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Zu “Von Zeit und Fluss” von Thomas Wolfe


Von Zeit und Fluss Zum ersten Mal stieß ich auf Thomas Wolfe in einer Anthologie mit Beiträgen zu hundert Jahren Rowohlt (erschienen 2008 ebendort, ein schönes Buch voller toller Anekdoten und Autor*innentipps); dort ging es vor allem um seine Deutschlandreise 1936, zu der jetzt bei Manesse auch eine Publikation erschienen ist.

Bei Rowohlt war zwischen den Weltkriegen das erste Werk von Wolfe auf Deutsch erschienen: „Schau heimwärts, Engel“, das ich mir in einer alten rororo-Ausgabe zulegte und bald darauf las. Beglückt, aber auch sehr erschöpft von Wolfes Stil, wagte ich mich damals nicht an sein opus magnum „Von Zeit und Fluss“.

Dann sah ich vor kurzem den Film „Genius“, in dem es um die Freundschaft zwischen Wolfe und seinem Verleger Maxwell Perkins geht (seines Zeichens auch „Entdecker“ von Scott Fitzgerald und Ernest Hemingway), u.a. auch um die gemeinsame Arbeit an diesem 1200 Seiten-Werk (das ursprünglich sogar noch viel länger war). Die im Film zitierten Passagen rissen mich derart mit, dass ich beschloss, das Buch schnellstmöglich zu lesen.

Dieser erste Impuls scheint mir nun, nach der Lektüre, Jahre zurückzuliegen. Es ist schwer es anders zu sagen: dies ist ein Buch, das man nicht liest, sondern mit dem man für die Dauer der Lektüre lebt. Wolfes Stil, ungezügelt und voller Adjektive, dabei aber nie zu detailverliebt oder verwässert, sondern immer wie ein kräftiger Pinselstrich auf einem riesigen Gemälde, überschwänglich und in einem Maße pathetisch, welches nur den wenigsten Autor*innen ohne den Anschein von Schemenhaftigkeit und Kitsch gelingt, er durchdringt einen vollkommen.

Worum geht es in Zeit und Fluss? Nun, wenn man es runterbrechen will: ums Fortgehen von zu Hause und doch darum, dass das Zuhause in einem verbleibt; dass, obgleich alle Flüsse beständig fließen, sie irgendwo münden und entspringen. Es gibt nur das Fließen, aber es gibt trotzdem Enden und Anfänge, ewige Kreisläufe. Das schildert Wolfe anhand seiner eigenen Biographie (in Romanform) und zeichnet wie nebenbei noch ein überbordendes Bild des Amerikas seiner Zeit, ein Amerika an einem Wendepunkt zwischen Land und Stadt, Mythos und Moderne.

In diesem Bild tummeln sich viele, viele mannigfaltige Figuren, alle von einem Lebenswillen durchdrungen, um den Wolfes Roman trotz aller sonstigen Feinheiten und Plots und Ideen immer kreist. Gefühle, Regungen, bei Wolfe sind sie riesige Gewichte auf den viel zu kleinen Waagen, die dem menschlichen Verständnis zur Verfügung stehen – und doch ist in ihnen eine eigene Wahrheit immer präsent.

Kurzum und um nicht auszuufern: Wolfes Buch ist, nochmals, ein Buch, das man nicht einfach liest, sondern mit dem man lebt, auf das man zurückblickt wie auf einen Lebensabschnitt, nicht wie auf eine Geschichte. Wer dergleichen erleben will, sollte es wagen, das Abenteuer mit „Von Zeit und Fluss“.

Zu Rebecca Solnits Essays in “Die Dinge beim Namen nennen”


Dinge beim Namen nennen „Wir haben uns verlegt auf kurze, behauptende Statements, auf das Denken in Schlagzeilen, in Schwarz-Weiß, in unbestimmten Sammelkategorien.“

Mit diesem Buch bin ich wohl endgültig zum Fan von Rebecca Solnit geworden. Schon „Wenn Männer mir die Welt erklären“ (wo es nicht nur um Mensplaining, sondern auch um strukturelle, sexuelle Gewalt, Männlichkeit, Virginia Woolf und das Kassandra-Syndrom (das Untergraben der Glaubwürdigkeit von weiblichen Aussagen) geht) hat meine Sicht auf viele Dinge grundlegend verändert und geprägt; ich las es mit Begeisterung und Bestürzung. Die Lektüre von „Die Dinge beim Namen nennen“ wurde von einer ähnlichen Gefühlskombination begleitet und wird noch lange nachhallen.

In vier Kapiteln berichtet Solnit hier von US-amerikanische Realitäten, Phänomenen, Krisen (der Untertitel des Originals lautet: „American Crises (and Essays)“), kommt aber dabei auch auf viele grundsätzliche Probleme zu sprechen, die sie meisterhaft exzerpiert, ohne falsche Scheu direkt angeht. Schon im Vorworttext kommt sie auf die Idee der Perfektion zu sprechen und schreibt:

Viele von uns glauben an Perfektion, obwohl sie alles ruiniert, denn das Perfekte ist nicht nur der Feind von allem, was gut ist, sondern auch dessen, was realistisch und möglich ist und Vergnügen bereitet.

Eine Ansicht, die sie in einem späteren Text über Zynismus erweitert:

wer alles, was nicht perfekt ist, für moralisch kompromittierend erklärt, will sich damit nur selbst erhöhen, sich aber nicht mit aller Kraft einen Ort oder ein System oder eine Gemeinschaft engagieren.

In dem Buch wimmelt es nur so von solch dezidierten, klugen Beobachtungen und Feststellungen, die eingewoben sind in Analysen zu gegenwärtigen Geistesverfassungen, in den USA und, letztlich, allen westlichen Gesellschaften. „Gefühlslagen“ nennt Solnit dementsprechend die im zweiten (von vier) Abschnitt versammelten Texte – zu denen wir gleich kommen.

Die Texte in Abschnitt eins beschäftigen sich vor allem mit dem Phänomen Trump, seiner Wahl, sowie den Gegebenheiten und Umständen, die dazu geführt haben (und die kontrovers diskutiert wurden und werden – das Nachplappern verschiedenster Theorien hierzu ist sogar zu einer der beliebtesten Small-Talk-Thematiken geworden).

Neben handfesten Erklärungen, warum dieser Wahlkampf (und sein Ausgang) ein Meilenstein der Frauenfeindlichkeit war (nicht nur in Bezug auf Trump) und wie besonders für People of Color massenhaft die Stimmabgabe erschwert wurde – wenn ihre Stimmen durch die Wahlstrukturen nicht eh marginalisiert wurden – wagt sich Solnit in ihrem Text „Die Einsamkeit des Donald Trump“ auch an ein psychologisches Porträt des Wahlsiegers – mit dem Fazit: Er ist (auch) das folgerichtige Produkt eines Lebensweges ohne echte Rückschläge, Krisen oder Grenzsetzungen; Trump, stets umgeben von Ja-Sager*innen, sieht laut Solnit mittlerweile niemanden mehr als ebenwürdig/sich selbst gleich an, folglich fehlen ihm auch sämtliche Kontrollmechanismen, im Austausch mit solchen Menschen greifen und das Neubewerten der eigenen Handlugen ermöglichen.

das Gegenteil von Mensch, die uns herabziehen, sind nicht jene, die uns auf einen Sockel stellen und uns Honig um den Bart schmieren. Es sind Gleichgestellte, die großmütig sind, ohne uns aus der Verantwortung zu entlassen, Spiegel, die uns zeigen, wer wir sind und was wir tun.

Dieses Porträt hinterlässt als einziger Text einen etwas faden Nachgeschmack; es liegt darin ein Hauch von Küchenpsychologie, auch wenn Solnits grundsätzliche Ausführungen sehr schlüssig sind. Sie liefert eine gute Erklärung für Trumps Größenwahn, aber selbst gute Erklärungen wirken bei diesem Mann ziemlich widersinnig (wobei es vielleicht auch gut ist, Trump nicht als „outstanding“-Persönlichkeit zu behandeln; in diesem Sinne ist Solnits Porträt ein guter Versuch, ihn als einem stinknormalen Solipsisten abzustempeln, vom Sockel zu holen).

In dem zweiten Abschnitt „Amerikanische Gefühlslagen“ stellt sie u.a. dem Zynismus ein niederschmetterndes Zeugnis aus:

Zynismus ist in erster Linie eine Form der Selbstdarstellung, und mehr als alles andere sind Zyniker stolz darauf, sich weder für dumm verkaufen zu lassen noch dumm zu sein. Doch die Arten von Zynismus, die mir begegnen, enthalten häufig beides. Dass die Haltung, sich der eigenen weltmüden Lebenserfahrung zu rühmen, in Wahrheit häufig so naiv ist, zeigt, wie sehr der Schein inzwischen über die Substanz triumphiert, die Attitüde über die Analyse.

und kritisiert die Lust an der Eskalation, die Anfälligkeit der modernen Mediengesellschaften für den Trigger Zorn:

„Zorn ist nicht ganz dasselbe wie Entrüstung. Man könnte sagen, dass Letztere weniger aus der Wut darüber resultiert, was passiert ist, sondern aus dem Mitgefühl mit denjenigen, denen es passiert ist.“ (Solnit nennt als Beispiel hier Nelson Mandela, der es irgendwann einmal, so erzählte er in einem Interview, aufgegeben habe, zornig zu sein. Seinem Engagement habe es nie geschadet und er sähe Zorn mittlerweile als Falle an, die uns von konstruktiven Formen der Veränderung abbringt.)

Gleich zu Anfang kommt sie auf das fast schon mythologische Ideal der Isolation zu sprechen, das in den USA spätestens seit der Figur des einsamen Cowboys (Rächers, Helden, etc.) ins nationale Unterbewusstsein eingeflossen ist und sich dort hartnäckig hält, vor allem in Form von Männlichkeitsbildern (und dadurch leider oft auch den Charakter von politischen Entscheidungen beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt). Es ist sehr spannend, wie Solnit anhand von tagespolitischen und popkulturellen Referenzen dieses seltsame, fast schon pathologische Ideal nachweist und seine Wirkung und Stellung herausarbeitet.

