und du –
ein schwarzgedruckter Text: mehr nicht.”

Wenn Bruce Springsteen ein dichtender Automechaniker ist, dann ist Matthias Politycki ein dichtender Tresentyp, ein Großstadtbewältiger, ein Alltagsheld, ein Austeiler und Einstecker par excellence. Seine schnoddrigen und immer etwas gegen den Strich gebürsteten Gedichte sind sicher nicht die besten Beispiele für hohe Lyrik, aber ein Beweis für die breiten Möglichkeiten, die sich für die Lyrik abseits des hohen Tons auftun; und in diesem Abseits entwickeln sie manchmal ungeahnte Kräfte, Verve und eine knittrige Eleganz.

Mit diesem Band kann man sich in der ganzen Bandbreite von Polityckis Lyrik suhlen, sie entlangschlendern, sich hier und da einen tiefen Schluck aus dem Versfass genehmigen. Man wird auf viel Bier, Bockigkeit, feine Ressentiments, scharfe Zärtlichkeiten, gedruckste und missmutige Leidenschaften und manchen Stilbruch stoßen. Schön ist, dass sich viele dieser Gedichte etwas Unerwartetes bewahrt haben, sie ziehen schnell, sie treffen die Lesenden unvorbereitet, sie überrumpeln und entrümpeln die Vorstellungen.

Wem Lyrik oft zu heilig ist, der wird seine Freude an Polityckis teilweise anarchischen, teilweise innovativen, oftmals gerade heraus gehenden, manchmal fast pöbelnden, streitbaren, dann wieder leuchtenden Gedichten finden. Hier gibt sich einer nicht mit Geläufigkeiten zufrieden, ist aber auch nicht bloß ein Krawallfürst. Polityckis Lyrik fühlt sich zwischen den Stühlen wohl, geerdet, aber doch immer wieder virtuos über sich hinauswachsend. Seine Verse erschließen das Verquerte, Verquaste, Verkehrte des Daseins und finden dennoch Platz für poetische Säume, die sie oft raffen, oft durch den Schmutz des Lebens schleifen. Manchmal werden sie aber auch einfach in diesem Saumsein belassen.

“Fels fügt an Fels sich,
Gedankeninseln im Meer:
im Dort und im Dann.
Das Paradies wartet stets,
so wie ich, traurig, auf nichts.”

Zu Josefine Rieks Debütroman “Serverland”


Serverland Wie wäre das, wenn im Jahr 2021 von einem Tag auf den anderen das Internet abgestellt werden würde? Nicht aus Versehen, wie in dem Witz über den Google-Mitarbeiter, der betrunken auf der Weihnachtsfeier an die falsche Taste kommt und dann vergeblich auf die Rückgängig-Funktion klickt – sondern per Beschluss durch die Regierungen der Nationen.

Die Digitalisierung ist den meisten staatlichen Verwaltungsinstanzen in den letzten Jahren davongaloppiert, so abwegig ist es nicht, dass jemand darauf kommt, die Reißleine zu ziehen – und obgleich das Internet sich scheinbar vollständig und unwiderruflich etabliert hat: es ist eigentlich nur ein Haufen Server und Kabel. Eine profane Utopie, an die wir uns gewöhnt haben, die aber keineswegs gesichert ist. Und wenn das alles, das ganze Internet weg wäre? Was würden wir verlieren, wie würde sich das Weltbild verändern? In welchem Ausmaße hat das Internet die Menschen geprägt, die mit ihm leben? Meist kann man so etwas ja erst im Rückblick sagen.

In Josefine Rieks Debütroman ist der Shutdown des Internets schon eine Weile vorbei und die Embleme unseres digitalen Zeitalters sind nur noch Elektroschrott, der bei Trödlern herumliegt. Hardware, Software, alles mehr oder weniger nicht mehr von Interesse. Der Protagonist Reiner, Mitte Zwanzig, ist einer der letzten, denen die Obsession mit dem Digitalzeitalter und seinen Accessoires noch nicht abhandengekommen ist: er sammelt Laptops, Computerspiele, Festplatten, Zubehör. Seine ganze Freizeit scheint mehr oder minder davon in Beschlag genommen – er ist so etwas wie der letzte lebende Nerd.

