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Zu Doris Anselms “Hautfreundin”


Hautfreundin „Herr und Frau.
Eigentlich, fällt mir heute ein, sind diese Anredeformeln überhaupt nicht seriös. Im Gegenteil. Sie weisen ständig darauf hin, dass Geschlechtsteile anwesend sind.“

Nach etwas fünfzig Seiten muss ich mich ermahnen, dass auf dem Cover des Buches „Roman“ steht. Denn das erzählende Ich in Doris Anselms „Hautfreundin“ ist so konsistent und tritt so unverstellt und direkt auf, dass man meinen könnte, „Hautfreundin“ sei ein tatsächlicher Erfahrungsbericht, die Autobiographie eines echten Körpers und seines Begehrens, und keine Fiktion.

Ein klassischer Roman ist das Buch allerdings auch nicht, denn statt eine lückenlose Geschichte aufzuführen, besteht das Buch aus längeren für sich stehenden Einzelgeschichten, Episoden im Leben der Erzählerin, die sich von ihrer Jugend über ihre jüngeren Erwachsenenjahre bis zu einem Zeitpunkt im mittleren Alter erstrecken, der als ungenaue Gegenwart Dreh- und Angelpunkt des Geschehens ist (außerdem gibt es noch eine Episode, die in einer technologisch noch weiter entwickelten Zukunft spielt, wobei unklar ist, ob das Szenario der Episode ein Traum, eine Fantasie oder eine wirkliche Vorausschau darstellt). Im Zentrum der Episoden steht meist eine Begegnung, oft sexueller Natur, unterschiedlich aufbereitet.

Den Anfang macht die Episode „Das Wort“, in der die Erzählerin, zunächst nur als Stimme, noch nicht als Körper, über das Wort für ihr Geschlechtsteil nachdenkt.

„Ein Wort, das viel Scham aufgenommen hat, das hundert Jahre oder länger nur flüsternd gesagt wurde, mit niedergeschlagenen Augen, ohne Stolz, ohne Freude, kann sehr schwer sein. Es wird nicht ausgetauscht, weil offiziell ja alles in Ordnung ist mit ihm. Aber es fühlt sich anders an als andere Wörter.“

Natürlich steht diese Reflexion über Sprache nicht zufällig am Anfang und nicht zufällig ist in dieser Überlegung das ganzes Dilemma der weiblichen Lust schon ausgebreitet: wie eine positive Geschichte weiblicher Sexualität erzählen, wenn schon die Begriffe, die Worte, mit Scham behaftet sind und eine Stimmung erzeugen, die lust- und genussfern ist, in der das Unzureichende dominiert, das Schwierige, das einen in die Unzulänglichkeit zwängt, statt Möglichkeiten zu bieten, aus sich herauszugehen?

In den darauffolgenden knapp 250 Seiten hat Doris Anselm genau das versucht. Ihr Buch ist ein Roman über Sex und über Lust, aber vor allem ein Buch, das versucht, die Geschichte einer positiven Selbsterfahrung, als Körper, als Frau, als sexuelles Wesen, zu erzählen. Und für so eine Geschichte eine Sprache zu finden ist schwer. Schließlich gibt es auf der einen Seite nur die pornographische Sprache mit all den männergeprägten Frauenbildern, auf der anderen Seite vor allem die süßlich-schwüle Romantik von Groschenheften und die liberal-verklemmte, komische Erotik von Hollywoodfilmen.

Anselm sucht dazwischen einen Mittelweg, der aber natürlich nicht einfach jenseits der bisherigen Sprachverhältnisse ganz neu beginnen kann. Ihre Sprache hat daher einen leicht wiegenden Touch, der entfernt der glatten Oberfläche von Pop-Romantik gleich und in der Beschreibung von sexuellen Tätigkeiten eine Langsamkeit, die an die Detailfixierung von pornographischen Texten erinnert. Aber nebst diesen Anleihen hat ihre Sprache in vielen Fällen wichtige zusätzliche Qualitäten: sie ist anschaulich, intensiv und geht Risiken ein, probiert aus, und kann in den richtigen Momenten von tiefer Involvierung auf distanzierte Analyse umzuschalten (und umgekehrt).