Im letzten Text in Abschnitt Zwei beschäftigt sie sich mit einem Thema, das viele politisch interessierte und engagierte Menschen dieser Tage beschäftigen wird: bewegen wir uns nur noch in Echo-Kammern, erzählen wir unsere Ideen und Fakten immer nur den Leuten, die eh schon mit uns einer Meinung sind, die Bescheid wissen, kurzum: predigen wir dem Kirchenchor? Solnit nimmt hier wiederum eine erstaunlich vitale und entschiedene Gegenposition ein:

Die Faktenlage deutet stark darauf hin, dass politische Körperschaften am meisten profitieren, wenn sie diejenigen motiviert kriegen, die längst mit ihnen übereinstimmen – wenn sie also nicht diejenigen ansprechen, die noch unsicher sind, wen, sondern die, die nicht wissen, ob sie überhaupt wählen gehen sollen. […] Trotz allem machen sich gemäßigte Demokraten oft auf, um denjenigen um den Bart zu streichen, die sie definitiv nicht unterstützen, womit sie dann wiederum diejenigen verraten, die das eigentlich tun.

Sie positioniert sich im Verlauf des Textes u.a. eindeutig gegen den Mythos von der „weißen Arbeiterschaft“, die die Demokraten angeblich vernachlässigt und vergrault hätten, eine beliebte Erklärung für die verlorene Wahl; vielmehr wäre, auch unter Mitwirkung der Medien, Clinton als Person erschienen, die zu viele Gruppen habe ansprechen wollen. Solnit legt dar, warum es den Politiker*innen heute mehr denn je darum gehen muss, ihre Integrität zu bewahren, statt den Chimären von großen Mehrheiten und unsinnigen/unmöglichen Konsensen hinterherzujagen. Und sie macht die Irrelevanz dieser Taktiken und ihre hemmende Wirkung auf progressive Veränderungen an einem einfachen Beispiel deutlich.

In den letzten Jahren habe ich oft gehört, wie Leute sie die Köpfe heiß redeten angesichts von Umfrageergebnissen darüber, wie viele US-Amerikaner*innen den Klimawandeln für wahr halten. Sie schienen immer überzeugt davon, dass die Klimakrise gelöst wäre, wenn man alle dazu bekäme, an den Klimawandel zu glauben. Aber wenn diejenigen, die den Klimawandel längst für real und akut halten, nichts gegen dieses Problem unternehmen, dann passiert eben auch nichts. Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass sich irgendwann alle einig sein werden, sondern die Frage, ob dem so sein wird, ist auch völlig irrelevant. Es lohnt nicht, darauf zu warten. Es gibt ja auch immer noch Menschen, die nicht finden, dass Frauen die gleichen unveräußerlichen Rechte zustehen wie Männern, was uns aber ja auch nicht davon abgehalten hat, eine Politik zu machen, die auf dem Prinzip der Geschlechterfreiheit fußt. […] Wer darauf besteht, dass eine Idee in der Mitte der Gesellschaft angekommen sein muss und sich nicht noch auf Wanderschaft befinden darf, bevor an ihrer Umsetzung gearbeitet wird, hat nicht verstanden, wie Veränderung funktioniert.

Wie sie funktionieren kann, die Veränderung, schildert Solnit dann auch gleich, am Beispiel von gewaltfreien Bewegungen, historischen Beispielen und Ideen.

Im dritten Abschnitt geht es dann um „Amerikanische Hartleibigkeiten“, was u.a. das Blut auf dem Gründungsmythos von Texas und die Denkmäler konföderierter und sonstiger Sklavenhalter meint. In dem längsten Essay des ganzen Bandes setzt sich Solnit aber auch mit einem expliziten Fall von Polizeigewalt (mit Todesfolge) in San Francisco auseinander (ein Text, der ein wenig an Joan Didion erinnert) und beschreibt dabei auch die Umwälzungen, die in den meisten amerikanischen Großstädten an der Tagesordnung sind. In einem anderen, berührenden Essay beschreibt sie den Fall eines mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unrecht verurteilten Strafgefangenen, der mittlerweile, nach zahllosen Besuchen, auch ein Freund geworden ist – und auch hier ist der konkrete Fall natürlich der Ausgangspunkt für eine Betrachtung des ganzen Systems. Auch die Verhinderung einer Ölpipeline, mehrheitlich durch Vertreter*innen der Native Americans, ist Thema eines Textes.

Der vierte Abschnitt fasst dann drei Texte unter dem Titel „Möglichkeiten“ zusammen. Gleich der erste Text ist eine Antrittsvorlesung an der Graduate School of Journalism an der University Berkeley. Es ist vielleicht das Meisterstück dieser sehr überzeugenden Essaysammlung. Als Stichwort für die Rede wählte Solnit die Redewendung „[to] Break the Story“.

Der dominanten Kultur ist meisthin daran gelegen, ebenjene Geschichten zu stärken, auf denen sie wie auf Säulen ruht, Säulen, die allerdings allzu häufig zugleich die Käfigstäbe anderer sind. […] Warum nur machen die Medien so brav ein derartiges Gewese um Terrorismus, dem in den Vereinigten Staaten so wenige zum Opfer fallen, während sie gleichzeitig häusliche Gewalt verharmlosen, durch die Millionen amerikanischer Frauen über lange Zeiträume terrorisiert und alljährlich fast tausend getötet werden? […] Ich glaube, dass die Mainstream-Medien gar nicht so sehr rechts- oder linkslastig sind, sondern vielmehr Status-quo-lastig. Sie tendieren dazu, Menschen in Machtpositionen glauben zu schenken, auf Institutionen, Unternehmen, die Reichen und Mächtigen zu vertrauen – also so gut wie jedem selbstbewusst auftretenden weißen Mann in einem Anzug. Sie tendieren dazu, Menschen, die längst bewiesen haben, dass sie die Unwahrheit sagen, noch mehr Lügen erzählen zu lassen und dann noch ausführlich darüber zu berichten; von Thesen auszugehen, die längst als widerlegt gelten […] Zukünftige Generationen werden uns mehrheitlich dafür verfluchen, dass wir uns mit Belanglosigkeiten abgelenkt haben, während der Planet brannte.

Es ist eine Rede, bei deren Lektüre ich mir wünsche, dass alle Journalist*innen der Welt sie verinnerlichen würden, damit die „vierte Gewalt“ im Staat wirklich überall das aufklärende und wachsame Organ wird, das es sein könnte. Journalist*innen als Schöpfer*innen und Zerstörer*innen von Geschichten – Solnit löst dieses Potenzial, diese Verantwortung, in ihren eigenen Texten ein und fordert sie von den Studierenden, zu denen sie spricht.

Auch die anderen beiden Texte handeln von Courage, von Mut: dem Mut, Veränderungen in Gang zu setzen, selbst wenn nicht direkt Ergebnisse zu erwarten oder Wirkungen zu ersehen sind. Es geht ums tun und nicht ums Siegen, wie schon Konstantin Wecker sang. Der Zweifel am Tun ist zwar wichtig, aber ihn selbst als entscheidende Tat zu sehen, wäre fatal.

„Die Dinge beim Namen nennen“ ist ein lebenskluges, gleichsam feinsinniges und Klartext redendes Werk. Solnit, umtriebig und doch bei jedem Thema sehr fokussiert, festigt ihren Ruf als wichtige und profilierte Stimme ihrer Zeit. Sie spricht hier von Dingen, die uns alle angehen und die sie klug und beredet beim Namen nennt. Neben Ta-Nehisi Coates “We were eight years in power – Eine amerikanische Tragödie” ist es außerdem das beste Buch über die derzeitigen amerikanischen Verhältnisse, das ich kenne.

 

Zu “Trumps Amerika” von Martin Klingst


Trumps Amerika„Dieses Buch widmet sich Trumps Wählern. Sie vor allem kommen zu Wort, mal in einer Reportage, mal in Form einer Gesprächsaufzeichnung. Trumps Wähler erzählen, was sie beschäftigt und auf die Barrikaden treibt, wie sie leben, was ihnen Sorgen macht und insbesondere, was sie am 8. November 2016 dazu bewogen hat, ihr Kreuz bei Donald Trump zu machen.“

Martin Klingst kennt die Vereinigten Staaten sehr gut. Nicht nur war er jahrelang Korrespondent der ZEIT in Washington, er verbrachte auch mit 16 Jahren einen Schüleraustausch in Colorado, kennt viele Leute in anderen Staaten des „Mittleren Westens“.

Hier, in diesen Gebieten der USA, verortet er auch den Grund für den Sieg Donald Trumps; genauer in der weißen Mittelschicht und Arbeiter*innenklasse, deren Lebensstil in den letzten Jahren nicht nur durch finanzielle Schwierigkeiten tangiert wurde, sondern die sich generell „fremd in ihrem Land fühlen“, wie Arlie Russell Hochschild es in ihrem ebenfalls lesenswerten Buch zusammengefasst hat. Oft sind es Verlierer*innen der Globalisierung, sie finden sich nicht mit dem Abbau traditioneller Werte zurecht, mit dem Fokus auf die Städte und Themen wie Umweltschutz, Gender und dergleichen und fühlen sich von der Politik der letzten Jahre mehrheitlich im Stich gelassen; auch stellen sie längst kaum mehr die Mehrheit der Wähler*innen.

Klingst lässt in seinem Buch viele von Ihnen selbst zu Wort kommen (schön ist, dass er dabei fast ebenso viele Frauen wie Männer auswählt). Er korrigiert, in Fußnoten, nur ihre gröbsten sachlichen Schnitzer oder erläutert die komplexeren Hintergründe, lässt ihre Positionen aber ansonsten unangetastet. Und in den meisten Fällen sind diese Positionen sogar erstaunlich unproblematisch. Denn abgesehen von einem Vorzeigerassisten zeigt dieses Buch keine Personen mit überaus extremen Ansichten, sondern Menschen mit schlichten, sich nur in manchen Ecken zuspitzenden Überzeugungen und dem Wunsch nach einer Welt, in der sie mit diesen Überzeugungen und ihrem eigenen Ethos existieren können.

