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Eine sehr menschliche Adaption der Gestalt Jesu und seines Wirkens


Die Passion

Mit ihrem neusten Werk, das will ich direkt vorwegnehmen, ist Amélie Nothomb meiner Ansicht nach ein berührendes, intimes Portrait einer eigentlich überlebensgroßen, vollständig mythologisierten Figur geglückt. Jesus von Nazareth, der, ganz gleich ob er nun eine historische Person oder eine Metapher war (letzteres würde die Glaubwürdigkeit seiner Lehre nicht untergraben, ja, vielleicht sogar stärken), vielen als Erlöser gilt, als Inbegriff der Weisheit, des Glaubens und der Liebe, als menschgewordener Gott.

Genau so und doch ganz anders stellt ihn Nothomb dar, ja ich wage zu behaupten, in ihrem Buch „Die Passion“ ist Jesus menschlicher als in jeder anderen Darstellung (zumindest unter denen, die mir bekannt sind), ohne das die Autorin seine göttliche Abstammung und Mission negiert. Aber sie lässt die Passions- und darüber hinaus die Lebensgeschichte von Jesus in einem ganz neuen Licht erscheinen, ihn selbst zu Wort kommen, nicht nur als Sprachrohr Gottes.

Das Buch beginnt mit dem Prozess gegen Jesus, in dem all die Leute, an denen er Wunder gewirkt hat, Zeugnis gegen ihn ablegen:

„Der nun sehende Blinde klagte über die Hässlichkeit der Welt, der einst Aussätzige beschwerte sich, dass die Almosen ausblieben, der Fischereiverband vom See Genezareth warf mir vor, ich hätte ein paar Fischer bevorzugt behandelt, und Lazarus schilderte, wie grauenhaft es sich anfühlt, wenn einem der Leichengeruch an der Haut klebt.“

Nicht Dankbarkeit, sondern Misstrauen und Unverständnis schlagen ihm entgegen und er nimmt dies zwar hin, aber in seinem Innern, das er auf den folgenden 120 Seiten offenlegt, hadert er mit dieser Entwicklung, die er als unausweichlich ansieht, deren Wucht und Absurdität in ihm aber trotzdem Zweifel, Scham und Widerstände schüren.

„Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd. Trotzdem begreife ich nicht, was in sie gefahren ist, dass sie mich derart mit Schmähungen überhäuften. Und dieses Unverständnis betrachte ich als Scheitern, ja als Verfehlung.“

Wir erleben im Folgenden einen Jesus Christus, der zwar in seiner Weisheit und seinem Plädoyer für Liebe und das einfache Leben sehr seinem Vorbild aus der Bibel gleicht, aber ungleich zerrissener ist, was seine Erfahrungen auf der Erde und sein Schicksal angeht. Er rekapituliert sein Wirken und erzählt von den Menschen, die seinen Weg begleitet haben, vom widerspenstigen Judas, seinem Ziehvater Joseph, seiner großen Liebe Maria Magdalena, seiner Mutter Maria – und seine Betrachtungen dieser Begegnungen sind voller Eingeständnisse.

„Meine Mutter ist auch ein viel besserer Mensch als ich. Das Böse ist ihr fremd, sie erkennt es nicht einmal, wenn sie darauf stößt. Ich beneide sie um dieses Unwissen. Mir ist das Böse nicht fremd. Um es bei anderen zu erkennen, muss ich es notwendig in mir tragen.“

Trotz dieser Entzauberung ist Nothombs „Passion“ ein zutiefst spirituelles, emphatisches Werk. Der große Unterschied zur biblischen Geschichte ist, dass Jesus keineswegs den Geist über den Körper stellt, sondern dem Körper (diesem Motiv, das Nothoms Werk wie kein zweites durchzieht) sogar besondere Bedeutung und Schönheit beimisst. So sieht er zum Beispiel die beste Entsprechung der Erfahrung von Gott nicht im Glauben oder der rein geistigen Liebe, sondern in körperlichen Empfindungen, allen voran im Durst.