Manchmal wirkt sie dennoch etwas manierlich, manchmal etwas platt, aber mindestens genauso oft bietet sie überraschende Einblicke, hält feinsinnige Umschreibungen und starke Bilder parat. Gleich im zweiten Kapitel beschreibt die Ich-Erzählerin ihr erstes Mal und auch ihre erste Penetration:

„Dann herrscht eine Zeit lang das Bild von etwas Fremdem in meinem Körper. Es könnte alles möglich sein, es gehört nicht zu mir. Ich atme. Wir sehen uns an und er hält still. Auf dem Himmelsplakat verblasst eine weiße Kondensspur. […]
Da umklammere ich ihn mit den Beinen, und als die weiße Spur vom Himmel verschwunden ist, gehört alles, was in mir ist, mir. […] Wir gleiten umeinander. Ich muss lächeln.“

In dem darauffolgenden Kapitel die spontane Erregung bei einer Begegnung mit einem anziehenden Menschen:

„Irgendwo neben uns zieht ein Drucker seufzend Papier ein. Jemand beendet ein Telefonat und legt auf.
Wir sehen einander in die Augen. Wir stehen da, zwei Erwachsene in ihrer jeweiligen Rolle, und dann dehnt sich der Moment über uns aus, wölbt sich, schillert, zerplatzt.“

Oft sind Emotionen stark vertreten in dieser Sprache. Und das ist auch gut so, denn selbst wenn dergleichen manchmal schwärmerisch oder eben manieristisch rüberkommt, ebnet Anselm damit hoffentlich an einigen Stellen den Weg für nachfolgende Autor*innen, die über Lust schreiben wollen und aus ihren Fehlern lernen, und ebenso von ihren Ideen, von ihren Ansätzen profitieren werden.

Ein weiterer Vorteil der emotionsdurchzogenen Sprache ist (neben der Nähe, die sich zur Ich-Erzählerin als Figur einstellt), dass nicht nur Geschichten von Handlungen erzählt werden (wie es in der klassischen Pornographie meist der Fall ist – Emotionen werden dort lediglich aus den Handlungen abgeleitet), sondern vor allem von Gefühlen, Zuständen, die den Handlungen vorausgehen, ihnen auch widersprechen, sich schnell abwechseln, changieren. Wir erleben Anselms Protagonistin in den unterschiedlichsten Momenten, verschiedensten Lagen, begleiten sie bei geilen Erfahrungen, meditativen Augenblicken und tief hinein in ihre Unsicherheit, z.B. in Gesprächssituationen, mit Reaktionen, die von Wut bis Verzweiflung reichen.

„Wenn du das wirklich glaubst, denke ich, wenn du glaubst, dass ich für etwas, das ich will, zu schade bin, glaubst du in Wirklichkeit, dass es egal ist, was ich will.“

„Damit, dass er mir so gefallen würde, habe ich nicht gerechnet. Ich hatte bloß gehofft, dass er mir genug gefallen würde. Genug, um mir etwas mit ihm vorstellen zu können: etwas Neues, etwas Spezielles, etwas Dunkles. Ich hatte gehofft, dass er für meine Neugier ausreichen würde. Über mich selbst habe ich gar nicht nachgedacht.“

Trotz dieser breiten Gefühlspalette ist das Buch zunächst vor allem die Geschichte eines sexuell erfüllten Daseins, einer von Neugierde und Glück geprägten Lust an Körpern, dem eigenen und den fremden. Erst im weiteren Verlauf und vor allem gegen Ende realisiert die Protagonistin, dass sie Glück hatte mit ihrem Lebensweg, ihren Erfahrungen, und dass die sexuelle Biographie vieler Frauen nach wie vor (und vor allem früher) viel mit den Umständen zu tun hat(te), also damit, an welche Menschen (vor allem Männer) man gerät und was einem passiert, wenn man jemandem seinen Körper anvertraut oder einfach einen Körper hat und von diesem Körper etwas erwartet wird.

Gerade dieser letzte Turn hat mich noch einmal sehr beeindruckt, weil das Buch dadurch beides in sich trägt: Utopie und Realität, Wunsch und Wahrheit. Es wird gezeigt, wie es gehen könnte – und warum es so noch immer nicht läuft, zumindest leicht anders laufen kann. „Hautfreundin“ ist die Geschichte einer Erfüllung, die am Ende in einen Abgrund der Verletzungen und Ängste schaut, dem sie, wie durch Zufall, entronnen ist. Die ganze Geschichte, so wird am Ende klar, hätte auch in jeder Episode ganz anders aus- und weitergehen (oder auch enden) können (hier scheint durch, wie sinnvoll die Struktur des Buches ist).