„Auch das möchte ich in diesem Buch zeigen. Sie haben mich mit offenen Armen empfangen, mich stolz herumgeführt, fürstlich bewirtet und mir ihr Herz ausgeschüttet. Es gibt keinen Grund auf sie herabzusehen.“

Den gibt es in der Tat nicht. Natürlich fehlt vielen dieser Menschen (aber da sind sie nicht allein, wer hat den schon wirklich) der Überblick über das große Ganzen; man kann dem einen oder der anderen von ihnen eine begrenzte Perspektive vorwerfen und ihre Weltsicht ist durchaus durchzogen von Unverhältnismäßigkeiten. Aber viele ihrer Ansichten und Positionen wirken vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebensumstände nicht gänzlich unberechtigt.

Erstaunlich ist in jedem Fall, wie unterschiedlich die Leute sind, die Trump gewählt haben, vom Harvard-Juristen bis zum Kohlebergbauarbeiter. Fast alle sind mit bestimmten Aspekten von Trumps Person und Politik nicht einverstanden, aber sie alle haben Punkte gefunden, in denen er ihnen, für ihre persönliche Lebenswelt, als einzig mögliche Wahl erschien. Und viele von ihnen sind zufrieden mit den ersten beiden Jahren seiner Politik – in ihrer Welt geht es tatsächlich oft ein wenig aufwärts. Natürlich müssen sie nicht die Kosten dieses Aufschwungs zu spüren bekommen.

Dieses Buch ist fast unverzichtbar, wenn man einen Einblick in das Seelenleben von Trumps gemäßigteren Wähler*innen bekommen will. Es sind Menschen, die sich auf Kennedy berufen (frage nicht, was dein Land für dich, frage dich, was du für dein Land tun kannst), die sich oft für die Inklusion, für gerechte Arbeitsverhältnisse und viele andere gute Dinge einsetzen – natürlich haben sie auch Angst um ihre Privilegien, gehen falschen Vorstellungen auf den Leim. Aber ihre Triebfeder ist selten der Hass oder eine stupide Ideologie, sondern meist der begreifliche Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.

Natürlich kann ein so schmales Buch nicht alles abdecken, aber ich glaube es hilft, die Gräben nicht noch weiter auseinanderklaffen zu lassen und Vorurteile abzubauen (und dennoch Urteile sprechen zu können). Es hilft zu verstehen, wie leicht Trump als die richtige Wahl erscheinen kann. Für uns ist er einfach ein Vollidiot oder ein Monster. Für viele Amerikaner*innen ist er schlicht ein Mann mit gewaltigem Ego, unflätiger Sprache, der sich aber doch in Teilen für ihre Belange einsetzt.

Am Ende landet man wieder bei der Lüge des amerikanischen Traums. Solange ein Teil der USA sich weiterhin in diesem Traum wiegt, bleibt es eine gespaltene Nation, eine Nation in der Menschen wie Trump zum Präsidenten gewählt werden.

„Die Reise in ein weißes Land hat, so hoffe ich, ein kleines Fenster öffnen können in Trumps Amerika, in diese nahe und doch so ferne Welt. Denn auch wenn Donald Trump schon morgen Geschichte sein sollte, werden seine Wähler und deren Gedankenwelt bleiben.“

Zu Philippe Djians Roman “Marlène”


Marlene Philippe Djians neuer Roman spielt in einer nicht näher benannten amerikanischen Kleinstadt/Vorstadt, vermutlich in den New England Staaten. Es gibt nicht eine/n konkrete/n Erzählende/n, vielmehr schlüpft Djian je nach Kapitel – und manchmal auch mitten im Kapitel oder mitten im Absatz – von einer Hauptfigur in die andere und schildert ihr Empfinden, ihr Erleben, ihre Sicht, ihre Lebenswirklichkeit.

Hauptfiguren sind die beiden Kriegsveteranen und engen Freunde Dan und Richard, Richards Frau Nath, ihre Tochter Mona und die Schwester von Nath, Marlène. Das Eintreffen von letzterer ist der Ausgangspunkt des Romans und zugleich der unmerkliche Startschuss für das weitere Geschehen, der lange nachhallt, spät die volle Lautstärke entfaltet.

Zu Anfang sitzt Richard noch wegen Geschwindigkeitsübertretung im Knast, Dan (der versucht, in einer freundlichen Stadtgegend wieder Anschluss ans Zivilleben zu bekommen) lässt gerade die 18jährige Mona ein bisschen bei sich wohnen, weil die sich nur noch mit ihrer Mutter in die Haare kriegt und Nath ist genervt davon, dass ihre Schwester bei ihr aufkreuzt, hat sie doch mit ihrem vom Krieg geschädigten, ständig saufenden und krumme Dinger drehenden Mann und ihrer pubertierenden Tochter genug am Hals.

Es braucht etwas Zeit, bis man sich in dem Roman zurechtfindet. Es gibt keine Anführungszeichen, die eine wörtliche Rede anzeigen oder kursive Passagen, die Gedachtes vom Rest der Handlung abheben. So muss man sich als Lesende/r selbst zurechtfinden, aufmerksam sein, sich auf die jeweiligen Figuren einlassen. Diese ungefilterte Erzähltechnik hat allerdings den Vorteil, einen ungekünstelten, direkten Eindruck zu hinterlassen. Die Figuren werden nicht plastisch durch äußere Beschreibungen, sondern durch die Ausformungen ihres Innenlebens, das Djian frei vor unseren Augen brodeln und fließen lässt.

Auch aus einem weiteren Grund kommt diese Art des Erzählens dem Buch zugute: es gibt keinen dramatischen, erzählerischen Bogen, nur die unmittelbare Wucht der Ereignisse und wie die Figuren sie wahrnehmen, verarbeiten. Kaum etwas in diesem Roman kann man kommen sehen (obwohl man sich im Nachhinein durchaus einreden kann, man hätte es irgendwie kommen sehen), so fein streut Djian Ahnungen ein, die gleich wieder vom tatsächlichen Geschehen verweht werden und erst später in vollendeter Form wieder auftauchen, so willkürlich erscheint vieles in dem Buch und doch so folgerichtig, wenn es erst geschehen ist.

Bei all dem gelingt es Djian, das Wesen seiner Charaktere auf geisterhafte Weise auszuleuchten – allen voran Marlène. Obwohl meist nur über sie gesprochen wird und sie sich kaum in den wenigen Passagen, die aus ihrer Sicht sind, entfalten kann, begreift man doch den Kern ihrer Seele, ihre bescheidenen, aber dennoch starken Sehnsüchte, Ängste, Schmerzen und Hoffnungen. Djians Figuren waren noch nie Heilige und auch in diesem Roman finden sich hauptsächlich halbfertige, halbverworfene, fragile Existenzen, abgestrampelt, unangeglichen, wie von allem übervorteilt. Und darin dem durchschnittlichen Leben nicht krampfhaft, sondern unverstellt nah.

„Marlène“ ist ein Buch, das langsam anläuft, aber letztlich wieder eine Wucht ist, wie so vieles, was Djian geschrieben hat. Manchmal kommt die Handlung fast zur Ruhe, aber der Sturm in einem solchen Buch klingt nie ganz ab – und schon kommt die nächste Welle.

Alben, die ich sehr schätze – Dritter Eintrag: Live-Alben von Bruce Springsteen


Live 1975-1985 Bruce Springsteen hat mir schon mehr als einmal das Leben gerettet. Nicht er persönlich, aber seine Musik. Sie hat diese Fähigkeit, sämtliche Versteinerungen & Abschirmungen bei mir zu durchbrechen; steht direkt neben mir, sobald sie erklingt, als gäbe es keine Entfernungen zwischen ihr und mir zu überwinden. Ich liebe die Bandbreite der Stimmungen in dieser Musik, ihre vielen emotionalen Register.

Kurz eine Liste. Die zehn besten Live-Alben von Bruce Springsteen sind meiner Meinung nach:

10. Live & RARE (1992-95, nur MP3)
9. Max’s Kansas City (1973, mit E Street Band)
8. Acoustic Radio Broadcast Collect. (1973-74, nur MP3)
7. Chimes of freedom (1988)
6. Live in Dublin (2007, mit Session Band)
5. Live at the Main Point (1975, mit E Street Band)
4. Live in New York City (2001, mit E Street Band)
3. Hammersmith Odeon ’75 (1975, mit E Street Band)
2. In Concert/MTV Plugged (1993)
1. Live 1975-1985 (mit E Street Band)

Meine persönlichste Geschichte habe ich mit dem Springsteen-Song „The River“. Es gibt eine Live-Version davon, auf der dritten CD von „Live 1975-1985“. Es ist der erste Track, 11 Minuten und 39 Sekunden lang. Gleich zu Anfang setzt schon Musik ein, läuft aber dann nur sanft dahin und schließlich ist da Springsteens Stimme, die fragt: „How you doin out there tonight?“ Die Menge antwortet mit begeisterten Rufen, aber Springsteens Stimme scheint etwas verhalten als er sagt: „That‘s good. That‘s good.“

Dann beginnt er zu erzählen; die Musik fließt weiter dahin, schimmernd und still wie ein Fluss in der Nacht. Es geht um ihn und seinen Vater, die beiden streiten sich oft in seiner Jugendzeit; er hat lange Haare, läuft immer wieder von zu Hause weg, verbringt die Nacht draußen, hat das Gefühl seinen Vater zu hassen. Der sagt schließlich nur noch: „Man, I can’t wait till the army gets you. When the army gets you they’re gonna make a man out of you. They’re gonna cut all that hair off and they’ll make a man out of you.”

