Julian Barnes hat die Gabe Romane zu schreiben, nach deren Lektüre man das Gefühl hat, man könne nicht so weitermachen wie bisher. Vielleicht ist dies das ultimative und letztendliche Potenzial des Romans, ein Versprechen, das die besten Werke dieser Gattung stets einlösen müssen.
Barnes Bücher sind aber dennoch etwas Besonderes, denn seine Prosa ist zusätzlich, vor allem in „Die einzige Geschichte“, ein kleines anatomisches Wunder: in ihr fallen Empfindung und Verstand in vielerlei Hinsicht zusammen, zumindest liegen sie oft sehr nah beieinander. Dass diese Nähe nicht in Klischees kulminiert oder sich in eine Flucht vor jedem Anschein von Klischee hüllt, macht sie noch beeindruckender. Eine direkte Folge dieser Vermengung von Geist und Gefühl ist einerseits die Zugänglichkeit von Barnes Romanen (für alle Leser*innengruppen) und andererseits eine Komplexität, die sich aus dem unerschöpflichen Konfliktpotenzial der beiden Regungen ergibt.
In „Die einzige Geschichte“ spielt außerdem (wie schon in dem großartigen Roman „Vom Ende einer Geschichte“), die Erinnerung, ihre Beschaffenheit, Verlässlichkeit und Konditionierung, eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler Paul erinnert sich, mit einem Abstand von 50 Jahren, an den Beginn seiner ersten großen Liebe zu der Mitte 40jährigen Susan (er ist zu diesem Zeitpunkt gerade 19) und versucht ihre Beziehung und deren Verlauf zu rekonstruieren. Dabei durchlebt er die Ereignisse teilweise erneut und befragt seine Entscheidungen, gelangt von elementaren Fragen zu kleinen, individuellen Details, von winzigen Eindrücken zu größeren Zusammenhängen, während sich den Leser*innen langsam die Hintergründe offenbaren …
Kann man Gefühle verstehen? Oder muss man schlicht an sie glauben? Sind wir wirklich der Protagonist unserer Erinnerungen oder mehr der Erzähler, ja, der Schöpfer? Was bedeutet es eigentlich zu lieben und sind wir als Liebende auch Erinnernde oder müssen wir das trennen? Ist Liebe ein Heil oder nur ein Wünschen?
Es ist unmöglich, hier alle Fragenkomplexe aufzugreifen, die Barnes seinen Ich-Erzähler streifen und durchdringen lässt. Feststeht: als Leser*in wird man fast auf jeder Seite mit kleinen, unspektakulären, aber dennoch in vielerlei Hinsicht tiefgreifenden Offenbarungen konfrontiert, oder sollte ich eher sagen: beschenkt?
Nur drei kleine Beispiele, aus dem Zusammenhang gerissen, aber vielleicht vermögen sie einen Hauch von den Auseinandersetzungen, Weisheiten und Gedanken wiederzugeben, die dieses Buch enthält:
„An einer Korrelation zwischen der Stärke des Gefühls und dem Ausmaß des Glücks ließen ihn seine eigenen Erfahrungen inzwischen zweifeln.“
„In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich etwas Absurdes sagen kann.“
„Es ging um mehr: um das Ich und wo man es aufbewahrte und wer, wenn überhaupt jemand, es voll und ganz sehen durfte.“
„Die einzige Geschichte“ legt ein ruhiges, in dieser Ruhe aber letztlich trügerisches Erzählen an den Tag, in dem sich samt und sonders das Dilemma der Liebe, ihrer Geschichten, Vorgeschichten und Umfelder, in vielen Facetten spiegelt. Barnes vermag es, ohne Rührseligkeit oder Sentimentalität, von den Schmerzen und Freuden des Erinnerns, von der Angst, dem Leiden und letztlich auch dem Verschwinden zu erzählen, die zwar nicht den Kern des Liebens ausmachen, aber ihn stets umkreisen, auf instabilen Bahnen.