„Ich habe mal gehört, dass echte Nächstenliebe meistens holprig daherkommt, wenig elegant, weil jemand, der sie gibt, vorher nicht lange überlegt.“

Anselm ist über weite Strecken eine großartige introspektive Darstellung gelungen. Ich persönlich habe selten eine so intensiv-feingliedrige Schilderung von Begehrensstrukturen gelesen (egal ob von einem Mann oder einer Frau), die aber nicht ins detailgetriebene oder ins erotisch-versessene abdriftet. „Hautfreundin“ ist kein female-friendly Porno, kein neues „Feuchtgebiete“. Es ist ein Buch darüber, wie eine erfüllte Sexualität für jemanden (der/die sie ausleben will), aussehen kann, die Geschichte einer Entdeckung und Eroberung des eigenen sexuellen Terrains. Und ein Buch darüber, wie dieser Wunsch auf verschiedenste Arten mit einer Welt interagiert, kollidiert, verschmilzt, in der wir heute leben (könnten).

Alben, die ich sehr schätze – Erster Eintrag: “Blood on the tracks”


Bob Dylan - Blood on the tracks

Ich habe in meiner Schulzeit zu den Leuten gehört, die viele CDs hatten (und LPs, allerdings nur ein paar wenige) und in dieser Zeit habe ich sie rauf und runter gehört. Es gibt nicht viele Alben, die man mehr als einmal vom Anfang bis zum Ende hören kann. Alben, die (für das eigene Ohr) fast ohne Schwächen sind, die genügend Abwechslung haben oder eine gelungene Sturktur.1 Alben, bei denen es reizvoll ist, sie immer wieder anzuhören; sie sind wie ein Gedicht oder ein Buch, das man immer wieder liest. Eine Galerie von Klängen, die man immer wieder betreten mag.

Beim letzten Durchsehen meiner Sammlung wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass ich viele CDs eigentlich weggeben könnte, weil die entscheidenden Lieder längst digital gesichert sind und ich die CDs – sei es zum Hören oder einfach als eine Art Schatz, als Münze oder Juwel in meinem Drachenhort – nicht wirklich haben will; dafür sagen sie zu weniger über das aus, was ich bin(/sein will) und mag(/mögen will?).

Also sortierte ich aus, schmiss weg, verschenkte. Einige Alben überlebten diesen Prozess natürlich und irgendwie habe ich das Bedürfnis, diese Alben zu teilen. Wie meine Lieblingsbücher haben sie mich schon eine Weile begleitet und werden mich weiterbegleiten.

Den Anfang macht direkt ein Album, das ich tatsächlich für perfekt halte. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es unter Bob Dylan-Fans einen Streit gibt, welches Album das beste sei und sich ungefähr gleichviele Fürsprecher*innen für „Blonde on Blonde“, „Highway 61 revisited“ und „Blood on the tracks“ finden lassen (während andere sich noch darüber streiten, ob er singen kann). Trotz großer Sympathie für „Blonde on Blonde“ – „Blood on the tracks“ hätte immer meine Stimme.

Bob Dylan hat in Interviews oft gesagt, dass dieses Album ihm aus einer Schaffenskrise geholfen habe – oder besser gesagt: das Resultat einer beendeten Schaffenskrise ist. Ich muss zugeben, dass mich herzlich wenig interessiert, welche Bedeutung dieses Album in seinem Schaffen einnimmt – die besten Kunstwerke überwinden ihre Kontexte vollends oder gehen ganz und gar in ihnen auf und bei „Blood on the tracks“ trifft ersteres zu. Reporter*innen haben sich den Mund fusselig gefragt, ob er in diesem Album die Trennung von seiner Frau verarbeitet habe und noch jede Menge anderes Zeug.

Aber kein Label – egal ob „Trennungsalbum“ oder „Symbol neuer Schaffenskraft“ – vermögen in meinen Augen dieses Album zu definieren, zu vereinnahmen. Es ist unbeugsam, wüst, es ist fabulierend, es ist zärtlich, rotzig, euphorisch, bitter, aberwitzig, blitzgescheit und noch einiges mehr; vor allem aber kann es für sich selbst stehen.

And everyone of them words rang true
And glowed like burnin’ coal
Pourin’ off of every page
Like it was written in my soul
From me to you
Tangled up in blue

Schon beim ersten Lied „Tangled up in blue“, diesem Gedicht auf das Leben – das Abenteuer, in dem jeder von uns ein/e Protagonist*innen ist – ist alles da: die Heftigkeit und Zartheit, die in Begegnungen liegen. Die herantretende Unvermeidlichkeit und wie es nach ihr doch weiter geht, mit einer neuen Kerbe am Bootsrumpf, die sich wie ein Leck anfühlt.