Ich hatte zwar keinen Vater, der mich zum Militär schicken wollte, aber auch einen Vater, mit dem ich nicht klarkam. Mir ging es als Teenager oft nicht gut, ich hatte Panikattacken, Depressionen, Zukunftsängste. Für ihn war mein Verhalten selbstzerstörerischer Nonsense, ich riss mich einfach nicht zusammen, meinte er.
Er wusste nicht, wie er mir helfen sollte, also schrie er mich an, machte mich fertig – kurzum: bei mir kam nicht an, dass er mich liebte. Für mich fühlte es sich an, als ob er mich nicht lieben konnte wie ich war, als ob er mich nicht verstehen wollte, mich und meinen Kampf mit diesen Gefühlen, die ich mir nicht ausgesucht hatte und denen ich so schwer gegenüber treten, die ich oft nicht bekämpfen konnte.

Springsteen erzählt weiter. Von 1968, seinem Abschlussjahr. Der Vietnamkrieg ist im Gange, viele von seinen Freunden werden eingezogen; es ist das Jahr, in dem die meisten amerikanischen Rekruten fallen; viele andere kommen mit schlimmen Versehrungen zurück. Auch Springsteen muss zur Musterung (dem physical).

„I remember the day I got my draft notice. I hid it from my folks. And three days before my physical me and my friends went out and we stayed up all night and we got on the bus to go that morning and man we were all so scared…“

Ich weiß noch, wie ich den Song das erste Mal hörte. Ich war 15, war gerade in meiner ersten depressiven Episode, verstand dieses Gefühl noch überhaupt nicht, konnte aber die ganze Angst und Wut und Trauer auch nicht wirklich herauslassen. Es war, als wären in mir alle Hähne abgedreht worden. Nichts floss mehr: keine Freude, keine anderen Gefühle, alles stockte und ich trieb mich fast nur noch in mir selbst herum, versuchte die Hähne aufzudrehen, mit aller Gewalt und hockte vor den leeren Becken, von denen mich nur die Spiegelung meines Gesichtes anstarrte.

Auch Tränen wollten nicht kommen. Geweint hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr. Es schien, als hätte ich es für immer verlernt. Es gab die Momente, in denen ich weinen wollte – und ständig war da diese Anspannung in mir, auf die ein Weinen normalerweise folgt, aber nichts passierte. Ich weiß noch, wie ich dasaß und mir wie der einzige Zuhörer vorkam; ich lauschte dem Ende von Springsteens Geschichte.

„And I went, and I failed. I came home [audience cheers], it’s nothing to applaud about…

I remember coming home after I’d been gone for three days and walking in the kitchen and my mother and father were sitting there and my dad said:
»Where you been?«
and I said, uh, »I went to take my physical.«
He said »What happened?«
I said »They didn’t take me.«
And he said: »…That’s good.«“

Und während das Saxophon und die Mundharmonika einsetzen, den Song spielen (dieser Einsatz ist wunderschön, wie ein Sprung, ein Hineingleiten in den Fluss) kommen mir die Tränen. Es ist, als könnte ich zum ersten Mal seit langer Zeit atmen. Sie kommen, ich weine und weine. Ich kann weinen.

Und es funktioniert bis heute. Ich muss nur dieser Geschichte lauschen, nur diesen Song hören, und beginne zu weinen. Und noch mehr als das: immer wenn ich seitdem auf meinen Vater wütend bin, gibt es da diesen Moment, wo ich an diesen Song, an diese Geschichte denke. Ich wusste damals augenblicklich, wider jeder Wut, dass mein Vater mich liebte; dass er mir nie würde helfen können, weil er so war wie er war – dass in ihm aber auch dieses „That’s good“ vorhanden war.

Wer wissen will, warum man Live-Stücke hören sollte und nicht nur Studio-Versionen, den kann ich an diesen ersten Track auf der dritten CD von „Live 1975-1985“ verweisen. Es gibt viele andere gute Live-Versionen von „The River“: Die von „Live in New York City“ hat ein wunderschönes Saxophon-Vorspiel, es ist im Ganzen eine großartig-sanfte Interpretation; es gibt eine Version, in der Springsteen den Song zusammen mit Sting performt und ein paar gute Versionen aus Live-Mitschnitten von Konzerten nach 2010. Es ist immer und überall ein ergreifendes Stück. Aber diese Version, die hat mir das Herz gebrochen, auf eine gute Art. Und wer oder was einem das Herz bricht, das vergisst man nicht, das bleibt einem; vor allem wenn das Herz an dieser Stelle nicht (nur) blutet, sondern der Spalt die Öffnung ist, durch die man atmen kann.

Es gibt ein heiteres, emotionales Gegenstück zu dieser Live-Version von „The River“. Es ist der siebte Track auf der ersten CD von „Live 1975-1985“, eine Version von „Growin up“ (Das Lied erschien ursprünglich auf dem ersten Album von Springsteen: „Greetings from Asbury Park, N.J.“.)

Am Anfang das Piano, erwartungsvoll. Man hört die Rufe der Menge so deutlich, als stünde man mit im Raum. Es ist eine kleinere Location: ein Keller, eine Kneipe. Die Aufnahme stammt vermutlich aus der Mitte der Siebzigerjahre, vielleicht von der „Born to Run“-Tour oder sogar von noch früher.

Springsteens Stimme: „There was one night … just a normal guy. … And than, there was a next night … goddamn I was still just a normal guy.“ Dann beginnt das Lied, wunderbar schwung-voll, ja, das Wort unbändig ist die einzig adäquate Beschreibung dieses Auftakts, des ganzen Stücks. Es ist ein Song, der das Schmerzhafte des Erwachsenwerdens einfängt und gleichsam eine wilde Phantasie ist, in der die ganze Suche nach einem Platz in der Welt und der ganze Wahnsinn dieser Welt steckt.

Nach zwei Minuten plötzlich wieder nur das Piano, die Rufe des Publikums. Springsteen: „I think … I’m not sure … But I think my mother and father and my sister, they’re here again tonight.“ Das Publikum jubelt, lacht. „For six years they been following me around California, tryin’ to get me come back home.“ Die Menge klatscht, lacht, als wäre Springsteen ein Comedian. „Hey Ma“, ruft er, „give it up, kay? Gimme a break. They still-“ Er muss Lachen und beteuert beim nachfragenden Publikum, dass sie hier bestimmt irgendwo sind. „You know, they still trying to get me go back to colleague. Every time I come in the house: »You kow: It’s not to late. You can still go back to colleague«, they tell me.“

Dann erzählt er wiederum von seiner Jugend. „When I was growin up, there were two things that were unpopular in my house. One was me“ Gelächter „and the over one was my guitar.“ Dann erzählt er, wie sein Vater immer wieder versucht, ihn vom Gitarre spielen abzuhalten. Der Vater will, dass er Anwalt wird und Springsteen erzählt mit großem Vergnügen eine Anekdote über einen Motorradunfall in seiner Jugend und wie er von dem Anwalt im Dorf wegen seiner Klamotten und seinen langen Haaren heruntergeputzt wurde. Sein Vater sagt trotzem: „You should be a lawyer. You know, you get a little something for yourself.“ Und seine Mutter sagt: „No, no, he should be an author, ride books. That’s a good life, you can get a little something for yourself.”
Eine minimale Pause.
„But what they didn’t understand was … was that I wanted everything.“ Die Menge jubelt und man hört eine Frauenstimme ganz deutlich rufen: „You got it!“ Die Musik steigt ganz langsam an und Springsteen: „So, you guys, one of you wanted a lawyer, and the other one wanted an author. Well, tonight, you are both just going to have to settle for rock ‘n roll…” Die Menge jubelt und das Stück setzt wieder mit seiner ganzen Energie ein, als wäre es nie unterbrochen worden. Wer glaubt, Springsteen sei nur der Stadionrocker von „Born in the USA“, der sollte sich diese Aufnahme anhören (und sich außerdem von den ersten drei, vier Alben umhauen lassen!)

Springsteens Umgang mit seinem Wunsch „nach allem“ hat mich nachhaltig inspiriert, mehr als mir lange Zeit klar war. Zwar möchte ich nicht mehr wirklich daran denken, mit welcher Naivität und Großtuerei ich als Jugendlicher (und manchmal noch danach …) meine literarischen Ambitionen vertreten habe, aber ich bin froh, dass ich immer zu meinem Wunsch stand, Schriftsteller werden zu wollen. Nicht weil es etwas Glamouröses ist oder etwas, auf das man übermäßig stolz sein kann. Sondern, weil es alles ist, was ich wollte und nach wie vor will (nicht alles in allen Belangen, aber auf einer bestimmten Ebene alles).

Schreiben war einer meiner Wege aus den Untiefen des Unglücklichseins – oder zumindest die gehaltene Verbindung zur Welt, wenn ich glaubte, mich nicht mehr in ihr aufhalten zu können. Menschen haben mir natürlich auch geholfen, meine Mutter insbesondere – und Musik. Es klingt pathetisch, aber … Bruce Springsteen hat mir dabei geholfen, mir mein Leben zu retten.

Es ist schwer, jetzt von diesem Einstieg wegzukommen. Vielleicht hätte ich nicht so persönlich werden sollen, aber ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich das alles aufschreiben konnte.

Einen guten Übergang stellt vielleicht der Song „No surrender“ dar, eine weitere unbändige Ode auf den Kampf mit dem Leben, ein Schrei und eine Liebeserklärung gleichermaßen.

“Now on the street tonight the lights grow dim
The walls of my room are closing in
There’s a war outside still raging
You say it ain’t ours anymore to win
I want to sleep beneath
Peaceful skies in my lover’s bed
With a wide open country in my eyes
And these romantic dreams in my head”

Veröffentlicht auf Springsteens populärstem Album “Born in the USA” (musikalisch teilweise ein harter Bruch mit den virtuosen Stilen der ersten Alben) ist „No surrender“ ein Stück, dass sich mit seinem Tempo und mit seinen Keyboard- und Synthesizerklängen weniger für Live-Aufritte eignet, denn es unterfordert die Virtuosität und Vielfalt der E Street Band eher. Folgerichtig ist die beste Live-Version (von Springsteen selbst) eine sparsame: Track elf auf der dritten CD von „Live 1975-1985“. Nur mit E-Gitarre, sehr eindringlich, ganz ohne das Tempo der Originalversion, aber genauso drängend.