Eines Tages sucht ihn aus heiterem Himmel ein Schulkollege auf, den er eher flüchtig zu kennen scheint. Er fährt ihn zu einer Lagerhalle mit Servern, auf denen immer noch Daten aus der Internetzeit gespeichert sind. Der Freund, Meyer, will diesen digitalen Friedhof plündern und die Videos und Profile verhökern. Reiner ist dagegen erstmal nur von den Möglichkeiten fasziniert, seiner Leidenschaft zu frönen. Kurz darauf fahren sie gemeinsam nach Holland: Meyer weiß von noch einer Lagerhalle, größer, ehemals im Besitz von Google. Dort treffen sie auf eine Gruppe von Leuten, die eine ähnliche Obsession mit den digitalen Medien zu haben scheint …

Bei aller Begeisterung für die Idee und unter dem Vorbehalt, dass das Folgende sicher auch ein Geschmacksurteil ist: es hapert doch leider bei der Umsetzung an allen Ecken und Enden. Das fängt schon bei den Figuren an: abgesehen von einigen nicht ganz nachvollziehbaren Gefühlsschwenken, bleiben sie sehr blass und es ist, trotz der straighten Erzählweise, nicht wirklich möglich, einen Eindruck von ihrem Innenleben oder ihren Motivationen zu bekommen. Selbst Reiner, der mit der Zeit ein Profil bekommt – schüchterne Existenz mit Kommunikationsproblem – bleibt auf irritierende Weise unberechenbar und ziellos. Beziehungen unter den Figuren finden vor allem in Andeutungen und plötzlichen, im Anschluss anscheinend schon wieder unwichtigen, Interaktionen statt – was aber keine ambivalenten Stimmungen und Konstellationen erschafft, sondern schlicht irritiert. Als ginge das Buch dem Problem der Figurenzeichnung einfach konsequent aus dem Weg. Und wenn dann doch eine Figur ein Profil bekommt, ist es oft ein klar umrahmtes, aus dem diese Figur nie richtig ausbricht, als müsse sie eine bestimmte Rolle, eine bestimmte Funktion erfüllen.

So erscheinen fast alle auftretenden Figuren entweder als Mitglieder einer Null-Bock-Generation, kiffend und trinkend, oder einer idealistischen Minderheit. Der manchmal sprunghafte, dann oft wieder dahintröpfelnde und fast versiegende Handlungsbogen tut das Übrige; immer wieder hat man das Gefühl, jetzt gleich würde die Geschichte vielleicht endlich Fahrt aufnehmen. Aber sie tut es nicht; Konflikte verpuffen, interessante Fragen werden fallengelassen. Auch der Rest der Welt ist kein großes Thema und scheint sich nicht verändert zu haben, obgleich wir uns ja einige Jahre in der Zukunft befinden. Strom, Benzin, Billiglebensmittel, anscheinend alles kein Problem. Und erweiterte Umstände der zukünftigen Lebenswirklichkeit bekommen wir erst gar nicht zu Gesicht (nur im fernen New York wird demonstriert, geschieht … irgendetwas. Als wäre damit, die Außenwelt betreffend, alles gesagt).

Das ganze Buch wirkt wie ein Versuchsaufbau, ein Gedankenspiel. Und in dieser Hinsicht funktioniert es auch: es stellt die Fragen nach der Wirkung und dem Sinn digitaler Vernetzung und digitaler Medien, ihrem Hype- und Sucht- und Attraktionscharakter, und führt die fast schon magische Bedeutung von YouTube-Videos und der Masse gespeicherter Daten deutlich vor Augen. Dieser Aspekt, diese Idee scheint durch, nur leider steckt sie in einem Roman fest, der damit nirgendwo hingelangt. Vielleicht ist das die Botschaft: die Aussichtslosigkeit im Angesicht der riesigen Datenmengen, der damit festgehaltenen, weltbewegenden Ereignisse, der großen Möglichkeiten, die doch daran scheitern, dass eine Gesellschaft nie so gut ist wie das Potenzial ihrer Utopie. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Interpretation den Roman irgendwie „retten“ würde – und tendiere, persönlich, eher zu einem Nein.