„Tangled up in blue“ ist ein wunderbarer Startschuss. Der Song fächert auf, worum es in dem Album noch gehen wird, nimmt aber nicht zu viel vorweg; springt von einer Strophe in die nächste, während einem beim Zuhören das Gefühl beschleicht, es gehe Großes, Wichtigeres vor sich, das einem das Lied gleichsam offeriert und entzieht.

Am Ende steht man bei diesem Auftakt wieder vor dem nichts, obwohl so viel aufgefächert wurde. Wie ein Teaser, der die besten Momente des Films einfängt, ist „Tangled up in blue“ ein Portrait des ganzen Albums – und sein Spiegel.

People tell me it’s a sin
To know and feel too much within
I still believe she was my twin
But I lost the ring
She was born in spring
But I was born too late
Blame it on a simple twist of fate

Musik kann auf viele Arten mitreißend sein: Weil sie einen zum Tanzen animiert. Zum Mitsingen. Weil sie eine Lebensweise ausdrückt, eine Haltung, eine Meinung. Weil sie ausgeklügelt ist, ein Ohrenschmaus für Kenner. Oder weil die Melodien mit den Worten zusammen ein Netz weben, in dem, gezogen durch einen riesigen Ozean, sich plötzlich dein Herz befindet, schlagend, zappelnd.

Der zweite Track „Simple twist of fate“ ist so ein Netz für mich. Eine Art Soft-Blues, nicht zu eingängig, nicht zu beschwingt, mit viel Lakonie gewürzt – wenn er ein Gericht wäre, wäre er angenehm scharf. Keine Bitterkeit weit und breit und diese Abwesenheit von Bitterkeit ist beeindruckend, weil doch in diesem Lied alles nur auseinanderbricht. Doch kein Widerstand, nur Abfinden.

Dabei spricht so viel Kleines darin für sich, der Song liest es auf, wie von den Bäumen gefallene Blätter, die sagen: es war Zeit. Das muss akzeptiert werden, dass es Zeit war (oder nicht die Zeit war). Aber über Jahre hinweg bleibt dieser Stich: war es ein simple twist of fate, war es NUR ein simple twist of fate? Solche Gedanken fängt das Lied ein, webt sie in das dünne Leinen, unter dem es sich hin- und herzwälzt. Sanft, bedächtig, geradezu beschaulich, erzählt Dylan die allertraurigste Geschichte: Über das „es hat nicht sollen sein“, in dem sich spiegelt „ich wüsste zu gern, ich hätte gern, ich hab dich gern.“

Time is a jet plane, it moves too fast
Oh, but what a shame if all we’ve shared can’t last
I can change, I swear, oh
See what you can do
I can make it through
You can make it too

“You’re a big girl know” ist eine Zwischenstufe, bedächtig auch, noch nicht wirklich bitter, aber zuckend hier und da, sich zusammenreißend, ins Langen und ins Appellieren driftend, gefangen zwischen Klimpern und vielem, das in der Stimme anschwillt, aus den Worten tropft. Ein Lied, das nicht loslassen will (und für einen Dylan-Song auch ungewöhnlich lange nach dem Ende des Textes noch weiterläuft.)

Gäbe es ein Lied, das man einer Person, mit der man Ähnliches wie in „Simple twist of fate“ erlebt hat, hinterher- oder zuschicken würde, so wäre es wohl dieses. Es ist ein Epilog zum vorangegangenen Track und im Prinzip ein Prolog zu „Idiot wind“. Die Reihenfolge folgt dem Muster jeder unerwünschten Trennung: Zuerst will man nicht weg, dann will man zurück, und wenn man merkt, dass man nicht zurück kann, will man nur noch weiter, will der Vergangenheit, die einen nicht mehr aufnimmt, möglichst demonstrativ den Rücken kehren.

„You’re a big girl now“ ist das Mauerblümchen des Albums und trotzdem ein großartiges Lied, in all seiner Schlichtheit. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie es Dylan in diesem Album gelingt, für jeden seiner Songs den richtigen Umfang, die richtige Art des Kreisens um ein Thema zu finden. Fast scheint es, als würde dieser Song, der weniger ambitioniert und konzipiert daherkommt als „Simple twist of fate“ und „Idiot wind“, weniger geschlossen, ins Banale ragen, zu sehr verankert sein in einer bestimmten Emotion. Aber gerade diese verwaschene Schmalheit macht dieses Lied schön. Es nimmt sich die Freiheit, zwischen den Stühlen zu singen.