Wer das Lied mit all seiner Power live erleben will, der kann sich auf Youtube (unter dem Stichwort „No Surrender Festival 2017“) ein Video anschauen, in dem eine Menge von etwa fünfhundert Leuten den Song spielt/singt, mit sehr vielen Gitarren, Schlagzeugen, Klavieren, Stimmen, Bässen.

Das Festival, auf dem diese großartige Aktion zustande kam, fand in Spanien statt, 2017 das erste, dieses Jahr zum zweiten Mal (die in diesem Jahr entstandene „Badlands“-Version ist leider nicht ganz so mitreißend und ergreifend). Es ist toll, wie diese Interpretation die ganze Schönheit von Springsteens Musik einfängt, ihre verbindende und begeisternde Energie, ihre Faszination. Da geht einem das Herz auf.

“The screen door slams, Mary’s dress waves
Like a vision she dances across the porch as the radio plays
Roy Orbison singing for the lonely
Hey, that’s me and I want you only
Don’t turn me home again, I just can’t face myself alone again”

Auf ganz andere Weise geht mir die, wie ich finde, beste Live-Version von „Thunder Road“ nah. Sie befindet sich auf dem Album „In Concert“. Eigentlich sollte dieses Album zur bekannten „MTV unplugged“-Reihe gehören, in der Künstler*innen ihre Stücke ohne elektronische Unterstützung spielen. Springsteen spielte aber nur den ersten Track unplugged und den Rest mit einer kleinen Band (die E Street Band lag zu dieser Zeit auf Eis).
Es ist natürlich schade, dass es kein MTV Unplugged Album von Springsteen gibt, aber die Entscheidung erwies sich als Glücksfall, denn auf „In Concert“ befinden sich ein paar tolle Live-Versionen, auch teilweise von Liedern, die Springsteen mit der E Street Band nie gespielt hätte (und heute sehr selten spielt).

„Thunder Road“ hat er natürlich unzählige Male mit ihnen gespielt und es gibt gute Versionen auf mindestens der Hälfte der Live-Alben, die ich oben aufgelistet habe. Aber die auf „In Concert“ ist meiner Ansicht nach die beste: souverän, liebevoll, unerbittlich, zärtlich, zerschlagen, hoffnungsvoll, all diese Dinge auf einmal. Wunderbar, wie die Gitarre und die Hammond Orgel den Song kleiden, heben und heben; wunderschön, wie die Mundharmonika den Song noch festhält, festhält und schließlich gehen lassen muss (Springsteen ist eh ein wunderbarer Mundharmonikaspieler).

Nicht entscheiden kann ich mich bis heute, ob ich die auf „In Concert“ vertretene Version von „Atlantic City“ der vorziehen soll, die auf dem Album „Live in New York City“ enthalten ist. Ursprünglich stammt der Track von Springsteens erstem Soloalbum „Nebraska“ (1982), ein düsteres, nur von rauen, unerbittlichen Gitarrenklängen (und Springsteens Stimme) zusammengehaltenes Werk, auf dem ursprünglich auch „Born in the USA“ enthalten sein sollte – in einer ganz anderen, das Martialische des Textes viel eher betonenden Version (Ronald Reagan, der die Stadionrockversion des Titels 1984 für seinen Wahlkampf verwenden wollte und entsprechend anfragte (Springsteen sagte natürlich nein), hätte das bei dieser Version sicher nicht getan; 1995 veröffentlichte Springsteen sie auf der Kompilation „Tracks“).

Live wird „Atlantic City“ meist umarrangiert zu einer spannungsgeladenen Zelebration, zwischen Ausgelassenheit und Unterschwelligkeit pendelnd. Auf „In Concert“ geschieht das sanft, auf „Live in New York City“ brodelnd, eruptiv. Zwischen beiden Inszenierungen liegen acht Jahre, aber man hat das Gefühl, dass Springsteen auf „In Concert“ eine besondere Gelassenheit ausstrahlt, auf „Live in New York“ mitunter eher eine Angespanntheit (die aber manchen Song auch befördert, mit Ecken und Kanten versieht).

Auf „In Concert“ gelingt ihm alles leichthändig, im Kleinen, bei „Live in New York“ will er, dass ihm und der Band alles gelingt, das alles ganz groß ist. Bei Songs wie „Prove it all night“, „Out on the street“ und ganz besonders „Lost in the flood“, dieser Anti-Hymne auf die Schattenseiten der USA, die wie „Growin up“ von dem ersten Album stammt, ungeheuerlich und zerreißend, gelingt das. Bei anderen Songs wirkt diese Rasanz, dieses Drängen überdreht, nicht gut ausbalanciert, z.B. bei der dortigen Version von „Born to run“

Bis heute bin ich noch auf der Suche nach einer guten Live-Version von „Born to Run“. Weder die Version von „Live in New York City“, noch die von den frühen Live-Alben können mich vollends überzeugen. Es gibt eine unplugged Version auf „Chimes of freedom“, die die Intensität des Textes am besten widerspiegelt; außerdem eine Version von Melissa Etheridge – anlässlich der Kennedy Center Honors für Springsteen – die die Lebendigkeit des Songs, seine irre Dynamik einfängt.

Die ganze, intensive Kraft des Songs wird für meinen Geschmack am besten (abseits von Springsteens Studio Version versteht sich) in der Live Version des Songs „Springsteen“ von Erich Church (auf dem Live-Album „Caught in the act“) angedeutet; ein cooles Lied, eine wunderbar rockige Liebeserklärung an die Musik von Springsteen. Man findet den Track auch auf Youtube. – wenn man direkt zu der Stelle vorspringen will, die ich meine: sie fängt bei 05:04 an. Um nicht zu weit von Springsteen abzukommen: die Live Version aus dem Hammersmith Odeon und vom Main Point sind durchaus hörenswert.

Überhaupt: das sind zwei Live-Alben, die sich weniger in Tops und Flops gliedern, sondern durchweg eine großartige Show bieten. „Live at the Main Point“ stellt dabei die ganze Ausgelassenheit, das Konzert im Odeon die ganze Versiertheit der frühen E Street Band unter Beweis. Und beide Alben kann man nur als elektrisierend bezeichnen, von ihnen geht, finde ich, die wahre Suchtgefahr aus (während die meisten anderen Alben die Sucht, mehr oder weniger, befriedigen.)

Auf dem Main Point Album gibt es eine, herrlich café-süßliche Version von Bob Dylans „I want you“, eine endlos coole, blues-rappige Version von „The E Street Shuffle“ und die rührendste Version von „Incident on 57th Street“, nicht zu vergessen eine Interpretation von „Mountain of Love“, die einem direkt in die Beine fährt. Vermutlich kann man Springsteen auf diesem Album (und den Acoustic Broadcast Sessions, hier kann einen Springsteen erleben, der viel erzählt, nicht nur über die Songs, sondern über sich) am unbelasteten erleben, eins mit seiner Musik, wie auch oft später (vor allem seit den 2010er Jahren), aber nie so sehr wie hier.

Das Main Point Album wurde im selben Jahr aufgezeichnet, in dem „Born to Run“ erschien (1975) – der lang ersehnte Durchbruch für Springsteen. Auf den ein böses Erwachen folgte, als sich herausstellte, dass ihm die Rechte an seiner Musik nicht gehörten. Sein Manager hatte ihm einen Vertrag angedreht, der fast durchgehend nachteilig für ihn war; er wollte daraufhin unbedingt den Manager wechseln, konnte keine neuen Songs mehr schreiben, keine neue Musik aufnehmen und hatte es schnell Satz, um die Rechte an seiner Musik prozessieren zu müssen. (Nachlesen kann man über diese Zeit in dem Buch „Vom Außenseiter zum Boss: Als Bruce Springsteen sich seine Songs zurückholte“ von Philipp Hacker-Walton).

“Talk about a dream
Try to make it real
You wake up in the night
With a fear so real
Spend your life waiting
For a moment that just don’t come
Well don’t waste your time waiting
[…]
I believe in the love that you gave me
I believe in the hope that can save me
I believe in the faith
And I pray that some day it may raise me
Above these badlands”

Er überwand dieses Tief schnell und es folgte die produktive Phase in seiner Biographie. 1978 erschien „The Darkness in the edge of town“, vielleicht das vielseitigste Album, das Springsteen je gemacht hat, auf jeden Fall eines der unbequemsten, klügsten. Das Eröffnungslied „Badlands“ gibt es gleich in zwei großartigen Live-Versionen, die minimal bessere davon auf „Live in New York“, die andere auf „Live 1975-1985“. Es ist einer dieser Springsteensongs, der eine Form von Überwindung zelebriert, fordert, erhofft, die ich seitdem mit Rockmusik an sich verbinde, immer suche (nicht als einzige Qualität, aber als eine Qualität).