 „Es ist kein Zufall, dass ich mir diese Weltgegend ausgesucht habe: Politisch zerrissen war mir nicht genug, ich brauchte ein durstiges Land. Nichts ist der Empfindung, die ich erwecken will, ähnlicher als der Durst. […] Es gibt Menschen, die glauben, keine Mystiker zu sein. Sie irren sich. Wer einmal wahrhaft gedürstet hat, hat diesen Status schon erreicht. Wenn ein Dürstender den Wasserbecher an die Lippen setzt – dieser unbeschreibliche Moment ist Gott. […] Versucht, diese Erfahrung zu machen: Nachdem ihr ausdauernd gedürstet habt, trinkt ihr den Becher nicht auf einen Zug aus. Nehmt einen einzigen Schluck, den ihr für ein paar Sekunden im Mund behaltet. Ermesst das Entzücken. Dieses Wunder ist Gott.“

Und auch die Liebe, körperlich wie seelisch, bringt er mit dem Trinken zusammen:

„Liebe fängt immer damit an, dass man mit jemandem etwas trinkt. Vielleicht, weil keine andere Empfindung so wenig enttäuscht. […] Wer jener, die er bald lieben wird, zu trinken anbietet, verspricht, dass der Genuss nicht hinter der Erwartung zurückbleiben wird.“

Die Passion, das körperliche Leiden, bei dem wir ihn als Leser*innen am Ende des Buches begleiten, empfindet er zwar als seine Aufgabe, aber eine widersinnige. Er glaubt nicht das darin etwas Heilsames liegt und ertappt sich selbst über das ganze Buch immer wieder bei dem Wunsch, mit Maria Magdalena fortzugehen und ein normales, unscheinbares Leben fern seiner Bestimmung zu führen. Seinem Vater, Gott, wirft er vor, dass er seine eigene Kreation, die Menschen, nie wirklich verstanden hat, gar nicht verstehen könne, weil er keinen Körper habe. Und auch die Kreuzigung und ihre fatale Wirkung wirft er ihm vor.

„Denn was mein Vater mir auferlegt, zeugt von einer so tiefen Verachtung des Körpers, dass davon für immer etwas zurückbleiben wird.“

Man könnte die Figur, die Nothomb kreiert hat, als eine Art Verschmelzung des biblischen Jesus mit Epikur bezeichnen, mit einem Schuss mittelalterlicher Mystik. Sie ist in keinem Moment eine Parodie oder negative Verzerrung des biblischen Jesus, richtet aber seinen Fokus neu aus, verlagert seine Sicht, sodass er als Mensch unter Menschen etwas mehr von der menschlichen Seite der Geschichte versteht und nicht allein die göttliche Perspektive vertritt.

Er beschreibt die Menschheit als genau jene Mischung aus Abgründen und Tugenden, die sie ist. Menschen sind eigensinnig, misstrauisch, schwerfällig, auch dumm und kleinlich, aber eben auch selbstlos, spontan, können überraschen und sich überwinden.

„Eine merkwürdige Art, die mein Vater da erschaffen hat: auf der einen Seite Niedertracht mit Meinungen, auf der anderen Großherzigkeit, die nicht denkt.“

Gläubige werden/würden wohl dennoch Anstoß nehmen dieser Jesus-Figur, allein schon deshalb, weil er seinen Vater für fehlbar und in mancherlei Hinsicht für unwissend hält. Aber das Plädoyer, welches dieses Buch vorbringt, zeichnet dennoch ein wunderbar genaues Bild einer Menschheit, die immer hin und her gerissen ist zwischen spirituellen und körperlichen Bedürfnissen. Ein Bild auf dem sich sehr viel leichter ein Glaube aufbauen lässt als auf der unfehlbaren Gestalt der Bibel, denn es hat ein durch und durch menschliches Antlitz.

Zu Amélie Nothombs neuem Roman “Happy End”


Happy End Es ist kein Kitsch, aber es ist verdammt nah dran! Diese Bemerkung träfe wohl auf einige Bücher von Amélie Nothomb zu und beschreibt außerdem recht gut den unverblümten Sinn für Schönheit und Sinnlichkeit, der ihnen entspringt und den Hauch von frecher Genialität, der sie umgibt.

Amélie Nothomb ist nämlich eine Meisterin der Direktheit, der ungekünstelten Intensität und auch der Brechstangenpsychologie, letztere wendet sie jedoch mit so viel Feingefühl, Witz und einem Gespür für letzte Ambivalenzen an, dass man sie ihr nicht übel nimmt, ebenso wenig wie die Schlichtheit ihrer Plots, sondern vielmehr staunt, wie sie mit diesen einfachen Aufzügen den Sehnsüchten und Dilemmas des Menschlichen so nah kommt.