I ran into the fortune-teller
Who said beware of lightning that might strike
I haven’t known peace and quiet
For so long I can’t remember what it’s like
There’s a lone soldier on the cross
Smoke pourin’ out of a boxcar door
You didn’t know it, you didn’t think it could be done
In the final end he won the wars
After losin’ every battle

I woke up on the roadside
Daydreamin’ ’bout the way things sometimes are
Visions of your chestnut mare
Shoot through my head and are makin’ me see stars
You hurt the ones that I love best
And cover up the truth with lies
One day you’ll be in the ditch
Flies buzzin’ around your eyes
Blood on your saddle

Es gibt viele bittere Lieder, viele von ihnen sind gleichzeitig auch melancholisch, andere schrill. „Idiot Wind“ ist nicht melancholisch und nicht wirklich schrill. Es ist eine Ballade reiner Bitterkeit, musikalisch großartig arrangiert und von einer Stimme getragen, die sich die Seele aus dem Leib zu singen scheint, weil sie sonst anfangen müsste zu brüllen. Das Lied lädt seine Bitterkeit aber nicht einfach ab, sondern schneidet mit ihr, zerreißt, schmeißt sie. Es ist Befreiung und Verurteilung, torture und cure in einem.

Schlicht eine Wucht. Ein Song, bei dem das Wort „großartig“ auf jeder Ebene zutrifft. Mitreißend. Und am Ende, in genau dem richtigen Moment, einsichtig, wenn man es gar nicht mehr erwartet.

Was kann auf so eine bittere, tosende Stafette folgen?

I’ve seen love go by my door
It’s never been this close before
Never been so easy or so slow.
Been shooting in the dark too long
When somethin’s not right it’s wrong
Yer gonna make me lonesome when you go.
[…]
Situations have ended sad,
Relationships have all been bad.
Mine’ve been like Verlaine’s and Rimbaud.
But there’s no way I can compare
All those scenes to this affair,
Yer gonna make me lonesome when you go.

Mundharmonika und sanfte Fröhlichkeit. Der Wind hat sich gedreht, Ring frei für eines der schönsten Liebeslieder überhaupt. Ein Text voller einfachster, funkelnder Sätze und ein Refrain, der ein schlichtes Bekenntnis ist, leichter als Luft, und doch so schwer, wie einem das Herz werden kann: „You’re gonna make me lonesome when you go“.

Ein Satz, der ein Ruf ist, eine Narbe, ein Nagel, ein Winken, eine Inschrift, ein Fluch. Was da alles drinsteckt, wie viele Emotionen dieser einzelne Satz (und erst das ganze Lied) transportiert: Einsamkeit, Zuneigung, Angst, Hoffnung, Melancholie, Dankbarkeit, etc.

Und das alles haut uns Dylan mit einem beschwingten Lied von unter drei Minuten um die Ohren, tänzelnd auf einem dünnen Seil, auf sechs dünnen Saiten, süßlich, ohne ein Spur von Klebrigkeit. Kurzweilig, wie etwas Unverhofftes, begegnet uns dieses Lied. Auf gewisse Weise ist es das Schönste des ganzen Albums.

Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Look at the sun
Sinkin’ like a ship
Ain’t that just like my heart, babe
When you kissed my lips?

Wenn das Album ein Schulhof wäre, dann wäre “Meet me in the morning” der Typ, der auf cool macht, cool rüberkommt, aber eigentlich gar nicht so cool ist. Ich mag die Lässigkeit dieses Stücks und auch die Seltsamkeit des Textes, den leichten Aberwitz. Trotzdem ist diese dubiose Hymne sicher der schwächste Song. Er zwinkert einem zu, sieht gut aus, aber man hat nicht das Gefühl, dass da wirklich „blood on the track“ ist.

Trotzdem – wenn „Meet me in the morning“ nicht da wäre, würde es fehlen. Es ist die staubige Straßenkreuzung, der Moment im Nirgendwo, den das Album braucht. Etwas Übliches, unverfängliches. „Meet me in the morning“ verschafft den Zuhörer*innen eine kurze Pause und liefert außerdem ein ordentliches Pausenprogramm. Man kann sich anschauen, was war und sich auf das freuen, was noch kommt, während man nebenbei der Lässigkeit des Stückes lauscht.

Backstage the girls were playin’ five-card stud by the stairs
Lily had two queens, she was hopin’ for a third to match her pair
Outside the streets were fillin’ up, the window was open wide
A gentle breeze was blowin’, you could feel it from inside
Lily called another bet and drew up the Jack of Hearts

Das längste Stück, platziert an siebter Stelle: “Lily, Rosemary and the jack of hearts”. Eine rasante Ballade, ein Narren- und Schurkenstück, eine Wild-West-Erzählung mit viel Couleur. Fast beiläufig beginnt es, steigert sich mit jeder Strophe, unbarmherzig und fabulierend, in der Intensität, in welcher viele kleine Pointen und Wendungen funkeln.