Das klingt nun alles sehr hart und es ist natürlich auch so, dass ich diesen Roman von einem Standpunkt aus beurteile, den man nicht teilen muss. Vielleicht hat Rieks ja wirklich auf ihre Weise den Spirit einer Generation eingefangen und vielleicht ist die Unterschwelligkeit ihrer Atmosphären, in denen nichts richtig an die Oberfläche kommt, sogar eigentlich ein großer Geniestreich, den ich einfach nicht als solchen würdigen kann. Trotzdem komme ich mit der Beliebigkeit und den unmotivierten Tendenzen in diesem Buch nicht zurecht.

Vielleicht ist es am Ende so, dass Rieks eigentlich eine Art Remix schreiben wollte, zu einem Buch, das ebenfalls ein großer Desillusionierungsroman und auch eine Generationsdiagnose war; es ist ja kein weiter Sprung vom Faserland ins Serverland. Und tatsächlich könnte ich mir gut vorstellen, dass Fans von Kristian Krachts vor 23 Jahren erschienenem Debüt durchaus auch von Josefine Rieks Buch begeistert wären. Da ich von Kracht nie sonderlich begeistert war, bin ich vielleicht schlicht der falsche Leser, der falsche Rezensent.

Zu Bukowskis Storys in “Pittsburgh Phil & Co”


Die meist zwischen 5-7 Seiten langen Storys dieses Bandes haben es in sich. Es kommen darin vor: Vergewaltigung, Mord, Verzweiflung, Schläge ins Gesicht, Elend, Alkohol, Sex, Kannibalen, Nazis, Misogynie etc.

Hätte mir jemand diese Liste vorgelegt und gesagt, ich würde so etwas gern lesen, ich hätte nie und nimmer dran geglaubt.
Dann kam Bukowski. Zunächst mit vielen Gedichten, hunderten Seiten voller Gedichte (ich halte Charles Bukowski für einen der besten Dichter überhaupt). Ich hatte lange sehr große Bedenken mich von diesem Genre wegzubewegen und mir seine Prosa anzusehen. Zunächst schien diese Angst vor Enttäuschung sogar berechtigt: der erste Roman, den ich von ihm las, “Das Liebesleben der Hyäne”, gefiel mir nicht besonders gut.
Trotzdem gab ich den Stories noch eine Chance. Und sie haben mich umgehauen.

Man kann viel über die Zärtlichkeit sprechen, die in den Storys von “Pittsburgh Phil & Co” liegt und man hätte wohl oft recht damit; doch hat es keinen Sinn zu verschweigen, dass diese Erzählungen teilweise furchtbare Sachen schildern. Schauderhaftes. Gräuel. Gewalt und Sinnlichkeit, die ganz dicht beieinander liegen. Geradezu Ungeheuerliches also. Und das alles prägnant und mit meisterlicher Direktheit.

Wie diese Geschichten es schaffen den Leser – selbst wenn er sich überhaupt nicht mit den Taten der Protagonisten identifizieren kann – mit ihren Themen in den Bann zu ziehen, kann ich nicht genau sagen. Oder vielleicht habe ich es schon gesagt. Es hat sicherlich etwas mit der Prägnanz und der Direktheit zu tun. Mit der Art wie vieles in den Storys als unausweichlich dargestellt wird. Es sind Schauder und Voyeurismus, die hier eine Rolle spielen.
Aber ich behaupte, das ist nicht alles. Man bleibt auch dran, liest weiter, weil man spürt, wie sich in all diesen Figuren etwas quält und regt, dass, egal wie sehr es pervertiert ist, doch seinen Ursprung in etwas zutiefst Menschlichem hat. Dass darin Zärtlichkeit und Grauen des Menschen liegen, in den Dingen, die wir miteinander tun wollen und uns dann teilweise gegenseitig antun, das hat Bukowski großartig im Hintergrund seiner Texte aufgespannt.

Von harten Männern und von Elend handeln diese Storys. Teilweise ist Henry Chinanski, Bukowskis alter Ego, der Protagonist, teilweise haben die Erzählungen aber auch andere Figuren und völlig chinanski-fremde Schauplätze und Themen – wie etwa Cowboys, Schaufensterpuppenliebe oder Einbrecher. Was sie alle vereint sind vielleicht the dark side of the american dream und die ebenso dunkle Seite des amerikanisch-männlichen Selbstverständnisses.