Nothomb hat nur wenige Themen, aber Schönheit und Hässlichkeit (und ihre Gegenüberstellung) sind eines davon (sie hat diesen Topos schon in Büchern wie “Quecksilber” aufgegriffen). In “Happy End” hüllt sie das Thema in ein paar leicht märchenhafte Faktoren und erzählt, unabhängig voneinander, die Geschichten zweier Einzelgänger*innen, einer strahlenden Schönheit und einem von Geburt an hässlichen Jungen, die beide durch ihr Äußeres auf sich selbst zurückgeworfen sind und sich schließlich mehr in sich selbst als in der Welt einrichten. Während die Schönheit Trémière später Juwelen für sich entdeckt, besser: die Kunst sie zu tragen, verbringt Déodat sein Leben mit dem Beobachten und Studieren der Vögel. Beide sehnen sich, irgendwann einmal mehr verstanden zu werden als bisher. Aber wie soll das möglich sein, schwebt ihr Aussehen doch über ihnen – aber nicht einmal das scheint ein Garant für ein ungeplagtes Herz zu sein.

Eine Kunst, die Nothomb neben Leichtigkeit, Witz und Esprit beherrscht, ist die Kunst der Faszination. Ich werde wohl nie zum Vogelversessenen werden, aber für ein paar Seiten hat mich Nothomb zu einem gemacht (wie sie mich für kurze Zeit schon zu so vielem gemacht hat: zum Champagnersäufer, Briefeschreiber, zum Süßigkeitenanhimmler, zum Japantouristen, ja, zum Monster). Sonderlinge bevölkern ihre Romane, aber sie streift sie uns ohne Schwierigkeiten über und ihre Eigenwilligkeit wird zur Selbstverständigkeit, zum Herz-hochschlagen-lassenden Existenzinhalt.

“Happy End” ist ein weiteres Glanzstück, das kein Nothomb-Fan sich entgehen lassen sollte und jeder Neueinsteiger bedenkenlos zur Hand nehmen kann. Ein Hoch auf Amélie Nothomb!

Von Briefen, Fett & Existenz, mit Kummer und Humor – Nothombs “So etwas wie ein Leben”


“Ich brauche ein bisschen Verständnis, und ich weiss, Sie werden mich verstehen. […] Ich leide unter einem Übel, das unter den amerikanischen Truppen im Irak immer mehr grassiert.”

Na klar, Amelie Nothomb hat ja schon einiges zu Sucht und Überschwang geschrieben und auch mit Hunger kennt sie sich aus (siehe: Biographie des Hungers). Aber trotzdem: kann sie einem 180kg schweren Soldaten im Irak in irgendeiner Weise beistehen? Was soll sie ihm auf seinen ersten Brief zurückschreiben? Was will er?

Aus der ersten Verwunderung wird bald ein reger Briefwechsel, in dem die Schriftstellerin von Anfang an die Rolle der Zuhörerin einnimmt. Erzählen tut Melvin Mapple: vom Krieg, von seiner Revolte gegen die Armee durch seine ständige Gewichtszunahme, von seinen ebenso dicken Freunden und seiner ambivalenten Beziehung zu seinem Fett, das er gleichsam liebt und verabscheut. Und natürlich die Schuldgefühle des Soldaten, die direkt und unter der Hand mit der Leibesfülle einhergehen und gleichzeitig kompensiert werden.

“Ich brauche ein menschliches Wesen, das außerhalb von all dem und zugleich mir nahesteht – das ist doch die Rolle des Schriftstellers, oder?”

Es ist interessant, wie es Amelie Nothomb gelingt, wieder einmal viele Aspekte in einem Buch zusammenzubringen. Abgesehen von der Fettsache, wird zwar keiner dieser Aspekte wirklich weit getrieben, aber es ist doch stets ein feines Gespür für die nicht ganz unerheblichen Fragen hinter ihrer Prosa zu spüren – ein Gespür, das viele dieser Fragen in kleine fiktive Elemente der Erzählung umwandelt.