Der „jack of hearts“ ist einerseits der Herzbube im herkömmlichen Kartenspiel, andererseits auch der gutaussehende Verführer, der gerissene, sympathische, aber skrupellose Jüngling (und, btw: eine Marvelfigur).

Obwohl es nicht mein liebstes Stück ist, habe ich es öfter gehört als alle anderen (außer vielleicht „Tangled up in blue“). Es lässt einem kaum Zeit zum Luftholen und am Anfang hörte ich es vor allem deshalb mal um mal, um den Text Stück für Stück nachzuvollziehen, herauszuhören. Auch heute entdecke ich noch neue Kleinigkeiten oder erfreue mich an alten Lieblingsstellen.

We had a falling-out
Like lovers often will
And to think of how she left that night
It still brings me a chill
And though our separation
It pierced me to the heart
She still lives inside of me
We’ve never been apart
[…]
If she’s passin’ back this way
I’m not that hard to find
Tell her she can look me up
If she’s got the time

Manchmal werden Menschen unerreichbar für uns. Gäbe es nur jemanden, der ihnen Hallo von uns sagen könnte oder: Wie geht es dir? fragen könnte. Vielleicht sogar ein „Vermisst du mich?“ überbringen könnte, ganz unproblematisch. „If you see her, say hello“ ist ein Lied des Haderns, schafft es aber, dieses Hadern von seiner liebevollsten Seite zu präsentieren, auch wenn der ganze Umfang seiner Problematik durchscheint. Es steht an der Schwelle zum Verzagen, blickt aber fast die ganze Zeit über die Schulter.

Die Stimme versucht stark zu sein, fliegt sich aber selbst davon. Es ist das haltloseste Stück des Albums. Mit Gitarrenklängen, die klingen, als würde jemand mit baren Händen etwas ausgraben, während die Stimme versucht ruhig zu bleiben, unverfänglich, sich nicht zu verhaken in den Nachfragen, der verlassenen Hoffnung, in der sie immer noch steht, ohne zu warten, ohne zu wissen warum, aber noch nicht bereit, wegzugehen.

I’ve heard newborn babies wailin’ like a mournin’ dove
And old men with broken teeth stranded without love
Do I understand your question, man, is it hopeless and forlorn
Come in, she said
I’ll give ya shelter from the storm

Popsongs are cheesy or corny. Eine solche Bemerkung fegt “Shelter from the storm” einfach vom Tisch. Ich bin verliebt in dieses Lied (in die Studio-Version und die Live-Version vom Album „Hard Rain“ gleichermaßen), seinen zärtlich-lapidaren Stil, seine Fülle, seine Offenheit. Wäre der Song eine Person, ich würde sie wunderschön finden – nicht im begehrlichen Sinne, sondern unverfänglich – ihre Art, ihre Ausstrahlung. Gut, diese Liebeserklärung ist jetzt schon etwas corny.

Um es noch schlimmer, aber auch eindeutiger zu machen: In einem Gedicht von W. H. Auden heißt es: „life remains a blessing/although you cannot bless“. Ich kann und will sagen: This song blessed me and blesses me.

Mehr kann ich auch gar nicht sagen. Hört ihn euch an. Lasst euch einspinnen. Lasst euch wiegen von diesem Lied, in dem Grausamkeit und Seligkeit, Heimatlosigkeit und tiefe Zuneigung vorbeiziehen wie Autos auf einer Straße vor der Tür, unterlegt vom Klang einer Gitarre, die sagt: „Es wird nicht alles gut, aber es wird alles und geht wieder vorbei.“ Und: “Lass zu, was dich liebt.”

Buckets of rain
Buckets of tears
Got all them buckets comin’ out of my ears
Buckets of moonbeams in my hand
You got all the love
Honey baby, I can stand

I’ve been meek
And hard like an oak
I’ve seen pretty people disappear like smoke
Friends will arrive, friends will disappear
If you want me
Honey baby, I’ll be here

Nachdem am Ende von “Shelter from the storm”, in den letzten Tönen, die Hand von der Gitarre abzurutschen scheint, könnte das Album eigentlich zu Ende sein. Es ist doch alles gesagt, geschrien, geflüstert, gebeichtet. Aber nein.

Die Gitarre setzt noch mal ein. Sehr bestimmt, mit einem Hauch Verspieltem. Und direkt das erste Bild wirft seinen Schatten über das ganze Lied: Eimer voller Regen, die eigentlich Eimer voller Tränen sind. Tränen, die einem „zu den Ohren wieder rauskommen“.