Es gibt sicher viele Leute, die moralisch etwas gegen Bukowskis Storys haben und auch meinen, man könnte moralische Einwände und Argumente gegen sie vorbringen. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich bin gegen jede Verherrlichung von Gewalt, vor allem Gewalt gegen Frauen.
Doch ich finde in diesen Storys nichts, was mich glauben lässt, dass auch nur ein einziger Mann wegen ihnen rechtfertigen könnte, seine Frau zu schlagen. Ganz, ganz, ganz im Gegenteil.
Diese Erzählungen handeln vom “verschütteten Leben”, vom Absturz, vom Elend. Es gibt darin keinen Platz für Glorie, nie den Ansatz einer Rechtfertigung oder kruden Ideologie. Keine Bösewichte treten hier auf, sondern die Pein als vielfältig operierendes Gemeinsames, dass die Verlorenen unter den Menschen alle teilen.

Zu Bukowskis Gedichten, speziell zu denen aus: “Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang”


“nicht als Ketchup und Windhunde
und Krankheit
und Frauen, manche davon
für Augenblicke so schön wie
eine dieser Kathedralen,
und jetzt spielen sie Bartok,
der wusste was er tat,
was bedeutet: er wusste nicht was er tat,
und morgen werde ich vermutlich wieder zurück
zu diesem Scheißjob gehen
wie zu einer Frau mit 4 Kindern”

Charles Bukowskis Gedichte sind Geschichten und Tiraden; Blitzlichter – der Auslöser ist das Leben; frankiertes Elend, dass sich in Nullkommanichts weglesen lässt und doch in seinen Kanten und Rillen viele kleine Offenbarungen versteckt und damit oft auch gar nicht hinterm Berg hält, sondern frontal darauf zusteuert.

Gerade die freie Form der Gedichte macht sie zwingend, lässt sie zusammen dem lapidaren Ton zu einer Beschwörung werden, die das faserige Leben aus dem Fleisch des bloßen Benennens, Erzählens, Dokumentierens schneidet. Bukowski-Gedichte, das sind die unanmaßendsten Anmaßungen der Lyrikgeschichte.

“kann sein, dass Eiswürfel aus der Schale brechen
etwas bedeuten kann,
oder eine Maus die an einer leeren Bierflasche schnuppert;
zwei leere Räume, die ineinander hineinsehen,
oder die nächtliche See, bestückt mit schmierigen Schiffen
die dir ins Hirn dringen mit ihren Lichtern,
diesen salzigen Lichtern
die dich streifen und wieder verlassen
für die konkretere Liebe irgendeines Indien;”

Die Gedichte im Band “Gedichte, die einer schrieb” sind nicht ganz so ausbalanciert wie jene in “Western Avenue” oder “Kamikazeträume”, aber dennoch haben sie bei aller Zurückgelehntheit oder Heftigkeit denselben schalen Glanz, der so hell und großflächig reflektieren kann, von dem so mancher Wahnwitz und Verdruss und so viel Tiefe zurückbleibt.

Ausholen tun seine Gedichte, aber sie verstehen es auch eine ganz spezielle Besinnlichkeit hervorzurufen, einzigartig, fast kämen die Texte einem wie Prosa vor, in Verse gepresst, aber sie sind etwas Subtileres: Gerede, das am Rande des Lyrischen streift und es immer wieder betritt. Gerede, das kein Gelaber ist, sondern eine Stimme, die den Leser nicht in eine flüchtige Metapher presst, sondern mitten in einen großen Raum schmeißt, einem Raum voll von Willen zu etwas, dem Versagen daran, voller Anekdoten, dem Staub, der wir werden & Bewegungen, die wir sind, im Versuch, noch anders zu sein als das Nichts.

Das Sensible in den Gedichten entdeckt man schnell selbst, am eigenen Leib könnte man fast sagen. Was will man mehr von nem Gedicht?