“And I’m driving a stolen car
On a pitch black night
And I’m telling myself
I’m gonna be alright
But I ride by night
And I travel in fear
In this darkness I will disappear”

Es gibt eine Szene in dem Film Prozac Nation (eine Verfilmung von Elizabeth Wurtzels gleichnamigen Buch, sehr lesens-/sehenswert), wo die Protagonistin über Springsteen schreibt, er sei wie ein „dichtender Automechaniker … wenn ich seine Lieder höre, habe ich Dunst in regennassen Gassen vor Augen… Liebende, die sich an den Händen halten… Dreck unter seinen Fingernägeln und Klarsicht in seinen Augen…er erzählt wie nebenbei, seinen Gitarre und seine Stimme aber zielen direkt auf das Herz…“

Das Autofahren, überhaupt das Wegfahren, Ausreißen, ist ein wichtiges Motiv in Springsteens Musik (und überhaupt in der amerikanischen Musik, eh klar). Ich erinnere mich, wie ich das zum ersten Mal verstand, als der Song „Stolen Car“ (von dem Album „The River“) auf sehr eindringliche Weise in der TV-Serie „Cold Case“ verwendet wurde (die Handlung dieser ganzen 11. Episode aus der dritten Staffel ist aus Springsteen-Songs zusammengebaut und von den entsprechenden Liedern untermalt). Ich weiß noch, wie ich danach eine ganze Nacht damit verbrachte, mir die Texte von Springsteen-Songs näher anzusehen/-hören – und wie ich mich bei einigen davon an eine Parabel von Kafka erinnert fühlte:

„Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitet der Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel«, fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Eßvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.«“

Es erscheint ein wenig lachhaft, aber ich finde, hier berühren sich der Prager Schriftsteller Kafka und der US-amerikanische Rockstar Springsteen. Es gibt noch andere großartige Songs übers Wegfahren, übers Herumfahren – zwei wunderbare ruhige und meditative sind „Drive all night“ und „Racing in the streets“, zu letzterem gibt es eine wunderbare Live Version auf „Live 1975-1985.“

Oft wird auf die sozialkritischen Aspekte von Springsteens Musik hingewiesen. Die Tracks 9-12 auf der zweiten CD von „Live 1975-1985“ sind ein sehr gutes Beispiel dafür. Drei davon („Nebraska“, „Johnny 99“ & „Reason to believe“) stammen von „Nebraska“ – heftige, sich unter die Fingernägel schiebende, tieftraurige Dystopien, Anklagen und Trauergesänge.
Das andere ist ein Lied von dem großartigen amerikanischen Liedermacher Woody Guthrie mit dem Titel „This land is your land“. Springsteen erzählt vorweg dem Publikum, dass er gerade dessen Biographie (von Joe Klein) liest – ein Buch, das ich ebenfalls sehr empfehlen kann. Der Song selbst ist, so Springsteen „one of the most beautiful song ever written“ und seine Live-Version bewegt entsprechend (und macht seine eher schwächliche Interpretation von Bob Dylans „The times they’re changin‘“ wett, die er anlässlich von dessen Kennedy Honorations verzapfte …).

Ich könnte ewig so weitermachen, will aber langsam zu einem Ende kommen. Also nur noch ein paar Streiflichter:

1. Songs, die ich als Studiotracks eigentlich nicht so mag, die aber live gut inszeniert sind:
„Im goin down“ (meine Live-Version ist ein Mitschnitt, den ich mal bei einem Springsteen-Radiosender mitgeschnitten habe, sie stammt vom Hard Rock Calling 2013).
„Working on the Highway“ (auch dies ein Mitschnitt, stammend von der Wrecking Ball Tour, London 2013)
„Tenth Avenue Freeze-Out“ (auf „Live in New York City“, enthält eine der großartigsten Ansprachen von Springsteen an sein Publikum – mit dem er über die Jahre immer mehr zusammengewachsen ist – und eine großartige(!) Vorstellung der Mitglieder der E Street Band)
„Tougher than the rest“ (auf „Chimes of freedom”, einfach nur Gänsehaut in dieser Version)
„I’m on fire“ (auf „Live 1975-1985“)
„Born in the USA“ (auf „Live in New York City“ in der düsteren, schlichten Version von der Kompilation „Tracks“)
„Adam Raised a Cain“ (von „Live 1975-1985)

2. Songs, bei denen ich gute Live-Versionen vermisse. Es sind einige, aber am meisten schmerzt es bei den Tracks „Thundercrack“ (ein sehr frühes Stück, unglaublich tolle Komposition von über 8 Minuten, ein Juwel) und „Wrecking Ball“, diesem mitreißenden Stück, das erst 2014 rauskam. Bei einem meiner absoluten Lieblingssongs von Springsteen, der unscheinbaren Serenade „Meeting across the River“, stört es mich wiederum nicht, dass es keine gute Live-Version gibt.

3. Auf das Album „Live in Dublin“ bin ich kaum eingegangen, aber nicht, weil ich es geringschätzen wollte. Es erscheint mir so zusammenhängend, dass ich kein Stück wirklich herausgreifen kann. Man erlebt hier einige Interpretation von Springsteen-Stücken, die einzigartig sind; die Session-Band, die auf dem Album mitspielt, ist keine Rockband, sondern mehr so etwas wie eine Folk-Bigband. Entsprechend besticht das Album nicht durch Wumms, sondern durch schöne Turbulenz, seine Elemente aus vielen Stilrichtungen. Es gibt ein Konzertalbum von Sting mit dem Titel „All this time“, auf dem er die meisten seiner bekannten Stücke ganz neu arrangiert – mit diesem Album ist „Live in Dublin“ vergleichbar (nur, dass das Publikum bei Sting kleiner ist, wie auch der Rahmen und dass bei „Live in Dublin“ die Ausgelassenheit eine größere Rolle spielt).

4. Coversongs, Duette. Es gibt so, so viele. Es gibt Aufnahmen von Springsteen mit Bob Dylan, Billy Joel, John Fogerty, Chuck Berry, Melissa Etheridge, Sting, U2, u.v.a.
Und Springsteen covert auf Konzerten regelmäßig Lieder von anderen Bands (ein paar seiner Favoriten sind The Clash, CCR, The Beatles), besonders gerne Rock’n’Roll-Klassiker. Hier zeigt sich auch immer wieder die Klasse der E Street Band, die anscheinend alles spielen kann. Ein paar meiner Lieblingscovers sind:
„You never can tell“ (ein Mitschnitt von einem Konzert in Leipzig 2013)
„I saw her standing there & Twist and Shout“ (mit Paul McCartney, Mitschnitt vom Hard Rock Calling 2012)
Nochmal „Twist and Shout & La Bamba“ (enthalten auf der CD „Released! The Human Rights Concerts – 1988“)
„London Calling“ (Original The Clash, auch Mitschnitt vom Hard Rock Calling, 2009, auch enthalten auf der DVD „Live in Hyde Park“)

5. Drei wunderbare Songs muss ich noch nennen, die auf dem Album „In Concert“ zu finden sind. Das ganze Album ist gut, aber diese drei sind „outstanding“: „Human Touch“ (der Titel sagt, worum es geht), „I wish I were blind“ (eines der besten Lieder über Eifersucht) und „If I should fall behind wait for me“ (eines der schönsten, zartesten Liebeslieder, mit einem Mundharmonikasolo vom Feinsten).

6. Noch drei großartige frühe Stücke von Springsteen: „Rosalita (come out tonight)“ (ein Stück von bahnbrechender Lebensfreude, beste Version auf „Hammersmith Odeon ’75) und die beiden schönen Balladen „Sandy“ und „Jersey Girl“ (ersteres auf der Hammersmith CD, das andere auf „Live 1975-1985“)

7. Und noch drei letzte Erwähnungen, die einen guten Abschluss bilden. Zum einen „Because the night“, das Springsteen zusammen mit Patti Smith schrieb und von dem es eine Live-Version auf „Live 1975-1985“ gibt (leider ohne Smith). Dann „American Land“, ein Immigrant-Song, der auf dem Studio Album „We shall overcome“ enthalten ist. Und last but not least: eines der schönsten Stücke von Springsteen, eine heilsame Hymne: „Land of Hope and Dreams“ – beste Live-Version auf „Live in New York City“.

Ich habe einige Konzerte von Springsteen besuchen können – wer es sich leisten kann, der sollte es einmal in seinem Leben tun. Es ist wirklich magisch. Die Live-Alben können das einfangen und wiedergeben, aber nicht zur Gänze. Ich habe mit völlig fremden Menschen getanzt, in einem Kreis in der Menge. Fast jedes Stück hat uns einander näher gebracht. Bei den Zugaben am Ende hatte sich längst dieses Gefühl eingestellt, dass man hat, wenn man sich gut aufgehoben fühlt. Ich hätte mich wohl bei einigen dieser Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht so schnell (oder überhaupt) gut aufgehoben gefühlt. Aber Springsteens Musik hat etwas Verbindendes, besonders auf Konzerten. Nicht nur, weil alle hier zusammengekommen sind, um derselben Band zuzuhören. Nein, es scheint in diesen Momenten wirklich so, als würde die Musik zwischen den Menschen für die Dauer des Konzertes ein Band knüpfen und durch dieses Band fließt die ganze Energie jedes einzelnen Liedes.

… diese Dinge, an denen man nicht nur teilhat, sondern die man so sehr mit sich herumträgt, leidenschaftlich, dass man sie sofort zückt, anbringt, wenn das Thema in die Nähe kommt. Bruce Springsteen gehört bei mir zu diesen Dingen, die mich in der Welt verankern. Es ist wohl so: das gilt für mich und viele andere nicht. Aber wenn ihr wollt: hört euch mal was an?

Zu Sebastian Barrys “Tage ohne Ende”


Tage ohne Ende “Noch während wir den Pfad entlangreiten, können wir sehen, wie übel Lige dran ist. Ein wunderschöner Bach, der wie ein endlos bereifter Bart verläuft. Feld um Feld besorgt aussehnenden Landes. Hohes geschwärztes Unkraut, und halb geerntete, verfaulende Nutzpflanzen. Dieses vergilbte Land und dann der erschrocken wirkende Himmel, der sich bis zum Himmelreich erstreckt, und überall am Horizont die Stümpfe und Stacheln unbekannter Bäume.”

Mit diesem Roman stand der Ire Sebastian Barry 2017 auf der Longlist für den Man Booker Prize, dem wichtigsten Literaturpreis für britische Prosa. Schon vorher hat er sich mit einem Roman über den ersten Weltkrieg und anderen über die Auseinandersetzungen im Irland des frühen 20. Jahrhunderts hervorgetan. In “Tage ohne Ende” hat er sich einer neuen Region zugewandt: dem nordamerikanischen Kontinent zur Zeit des Wilden Westens und des US-amerikanischen Bürgerkrieges.