Vieles, was Nothomb in diesem Buch scheinbar von sich selbst Preis gibt, ist eine Fiktion, ebenso wie der ganze Briefwechsel (wenn es auch vielleicht eine inspirierende Grundlage gegeben haben mag). Dieser Fakt macht das ganze Buch aber nicht langweiliger, sondern erstaunlicher. Weil es eigentlich nur mit der Fiktion spielt und trotzdem an den Oberflächen der Wirklichkeit kratzt. Zwar mag es den Briefwechsel nicht gegeben haben, wie Nothomb ihn aufschreibt, aber man hat das Gefühl, das die Dinge, die verhandelt werden, echt und teilweise existenziell sind. Aus der Fiktion wird eine Erzählung, deren Problematik sich in der Wirklichkeit in Teilen niederschlägt, ob man das nun sehen will oder nicht.

“Sie müssen keine Bedenken haben, als Psychologin herhalten zu müssen. Von denen gibt es hier genug. […] Was ich von ihnen erwarte, ist etwas anderes. Ich möchte für Sie existieren. Ist das vermessen? Ich weiß es nicht.”

Es ist diese Balance aus Realität und Fiktion, in und um dieses Buch herum, die es trotz vieler Angriffsflächen zu einer gewinnbringenden Leseerfahrung macht. Mit leicht burleskem Witz und einem Hang zum Grotesken, wie in jede Fiktion von Nothomb innehat, generiert es während des Lesens auch eine anschwellende Traurigkeit, ein Mitgefühl – welches ebenfalls wieder leicht gebrochen wird … Das Ende ist dann ein eskapistischer Geniestreich! Darüber hinaus lernt man einiges über Briefe und eine fiktive Amelie Nothomb.

“Melvin Mapple flösste mir Respekt und Sympathie ein, aber ich hatte mit ihm dasselbe Problem wie mit 100% aller Lebewesen, ob menschlich oder nicht: das Problem der Grenzen. Man lernt jemanden persönlich oder brieflich kennen. Der erste Schritt ist, dass man die Existenz des anderen wahrnimmt; es kommt vor, dass man dann hingerissen ist. In einem solchen Augenblick ist man Robinson und Freitag am Strand der Insel, man betrachtet einander, verblüfft, entzückt, dass es in diesem Universum einen anderen gibt, der so anders und doch so nah ist. Die eigene Existenz wird verstärkt, weil der andere sie wahrnimmt und von einer Woge der Begeisterung für dieses Individuum erfasst wird, das einem wie durch eine wunderbare Fügung ein Gegenüber beschert. Dieses belegt man mit phantastischen Namen: Freund, Liebster, Gast, Kamerad, Kollege, je nachdem. Es ist ein Idyll. Der Wechsel zwischen Gleichheit und Andersheit stürzt einen in kindlich dumme Bezauberung. Man ist so berauscht, dass man die Gefahr nicht kommen sieht.
Und plötzlich steht der andere vor der Tür. Man ist auf einen Schlag ernüchtert und weiß nicht, wie man ihm sagen soll, dass man ihn nicht eingeladen hat. Nicht, dass man ihn nicht mehr liebte, aber man liebte ihn als anderen, das heißt jemanden, der nicht man selbst ist. Doch der andere nähert sich an, als wollte er sich einem angleichen oder einen sich.”

Die Kunst des Hungers und Amelie Nothomb. “Biographie des Hungers”


Wenn Literatur tiefenwirksam ist, gleichsam lacht und spielt, leicht obsessiv und rasant ist, dann ist nicht selten Amelie Nothomb am Werk!

Nur wenige wissen es: Die Bewohner von Vanuatu kennen keinen Hunger. Regionaler Überfluss und fehlende Kolonisation haben für dieses Phänomen gesorgt. Doch das ist nur eine kleine subtile Einleitung, denn: “Was mich an Vanuatu fasziniert, ist, dass es in so hohem Maße die geographische Manifestation meines Gegenpols ist. Denn ich bin der Hunger.”

Die nachfolgende autobiographische Geschichte führt uns rasant um den Globus und in kindlich-lebendige Welten, die sich in Birma, New York, China und Japan austoben, in denen die kleine Amélie wegen der Botschaftertätigkeit ihres Vaters aufwächst. Eine Biographie des Hungers, das sind Farben, die nun gleichsam kosmologisch durch unsere Adern pochen, während wir außer Atem durch die Sprache der geistreichen, witzigen und launischen Erzählerin gleiten. Wohin? – “Weg von hier”, nach Kafkas Credo? An ein Ziel? Zu einem Lustgewinn? Eigentlich ist die ganze Geschichte wie ein einziger Atemzug, immer präsent und es kommt einem vor als sei manches davon genau zwischen Phantasie und Wahrhaftigkeit geborgen …

Man sagt Amélie Nothomb gelegentlich die vielschreiberische Dilletanz nach und spricht ihren Büchern literarische Größe ab (wenn man jenes mit den Werken von Georges Simenon täte, wäre es genauso Unrecht). Doch zum ersten Mal hat es mich nicht gestört, das einer meiner Lieblingsliteraten von einer solchen Schmähung betroffen ist.