“Es kommt die Zeit wo man tiefer
in sich reingehen muss
und es kommt die Zeit
wo sichs unschuldiger
und leichter stirbt
wie bei nem Bombenangriff
auf Santa Monica”

3 Blätter zur Dichtung von Guillaume Apollinaire


I – Alkohol

“Heftiger Absinth, das schönste Ungeheuer das nach Lorbeer schmeckt ist voller Trauer.”

“Nun durchstreifst du Paris ganz allein in der Menge
Herden muhender Autobusse rollen an dir vorbei
Die Angst um Liebe schnürt dir die Kehle zu
Als ob du nie mehr geliebt werden solltest
Wenn du in früheren Zeiten lebtest gingst du ins Kloster
Ihr schämt euch, wenn ihr euch dabei ertappt ein Gebet zu sprechen
Du findest dich lächerlich und dein Gelächter prasselt wie Höllenfeuer
Die Funken deines Gelächters vergolden den Grund deines Lebens
Es ist ein Bild, dass in einem düstern Museum hängt
Und manchmal gehts du hin, es von nahem zu sehn”

Mehr ein Mythos als ein Buch, ein reich verziertes, riesiges Tor, dass nicht zum Eintreten, sondern zum Betrachten gedacht ist: die Sammlung „Alkohol“ von Guillaume Apollinaire, erschienen 1913, heute als der erste große Gedichtband des Jahrhunderts gefeiert.

Sie bleibt ein Mythos noch während man liest – und das ist das Einzigartige an Apollinaires Dichtung: ihr Verve, ihre Unabhaltbarkeit, ihr Brechen und Bersten, das auch noch Flügel bekommt. Dichtung, die ganz und gar Essenz und Willkür ist, Wortkragen, fest umgeschlagen; seine Verse sind wandelnde Fugen der Welt, ein Hohn und doch ein Segnen, jede Zeile wie ein Schluck. Dem zollt auch die Form ihren Anteil, man findet kein einziges Satzzeichen – neue Sätze sind, oft mitten im Vers beginnend, im Deutschen allerhöchstens noch an großen Wortanfängen ablesbar; als würden die Gedichte leben und sich schier nicht beschränken, gleich der Welt, die sich gerade, um Apollinaire herum, rasend verändert, während neue Strömungen der Literatur zusammenfließen und explosiv sind.

“Milchstraße lichte Schwester drüben
Der weißen Bäche Kanaans
der weißen Körper die sich lieben
Uns tote Schwimmer lässt dein Glanz
Zu immer neuen Nebeln stieben

Ich denke ein paar Jahre zurück
Es war April bei Morgenhelle
Des Jahres Liebesaugenblick
Da sang aus voller Manneskehle
Ich meine Liebe und mein Glück.”

Die Melancholie, sagt man, ist der größte Freund des Trinkers; Gold und Rot sind die wichtigsten Farben. Diese Gedichte sind beides, melancholisch und wie aus Gold und Rot (gegossen über Spiegel, Fotos, Fassaden) auf denen sich der Glanz vieler verschiedener Farben spiegelt. Sicher: Oft braucht es ein-zwei Anläufe eines dieser Gedichte zu lesen und manchmal kann man auch nicht anders, als sie einfach zu “trinken”. Man merkt schon, dass mich die riesige Metapher, der Mythos dieses Buches überrannt hat; aber es ist schwer, dies nicht geschehen zu lassen – zu viel Nacht, Wein, Reben, Gewalt und Flair ist in diesem Band zusammengeflossen. Er kann zärtlich sein, beobachtend, flanierend, tödlich und traurig, prunkvoll und still.

“Der Mai der schöne Mai schmückt die Ruinen mild
Mit Efeu Heckenrosen und wildem Weine
In Uferweiden spielt und wühlt der Wind vom Rheine
In Rebenblüten nackt und plauderhaftem Schilf”

Es soll jemand anderem überlassen bleiben, oder jedem selbst, diese Gedichte zu deuten, ihre religiösen Motive und unterschwelligen Sehnsüchte zu analysieren. Ich habe es gar nicht erst versucht; die leicht polierte Schönheit und abgeschreckte Kühnheit mancher Verse reicht mir.
Auf jeden Fall sind die Alcools ein Abenteuer für sich. Ein dichterischer Auswuchs, der einen prachtvollen Baum abgibt; es lohnt, seine Früchte zu kosten.