Protagonist und Ich-Erzähler ist ein Ire, Thomas McNulty, der als Jugendlicher vor den großen Hungersnöten in die neue Welt geflüchtet ist und dort auf seinen Freund und seine große Liebe John Cole trifft. Mit ihm tanzt er zunächst, als Frauen verkleidet, im Saloon einer Bergarbeiterstadt, bevor sich beide zur Armee verpflichten und nach Westen ziehen, gegen die Indianer und bald in den Krieg…

“Wie ein irischer Simplicissimus stolpert er durch das Grauen der Feldzüge gegen die Indianer und des amerikanischen Bürgerkriegs – davon und von seiner großen Liebe erzählt er mit unerhörter Selbstverständlichkeit und berührender Offenheit.” So heißt es im Klappentext. In der Tat ist der Vergleich mit Grimmelshausens bitterbösbrachialem Roman über den 30jährigen Krieg nicht unangebracht: hier wie dort beherrscht eine rücksichtslose, unabwendbare Rohheit alle Lande, es findet sich kaum ein Schrei nach irgendeiner Form von Zivilisiertem, Überleben und Ertragen sind das tägliche Handwerk, das nicht stilisiert, sondern schlicht vorgeführt wird; die Offenheit ist zwar nicht direkt berührend, aber besticht durchaus.

Das Genre des Wild-West-Romans ist, würde ich behaupten, eng mit Groschenheften verknüpft; Barrys literarischer Ansatz leistet hier Pionierarbeit und sein Buch ist ein bemerkenswerter Versuch, in einem von Klischees und Heroismus, Mythen und Stilisierung beherrschten Themenfeld eine eigene Geschichte zu entwickeln, die realistische Maßstäbe an den Tag legt. Ihm gelingen beeindruckende Darstellungen, sein Timing für kleine Momente abseits der düsteren Grunderzählung ist tadellos.

Ich glaube dennoch nicht, dass dies ein Buch ist, das viele Leser*innen überzeugen wird. Ähnlich wie Kazuo Ishiguros großartiger Sagenroman “Der begrabene Riese” (Ishiguro hat sich sehr anerkennt zu diesem Roman von Barry geäußert), ist „Tage ohne Ende“ in seiner Komposition zu eigenwillig, um ein breites Lesepublikum für sich zu gewinnen. Er hat keine epischen Tendenzen, keine epische Grundstimmung, ist rustikal und direkt, mitunter poetisch – und viele Leser*innen werden diesen Mix für einen Mangel halten, obgleich gerade darin die Kraft seiner Darstellung liegt.

Vielleicht irre ich ja, ich hoffe es. Denn obgleich mich der Roman nicht begeistert hat (über Geschmack lässt sich nicht streiten), ist er große Literatur, eine bestechende Erzählung und ein wichtiges Dokument.

Zu Lisa Hallidays “Asymmetrie”


Asymmetrie, Halliday Es ist symptomatisch, veranschaulicht zusätzlich die im Rahmen dieses Buch angelegte Diskrepanz (oder Asymmetrie): der Fokus der meisten angloamerikanischen Besprechungen zu Lisa Hallidays Debüt lag beinahe ausnahmslos auf dem ersten Abschnitt des Buches, seinen Hintergründen und Umständen. Immer wieder wurden diese Hintergründe und Zusammenhänge heruntergerattert (und auf gewisse Weise schließe ich micht mit meiner Kritik daran diesem Trend leider an): Der erste Abschnitt beschreibt die romantische Affäre zwischen einem alten jüdischen Schriftsteller, der alle höchsten literarischen Ehrungen erhalten hat (außer dem Nobelpreis), und einer jungen Verlagslektorin in New York; man weiß: Halliday und der amerikanische Autor Philipp Roth hatten eine Beziehung miteinander als sie jünger war; Roth gefiel das Buch, er lobte es; Halliday betont, dass der größte Teil Fiktion sei. Ring frei für wilde Spekulationen oder ebenmäßige Erläuterungen. Schon konnte man meinen, das Buch enthalte nur diese Geschichte.
Das deutsche Cover präsentiert uns dementsprechend eine Skyline und auf dem Umschlagrücken steht:

Es beginnt mit einer Eiswaffel, auf einer Bank im Central Park.

Zwar wird weiter unten auch auf den zweiten Teil des Buches hingewiesen, der am Londoner Flughafen Heathrow und, in Rückblenden, im Irak und in Kalifornien spielt, aber ein flüchtiger Blick könnte den Eindruck vermitteln, hier handle es sich um eine New York-Geschichte, einen von der anderen Seite erzählten Philipp Roth-Plot. Da ich aber diesen ersten Teil tatsächlich für weniger gelungen halte – sowohl was die Figuren als auch was die Inszenierung angeht – wende ich mich zunächst dem zweiten Teil zu.

Amar wurde in einem Flugzeug, das gerade die USA überquerte, als Kind irakischer Eltern geboren. Wegen diese besonderen (und symbolträchtigen) Umstände, hat er beide Staatsbürgerschaften, die irakische und die amerikanische. Für ihn bleiben die Vereinigten Staaten das Land der Wahl, obgleich er wegen seiner Familie, vor allem wegen seines dort lebenden Bruders, nie den Kontakt zu dem Land seiner Abstammung verliert. Doch die Geschichte der irakisch-amerikanischen Beziehung im späten 20. Jahrhunderts ist, wie alle wissen, eine wechselhafte, letztlich desaströse. Am Anfang noch wird Saddam Hussein von den Amerikanern als Gegenpol zu der iranischen Revolution aufgerüstet, doch mit seinem Einmarsch in Kuwait und mit dem ersten Golfkrieg ändern sich die Gegebenheiten; und sie ändern sich wiederum als Saddam Hussein stürzt und mit ihm das Land, nämlich in noch größeres Chaos.

Als wir Amar begegnen, wird er gerade am Flughafen Heathrow festgehalten, ohne greifbaren Grund, vermutlich schlicht, weil er aus den USA kommt, Amerikaner ist, aber zwei Pässe hat, und gerade über die Türkei in den Irak einreisen will. Ein langes Warten beginnt, in dessen Verlauf Amar – angeregt durch die aktuellen Ereignisse, den Punkt an dem er jetzt in seinem Leben steht – an die Stationen seiner Lebensgeschichte zurückdenkt und in welcher Beziehung sie zu seiner doppelten Nationalität standen. Lisa Halliday gelingt (obgleich ich bei den vielen Zeitsprüngen nicht ganz mitgekommen bin und eine genaue Chronologie nicht nachzeichnen könnte) ein gut aufgefächertes Panorama, in dem sich unwillkürlich die vielen Facetten der US-amerikanischen Mentalität und der Unterschiede zur Mentalität im Nahen Osten auftun.

Auch sehr zugute halten muss man Halliday, dass sie aus Amar keinen Amboss macht, auf dem sie eine große Theorie über den Irakkrieg, die US-amerikanische Außen- und Einmischungspolitik und die Gefahren des 21. Jahrhunderts schmiedet. Die Figur und ihre begrenzte Perspektive, Amars ganz eigene Erfahrungen, stehen im Mittelpunkt; in dieser Perspektive, diesen Erfahrungen, spiegeln sich natürlich allerlei Ansätze von größeren Themen und Realitäten, die von einem Bild des modernen Irak bis zu den Wurzeln von Donald Trumps Repressionen gegen muslimische Bürger*innen reichen. Amars Lebensweg erscheint authentisch, mit allen Wendungen; die Geschichte seiner Familie, das darin schwingende Pendel zwischen USA und Nahost, wirkt gleichsam exemplarisch und individuell. Auch an der Art, wie Halliday Rückblenden und Gedankengänge sprachlich inszeniert, ist wenig auszusetzen – klug lässt sie die Unsicherheit und die Anspannung von Amar einfließen in die Struktur und den Verlauf seiner Überlegungen, seiner Erzählung.

Kurzum: Würde in diesem Buch nur diese Geschichte erzählt, es wäre nur 110 Seiten lang, aber es wäre eine beeindruckende menschliche Studie, ein gelungenes Porträt. Aber alles beginnt ja auf einer Parkbank im Zentralpark.

Während ich die Beschaffenheit der asymmetrischen Komponente im zweiten Teil für sehr vielschichtig und komplex halte, wirkt sie im ersten Teil geradezu plump: hier wirkt nichts wirklich asymmetrisch. Was trennt die beiden „ungleichen“ Liebenden, den Starschriftsteller Ezra Blazer und die Juniorlektorin Alice, anderes als das Alter? Nun will ich keineswegs behaupten, dass eine Geschichte über Liebende grundverschiedenen Alters nicht interessant sein kann oder ein alter Hut ist. Nichts Menschliches ist ein alter Hut und wenn jemand (oder eine ganze Gesellschaft) von etwas übersättig ist, dann hat das ebenso viel mit der Nachfrage zu tun wie mit dem Angebot.

Mir geht es also in Bezug auf diesen ersten Abschnitt nicht nur um die mangelnde Innovation. Er wirkt einfach trocken und nicht gut inszeniert, uninspiriert, scheint sich von einer Szene zur nächsten zu hangeln, als müsste die Autorin die 150 Seiten-Marke erreichen. Als Einwand könnte geltend gemacht werden: aber vielleicht geht es ja genau darum, um eine ungeschönte Darstellung, das Unaufgeregte, den Alltag eines Paares, dessen Alter weit auseinander liegt. Mag sein. Aber ich möchte dann schon verstehen, wie dieses Paar emotional ineinander verwickelt ist. Ich möchte die Figuren im Spiegel ihres Umgangs kennenlernen. Beides passiert nicht. Stattdessen laviert das Buch vor sich hin, in Sätzen und Szenen, die wohl Symptomatisches, Doppelbödiges enthalten und Zwischenräume lassen sollen, aber einfach nur wie zu dünn aufgetragen, zu baufällig gezimmert wirken. Dialoge wie dieser sollen vielleicht knapp und gleichsam hintergründig wirken, sparsam und feingliedrig:

Als sie den Kühlschrank öffnete, schlug die goldene Medaille vom Weißen Haus, die er an den Griff gebunden hatte, laut klappernd gegen die Tür. Alice ging wieder zum Bett.
„Liebling“, sagte er. „Ich kann kein Kondom tragen. Niemand kann das.“
„Okay.“
„Was machen wir dann wegen Krankheiten?“
„Na ja, also ich vertraue dir, wenn du …“
„Du solltest niemandem vertrauen. Was, wenn du schwanger wirst?“
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich würde abtreiben.“
Als sie sich später im Bad wusch, reichte er ihr ein Glas Weißwein durch die Tür.