Denn dieser Vorwurf, verblasst, ja, scheitert, an der Lesefreude, die mir jedes kleine biographische Buch dieser Autorin gegeben hat. Ihr Ausdruck hat ein wunderbares Gespür für das Natürliche, ihr treffsicherer Witz lebt von Slapstick ebenso wie von schlichter Sympathie und pflant eine schmale Verrücktheit direkt unter unter die Haut des Lebens; ihre Geschichten sind so genial in Szene gesetzt wie phantastische Erzählungen; immer wieder stolpert man über Mythen, Anspielungen und einen leichten Hang zur Übertreibung, der Hals über Kopf das Subjektive der Realität zu betonen weiß und alle kleinen Details ebenso herausstreicht, wie relativiert.

Bei solchen Qualität, kann mir Kritik gestohlen bleiben. Es war Heinrich Böll, der einmal richtig gesagt hat: Es kommt darauf an, was man einem Autor verzeihen, nicht, was man ihm vorwerfen kann. Ich verzeihe Amelie Nothomb die Kürze und literarische Nonchalance, denn ihre Romane passen meiner Leselust wie ein schönes Paar verrückter Engelsflügel; wenn mir die Schokolade am besten schmeckt, kümmere ich mich nicht darum, ob eine andere mehr Kakao enthält.

Mehr zu Amelie Nothomb bei meiner Rezension zu Quecksilber.

Zu Amelie Nothomb und zu ihrem Buch “Quecksilber”


Amelie Nothomb, schreibwütig, diabolisch, ironisch, gehört zu den spektakulärsten Schriftstellern der 90er Jahre und des neuen Jahrtausends. Ihre zahlreichen, meist kurzen Bücher, teilen sich in zwei verschiedene Werkgruppen auf, die ihr vielfältiges Ceuvre im Kern bestimmen.

Das erste sind die autobiographischen Bücher, darunter das bekannte Buch Mit Staunen und Zittern, sowie das geniale Buch Biographie des Hungers und ähnliche. Sie stützen sich oft auf Nothombs Erlebnisse in Japan oder drehen sich um ihre Kindheit als Diplomatenkind und Weltreisende.

Was an diesen Büchern auffällt ist die Virtuosität der Bezüge (literarische, blumige, manchmal auch exzentrische Vergleiche; Metaphern und Bilder, die ihre eigene spontane Schönheit und Genialität besitzen), eine überbordende Dynamik mit Esprit und das unterschwellige Gefühl, eine reale Geschichte durch einen Schleier von kindlichem bis phantastischem Hang geschildert zu bekommen; eine zwischen Naivität und Genialität pendelnde Art, die Dinge in Sprache anzubringen und sich vorzustellen; vielleicht einfach im Bestreben, das Besondere im Leben selbst zu sehen.

Die Fröhlichkeit und Leichtigkeit dieser Bücher, ihre pointenhaltige Gewandtheit und ihr Tempo, schaffen es,  Knappheit und Kürze der Bände aufzuheben und quasi ins Gegenteil zu verkehren, ja sogar folgerichtig erscheinen zu lassen, als wäre alles aus dem mythischen Stoff der Erinnerung selbst gewebt, der sich nicht in eine grauere, bescheidenere Version der Schilderung ummünzen lässt.