II – Wintern im Ehemals, Apollinaire

“Ich kenn Leute von allen Allüren
So schlecht wie ihr Schicksal sind sie nicht
Wie welke Blätter sich rühren
Zuckt ihnen im Aug halberloschenes Licht
Ihre Herzen gehen wie die Türen.”

Als die Zeitschrift “Das Gedicht” 1999 die 100 bedeutendsten internationalen Dichter kürte, landete der Mann, der die Begriffe Surrealismus und Symbolismus geprägt hatte, auf dem zweiten Platz. Sicherlich, so nah an die Sonne hätte ich Apollinaire nun nicht gesetzt. Aber ohne Zweifel ist er einer der bedeutendsten Dichter und auf jeden Fall einer der wichtigsten Erneuerer der Poesie.

“Lange blickt er hin auf die Küsten blasser und blasser
Am Horizont von Spielzeugschiffen bewacht
Und es schien als habe ein ganz kleiner Strauß auf dem Wasser
Der ziellos dahintrieb das Wasser zum Blühen gebracht”

Nach den Alcools hat Apollinaire nur noch Bildgedichte veröffentlicht und ein paar nachgelassene Gedichte gibt es auch noch. Sein schmales Werk ist eigentlich ein großes, schwül-gebrochenes Gedicht an das Leben und die unmögliche Erhöhung, ihren Versuch; eine große Sonate, wenn man so will, allerdings eine, die einen schon beim ersten Ton in eine Art Rausch versetzt. Dem entspringt dann wiederum ab und zu eine große Zärtlich- und Verletzlichkeit. Ihn zu lesen ist, als würde man einem Sturm lauschen: Manchmal ohrenbetäubend, dann wieder nur ein taubes Tosen, dann ein Abflauen, mit kleinen Böen und dann alles zusammen. Und dann vielleicht etwas Stille.

“Am Ufer eines Sees
ließ man zum Vergnügen
Flache Steinchen
Übers Wasser springen das kaum tanzte”

III – Unterm Point Mirabeau oder “Die Schattenkerze ist vom warmen Golde prächtig.”

“Unter Point Mirabeau fließt die Seine dahin
Unsere Liebe auch
Ist Erinnern Gewinn
Aus traurigem Sinn wird fröhlicher Sinn

Komm Dunkel Stunde eile
Die Tage gehn ich verweile”

Guillaume Apollinaire, der eine Vorliebe für alle Arten des Schönen und des Morbiden hatte, war ein polemischer und auch ein engagierter Dichter, aber mehr als das alles, war er schlicht ein Dichter, angefüllt von dieser Idee selbst. Seine teils surrealen, dann wieder mythischen, dann wieder barocken und schließlich romantischen Dichtungen gehorchen nur der eigenen, vollkommen Essenz und Ausrichtung. Sie sind Gesänge, die durch Katakomben irren, Bittverlesungen in ausgebrannten Kapellen, Klaviere in einem Sarg, Fahnenstangenaufraffungswörter.

“Die Schafe ziehn dahin im Schnee
Wollflocken zwischen Silberflocken
Soldaten ziehn und wann den je
Gehört mein Herz mir wieder stockend
Und wechselhaft und weiß ich je

Weiß ich wohin es geht dein Haar
Kraus wie das Meer bei frischem Wetter
Weiß ich wohin es geht dein Haar
Und deine Hände Herbstes Blätter
Der voll von unsern Schwüren war

Hin schritt ich an des Flusses Seite
Ein altes Buch in Händen noch
Gleich ist die Seine meinem Leide
Sie strömen unversieglich beide
Wie lang ist diese Woche doch”

Jedes Wort ist ein letzter Tropfen und der Geschmack ist gleichsam dicht und verführerisch, aber auch etwas fahl, etwas bitter. Wahrscheinlich sind es ein paar der unmittelbarsten Dichtungen, die es gibt.

“Schicksale, nimmer zu durchschauen
In Wüsten von Geschichte schwer
Könige in des Wahnsinns Klauen
Ein frostdurchbebtes Sternenheer
In euren Betten falsche Frauen”