„Buckets of rain“ summiert noch einmal die vielen Emotionen des Albums in wenigen, fastschon kargen Strophen. Bitterkeit, Verlassenheit, Zuneigung und Hoffnung dämmern in den Versen, die wie Wassertropfen von den Saiten der Gitarre perlen. Unfertig wirkt der Song, verstreut alle Erkenntnisse des Albums, anstatt sie zu bündeln.

Ich denke, dass das meine ganz persönliche, nicht im Text oder in der Musik zu verortende Phantasie ist – aber sobald das Lied beginnt, sehe ich eine Person, die Eimer eine Treppe hinauf oder eine Straße entlang trägt. Über den Rand schwappen die Tränen, laufen herunter. Er trägt diese Eimer überall mit sich herum, alle anderen tragen auch welche mit sich herum, aber niemand kann die Eimer der anderen sehen. Nur wenn sie übervoll sind oder etwas über den Rand schwappt, sieht man die Tropfen, die über die Wangen gleiten.

Schön, traurig, meditativ. Der letzte Track bleibt hinter den meisten anderen zurück, macht nicht viel her. Aber mit seiner rustikalen Art bleibt er einem fast am längsten in Erinnerung. Sein Klang erstreckt sich auf die nächsten Stunden, wie ein Zauber. Eine Tür die ins Schloss fällt. Ein würdiger Schluss.

Zu dem Buch “Unsere Grundrechte” von Georg M. Oswald


Grundrechte.jpg „Die Grundrechte sind einfach, jeder kennt sie.
Sie heißen, kurz gefasst: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“

Das ist natürlich eine grobe, einfache Zusammenfassung. Aber auch wenn sich die Ideen hinter diesen Worten seit der französischen Revolution ausdifferenziert haben (klarerweise würde man, um eine der offensichtlichsten Wandlungen zu nennen, heute nicht mehr von Brüderlichkeit sprechen, weil diese geschlechtsspezifisch Wendung eine Hälfte der Menschheit ausklammert), es sind noch immer diese drei Bausteine, die das Grundgerüst jeder liberalen Gesellschaftsauffassung bilden.

Liberalität, Gleichberechtigung, Sozialität – die aktuelle Verbreitung dieser drei Grundsätze sind das Erbe und die gesellschaftliche Errungenschaft eines ganzen Zeitalters, ganz gleich wie problematisch und janusköpfig sie sich in einigen Fälle erwiesen haben und noch erweisen werden. Für viele, die an der Schwelle zum 21. Jahrhundert (oder sogar erst in diesem Jahrhundert) in einem westlichen Industriestaat wie Deutschland geboren wurden, sind diese Werte nahezu selbstverständlich; ihre Würdigung gilt leider fast schon als obsolet.

Doch wir leben nicht nur in bewegten Zeiten, sondern müssen uns auch eingestehen, dass diese Grundsätze eigentlich nur auf dem Papier existieren. Sie müssen ausgeübt werden, um über die Verschriftlichung hinaus zu existieren – oder alles, was auf ihnen gründet, verliert irgendwann den Boden unter den Füßen.

„An dieser Stelle ist mir nur wichtig, Folgendes festzuhalten: Wenn wir wollen, dass die Grundrechte in unserem Leben Bedeutung haben, müssen wir sie vom Kopf auf die Füße stellen. E geht nicht darum, Listen auswendig zu lernen und Rechte aufzuzählen, deren Inhalt uns nicht klar ist. Wir sollten wissen, was unsere Rechte sind. Und, wie gesagt, eigentlich wissen wir das bereits […] mir geht es in diesem Buch jedoch darum, zu zeigen, wie sehr die Grundrechte in unseren aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskursen wirken, wo sie infrage gestellt, eingeschränkt, übergangen werden und wo wir aufgefordert sind, für sie zu kämpfen. Sie sind das Regelwerk für eine andauernde gesamtgesellschaftliche Diskussion.“

Georg M. Oswald, Autor und Jurist, macht sich in seinem Buch genau daran: die Grundrechte vom Kopf auf die Füße zu stellen. In seinem kurzen, schlichten, aber doch bemerkenswerten und vor allem anschaulichen Buch, zeigt er anhand der ersten neunzehn Artikel des Grundgesetzes (die im Prinzip die Grundrechte jedes Bürgers, jeder Bürgerin darstellen und stark an den allgemeinen Menschenrechten orientiert sind), wie wichtig, knifflig und erhellend die Auseinandersetzung mit den Grundrechten ist.