All diese Eigenschaften der autobiographischen Werke teilweise in einem großen Gegensatz zu dem zweiten Bereich ihres Werks, den rein fiktionalen Texten und Geschichten. Deren düsteren Szenarien, die Dialoglastigkeit und ein geradezu halsbrecherischer Hang zu provozieren, zu verdrehen und zu plakatieren, lassen selbst bei einer intensiven Lektüre eine merkwürdige Ungewissheit zurück. Die meisten dieser Bücher sind experimentelle, fast schon nicht mehr realistische, parabelartige Erzählungen von Menschen in außergewöhnlichen Lebens- und Existenzsituationen; oft spielt Reflexion und Außenseitertum eine Rolle, das Bewahren von Schönheit, Unschuld oder Kindheit, das Aussperren der Welt. Oft aber auch die Reflektion der menschlichen Hybris (und auch seiner Antihybris).
Bei den meisten dieser fiktionalen Werke fällt auf, dass ihre Plots zwar einer gewissen Faszination nicht entbehren und ihre Idee einiges an Potential birgt, sie aber meist weder vollends ausgereizt werden(als Ausnahme darf hier der Erstling Die Reinheit des Mörders gelten) noch in ihren fiktionalen Rahmen wirklich überzeugend sind (wenn man sie nicht als bloßes Spiel in Prosa, wie eine Art Märchen oder Geschichtchen, betrachtet). Man spürt, dass hier eine Autorin mit großem Sprachgefühl und Stil (denn das ist Amelie Nothomb ohne Frage) mit scheinbar drastischen Plots versucht ihre Schwächen in punkto Ausdauer, Langmut und Ausarbeitung einer definitiven und ausgefeilten Sotry zu kaschieren.

Nimmt man ihr das Übel? (Ich) Nicht wirklich, denn bei all dem kommen zwar keine wirklich guten Romane, aber interessante Gedankenspiele heraus, von denen einige vielleicht irgendwann sogar einen wegweisenden Status erhalten könnten. In Quecksilber zum Beispiel geht es zentral um den Konflikt zwischen Liebe und Anstand/Moral und um die Frage wie die beiden sich gegenseitig schaden oder beeinflussen. Zwar ist die Geschichte an sich nicht besonders ergiebig – die ihr innewohnende Problematik aber schon. Was macht Liebe aus? Ihre Grenzen oder ihre Bedingungslosigkeit? Ihr Ruf, ihr Name oder ihre Auswirkungen? Welche Seite hat in der Liebe welches Recht? Auch wenn diese Fragen in einer etwas simplen Story aufgezogen werden – so präzise und unbequem hat selten jemand die Fragen zu dieser – in der Literatur meist einseitig positionierten – Thematik gestellt, wie Amelie Nothomb in Quecksilber.

Kurz zum Inhalt:
Seit 5 Jahren wird Hazel von dem knapp 50 Jahre älteren ehemaligem Weltmeer-Kapitän Loncours auf einer winzigen Insel vor der frz. Küste behütet festgehalten. Im Haus gibt es keine Spiegel und auch keine Möglichkeit durch Wasser, Metall oder ähnliches eine Art der Spiegelung zu erzeugen. Denn Hazels Gesicht wurde bei einem Bombenangriff, bei dem auch ihre Eltern starben, grob entstellt und das Mädchen, das seine Hässlichkeit vor dem Rest der Welt verbergen will, hat sich bereits, geradezu dankbar, in ihr trauriges Dasein ergeben. Doch eines Tages wird sie krank und der Kapitän lässt schnell, da er seine “Ziehtochter” über alles und auf jede erdenkliche Weise liebt, eine Krankenschwester vom nahen Festland kommen. Francoise, die sich zu dem Job bereiterklärt, tritt als neuer Faktor in Hazels Leben – doch selbst Francoise ist sich nicht ganz sicher: Wird sie als Retterin empfangen, oder ist sie teil eines fragwürdigen Spiels, dass sich an diesem externen Platz der Welt völlig ungeniert abspielt…

Ich halte das Buch für lesenwert, allein schon aufgrund des gedanklichen Anreizes und der schnellen, unkomplizierten Lektüre; wer allerdings einen guten und kurzen Roman sucht, dem sei eher empfohlen nicht zu diesem Werk zu greifen, auch wenn es dem Augenschein nach ein Roman sein soll. Denn eigentlich ist es, um es noch mal zu betonen, ein Experiment, ein Spiel und wegen der vielen Dialoge sogar eigentlich mehr ein (Theater)Stück, denn eine Geschichte.

Ich empfehle des Weiteren noch einmal die autobiographischen Bücher, also die beiden oben genannten, aber auch Metaphysik der Röhren und Der japanische Verlobte. Deren verführerische und schöne Sprachartistik und Freudigkeit hat zumindest mir so manchen Lesegenuss beschert.

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.