 

Aber sie wirken stattdessen unausgereift, apathisch manchmal, wie ohne Hintergrund und Inhalt, wie eine Hülle. Ich erfahre zwar alles Mögliche über die beiden Figuren und was sie miteinander machen, wie sie leben – aber ich erfahre nichts über sie; es gibt keinen Moment, wo sie heraustreten aus ihren Beschreibungen, dreidimensional werden.

Ist das die Asymmetrie? Hier die Oberfläche einer Liebesgeschichte, die Neurose der amerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts adaptierend und glättend, und auf der anderen Seite die Tiefe einer menschlichen Psyche, zerrissen zwischen der Dominanz der US-amerikanischen Lebensweise auf der einen und den Auswirkungen dieser Dominanz auf der anderen Seite? Gut, das taugt was, als großes Bild, aber es macht diese erste Geschichte nicht besser, nicht lesenswerter. Vor allem nicht als Fiktion. Als autobiographischer Bericht (wie einst die Geschichte von Joyce Maynard über ihre Zeit mit J. D. Salinger) würde diese Story vielleicht noch etwas hergeben. So wirkt sie zahm, lahm, allzu glatt, ohne wirkliche Einfühlungsmöglichkeiten, ohne Reiz.

Auch als Liebeserklärung an den Autor Philipp Roth oder sein Schreiben, kann man diesen ersten Abschnitt nicht gelten lassen – diese Absicht ließe sich am ehesten im dritten, kürzesten Teil finden. Dieser dritte Abschnitt ist ein Interview mit Ezra Blazer, bei dem er über seine Lieblingsmusik sprechen soll, wie sie seine Biographie begleitet und geprägt hat. Dieser dritte Teil ist gelungen und obgleich Blazer auch hier ein bisschen wie ein Platzhalter wirkt und ganz klar als Figur auftritt, ist doch sehr viel mehr Leben in diesem kurzen Abschnitt als auf den ganzen ersten 150 Seiten.

Fazit: Ja, Lisa Halliday ist eine gute Autorin, aber die ersten Seiten ihres Debüts wirken bemüht und etwas einfallslos; sie wagt viel zu wenig. Die Chance, die in der Darstellung einer solchen Beziehung aus weiblicher Perspektive liegt, lässt sie ungenutzt verstreichen und bringt fahrlässig wenig von den Emotionen und der Persönlichkeit ihrer Protagonistin ein. Der zweite Teil ist wie gesagt beeindruckend, bestechend. Der dritte ein schöner Schluss, elegant. Hätte man den ersten Teil um 100 Seiten gekürzt oder anders inszeniert, wäre es ein tolles Buch geworden. Wobei der Titel „Asymmetrie“ immer noch ein wenig hochgegriffen wirken würde, den dafür kommunizieren Teil 1 und 2 einfach zu wenig und selbst die oben angesprochene Idee stellt die Teile zwar einander gegenüber, aber verknüpft sie nicht wirklich miteinander. Das Ungleichgewicht ist ein ästhetisches, kein konzeptionelles.

Zu “Die ersten Amerikaner” von Thomas Jeier


Die ersten Amerikaner „Es galt, in diesem Buch vor allem mit in vielen Jahrzehnten manifestierten Klischees aufzuräumen, neueste Wissenschaftserkenntnisse aufzugreifen und so dem Leser ein möglichst umfassendes Bild indianischer Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln.“

Dies Buch ist ein kniffliger Fall. Sein Verfasser ist ein durchaus renommierter Autor, in dessen (sehr langer) Werkliste jedoch auch zahlreiche Groschen- und Abenteuerromane auftauchen. Natürlich sehe ich dieses Sachbuch nicht allein deswegen kritisch und solange ich keinen seiner Romane – von denen einige auch im historischen und gegenwärtigen Milieu der amerikanischen Ureinwohner spielen – gelesen habe, werde ich sie nicht vorverurteilen. Aber sowohl das, was in den Klappentexten dieser Romane steht (das klingt schon hier und da sehr nach heischendem Kitsch), als auch einige Bemerkungen in „Die ersten Amerikaner“, haben mich etwas stutzig gemacht.

Es gibt da zum Beispiel dann und wann Widersprüche in den Aussagen. Ein Beispiel: Zuerst weist der Autor die Marterpfähle als regionale Eigenheiten einer bestimmten Stammeskultur aus, einige Seiten später spricht er dann aber davon, dass jede/r weiße Siedelnde im mittleren Westen am Marterpfahl landen konnte, wenn die Ureinwohner*innen seine Farm überfielen.

Auch schwankt immer wieder das Ausmaß der Darstellung: manchmal spricht Jeier klug und kundig über die verschiedenen Stämme, bevor er sich dann in anderen Abschnitten in bestimmte Beispiele hineinsteigert, den Leser*innen einen beispielhaften, schmalen Eindruck von bestimmten Phänomenen gibt. Gegen diese Sprunghaftigkeit, den Wechsel zwischen Weitläufigkeit und Konkretion, ist eigentlich nichts einzuwenden, das Ganze wirkt aber hier und da ein wenig unübersichtlich und führt außerdem dazu, dass manche Abschnitte extrem informativ und spannend, andere voller Wiederholungen und ermüdender Kleinstdarstellungen sind. Beides zu haben ist sicher gut, aber es macht das Buch etwas unrund.

„Jedes Jahr halte ich mich mehrere Wochen oder Monate in den USA auf und verbringe einen großen Teil meiner Zeit im amerikanischen Westen und in Reservaten.“

Man kann festhalten: das Standardwerk zum Thema amerikanische Ureinwohner*innen hat Jeier mit diesem Buch nicht vorgelegt. Trotzdem kann er mit sehr viel Insiderwissen aufwarten und hat meist einen klaren Blick, der die native americans nicht verklärt oder als bloße Opfer stilisiert, sondern das an ihnen begangene (und in einzelnen Geschichten von ihnen begangene) Unrecht und die verheerende Geschichte ihrer Dezimierung durch die europäischen Kolonialmächte in vielen Einzelheiten und Facetten schildert.

„Der Krieg gegen die Indianer, von Regierung und Kirche gleichermaßen vorangetrieben, wurde zu einem Genozid gigantischen Ausmaßes, der durch grausame Massaker und Massentötungen gekennzeichnet war. Die Angaben der zwischen 1492 und 1900 getöteten Indianer schwanken zwischen zwei und zehn Millionen Menschen. Die Ermordung von unbewaffneten und hilflosen Männern, Frauen und Kindern und die systematische Ausrottung ganzer Dörfer durch heimtückische Überfälle und der Ausbruch ansteckender Krankheiten gehörten zum Alltag der 300 Jahre dauernden Indianerkriege.“

„Die ersten Amerikaner“ ist vor allem ein Buch, das mitunter gekonnt den Spagat zwischen populärwissenschaftlicher Darstellung und tiefergehenden Ambitionen meistert, manchmal bei diesem Spagat aber auch etwas ungeschickt aussieht. Es werden sehr viele Geschichten erzählt und Wissen wird hier und da großzügig gestreut. Einige Abschnitte haben es mir sehr angetan, wie etwa die Schilderungen der von den mittelamerikanischen Einflüssen geprägten Hochkulturen im Süden der heutigen USA und einige Schilderungen zur heutigen Lage der natives sind Meisterstücke.

Dennoch kommt sich das Buch mit seiner akribischen Verbrechensverfolgung und -auflistung ein wenig selbst in die Quere. Gewiss, diese seitenlangen Nacherzählungen von konkreten Verbrechen sind wichtig und erfüllen die dokumentarische Ambition. Die Schilderung von Lebensweisen, Vorstellungen und dergleichen, die die Ureinwohner Amerikas pflegten, wird dabei auch nicht vergessen, sondern gewissenhaft und regelmäßig eingeflochten. Aber letztlich konkurrieren beide Aspekte ein wenig miteinander und die Darstellungen des Lebens fallen in meiner Leseerfahrung hinter die Darstellung des Sterbens und Unterdrücktseins zurück.

Das ist vielleicht folgerichtig, immerhin ist genau das mit den Ureinwohnern Amerikas passiert: ihre Kultur, ihre Lebensgewohnheiten und, in vielen Fällen, ihre Existenz, wurden ausgelöscht, es blieb ihre blutrünstige Statist*innenrolle in Westernfilmen. Vielleicht muss ein Buch diesem Narrativ, so zwingend es zu sein scheint und so gut es auch das Schicksal der natives widergibt, nicht folgen. Denn es ist ja nicht ihre ganze Geschichte (und Jeier schildert auch die Zeit vor der Begegnung mit Europa, aber eben nur in 2. Kapiteln).

Letztlich ist Jeiers Buch immer noch eine beeindruckende Arbeit, sicherlich die Arbeit vieler Jahre, die ich weder ihm noch allen potenziellen Leser*innen madig machen will. Meine Bedenken habe ich vorgebracht, jetzt bleibt nur noch, hervorzuheben, dass ich einige spannende Erkenntnisse und manch prägenden Eindruck aus diesem Buch erhalten habe. Es ist in jedem Fall ein lesenswertes Werk und vielleicht verfehlen meine Kritikpunkte letztlich auch die Idee dieses Buches, lassen sie außer Acht. Ich hätte mir wohl eine Geschichte der amerikanischen Ur-Einwohner gewünscht, in der nicht der Hauptaspekt auf den Verbrechen liegt, die sie erlitten (nicht um das Auszublenden, sondern weil ich mich für ihre Kultur und nicht primär für deren Untergang interessiere). Aber vielleicht ist das einfach nicht möglich. Vielleicht ist das die schlimmste Erkenntnis.