Denn sie sind nicht nur ein Katalog der wichtigsten staatlichen Grundsätze, sie stiften zu vielerlei Überlegungen an, sowohl metaphysischer als auch praktischer Natur. Oswald führt einige dieser Überlegungen vor und wahrt dabei eine nahezu perfekte Balance: ihm gelingt ein erfreulich zugänglicher Mix aus rechtlicher und philosophischer Betrachtung und Analyse. Dabei bringt er die Grundrechte konsequent in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Debatten, mit Überlegungen der letzten Jahre, mit juristischen Fällen, Literatur, etc. Er stilisiert sich nicht einfach als Verfechter eherner Prinzipien, sondern bewegt sich, ambivalent, sorgsam und geduldig, durch die Materie, mit einem Auge für beides: Chancen und Probleme.

„Der große Nachteil der repräsentativen Demokratie besteht in der Herausbildung einer »politischen Klasse«. Im schlechtesten Fall ist sie geprägt durch Opportunismus, Fraktionszwang, Karrierismus und Lobbyismus.“

Er weist also sowohl auf die Dilemmata hin, die sich aus den Grundrechten (und den Apparaten und Strukturen, die diese gewährleisten sollen) ergeben, aber auch auf ihre Funktion als unabkömmliche Leitmotive. Seine Stellungnahmen sind differenziert und er hat den Mut, einige Punkte offen zu lassen; bei anderen wiederum die Weitsicht, doch einen klaren Punkt zu markieren. Er weist keine direkten Wege, führt aber die Leser*innen an vielerlei Themen heran, gibt ihnen einen Einblick in die grundsätzliche juristische Perspektive auf die Dinge und sagt auch, warum eine juristische Perspektive allein oft nicht reicht.

Kurzum: Dies ist eines dieser wunderbaren, besonnenen Bücher mit Aktualitätsbezug, denen ich viel mehr Leser*innen wünschen würde als dem ganzen polemischen Mist, der ständig im Gespräch ist. Ich fürchte ja, dass das Buch, weil es einfach „nur“ klug und anregend ist, wenig Aufmerksamkeit bekommen wird. Ich hoffe natürlich, dass ich mich irre. In jedem Fall: ich war dankbar, es lesen zu dürfen.

Umfassende Gelehrsamkeit in Erich Auerbachs Essays


Die Narbe des Odysseus Erich Auerbach – nach der Lektüre des Bandes bereue ich, diesen Namen nicht schon vorher gehört und nicht früher mit seinen Schriften Berührung gekommen zu sein. Das gemächliche und dabei umfassende Verständnis, das seine Prosa verströmt, die gediegene und doch sehr einfache Heranführung an bedeutende Sachverhalte und literarische Momente, der federleichte Witz, der eigentlich kein Witz ist, sondern eher so etwas wie Nachsicht, eine gewisse Behutsamkeit im Angesicht des Schönen, Besonderen – dies alles zeichnet Auerbachs Essays in diesem Band aus.

Auch einige Briefe sind abgedruckt, jeweils eingeleitet durch eine Darstellung der Beziehung zur angeschriebenen Person und die Umstände des Briefes. Enthalten sind Briefe an Thomas Mann, Walter Benjamin, Victor Klemperer und andere Weggefährten und Freunde.

Kernstück des Bandes ist in jedem Fall der Essay „Die Narbe des Odysseus“, nicht nur wegen dessen Länge, sondern auch weil er eine der gelungensten Analysen von literarischerer Strukturanalyse und dramaturgischem Aufbau darstellt, die ich bisher gelesen habe – ohne dabei entkernend oder erschöpfend zu wirken. Neben diesem Meisterstück gibt es Texte zu Montaigne und Proust, Giambattista Vico, sowie Dante & Vergil, wobei letzterer ebenfalls dazu geeignet ist, Faszination für einen alten Klassiker der Literatur zu wecken.

Wie viele andere Gelehrte musste Auerbach Mitte der 30er Jahre aus Deutschland emigrieren, nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung seinen Lehrposten aberkannt bekam. Er ging nach Istanbul, wo er den Krieg über blieb und sein Hauptwerk „Mimesis“ schrieb, und danach in die Vereinigten Staaten.
Die Einleitung von Matthias Bormuth stellt diesen Lebensweg umfassend dar und gibt auch eine Einführung in Auerbachs Werk und Denken.

Wieder einmal legt der Berenberg Verlag mit diesem Buch ein Schmuckstück, einen kleinen kulturellen Schatz vor; es ist eine Freude, diese Bücher zu lesen und sie in der Hand zu halten. Im Fall von Erich Auerbach ist es eine philologisch-intelligible, fein-humanistische Freude.