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Von Anziehung und Angst und allem dazwischen, das man sucht


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Es gibt eine Folge der Erfolgsserie “How I met your mother”, wo die beiden Figuren Robin und Ted ein Gespräch auf einer Party führen. Im Verlauf dieses Gesprächs sagt Robin: “If you have chemistry, you only need one other thing – timing. But timing is a bitch.” Zu Deutsch etwa: “Wenn Anziehung da ist, braucht es nur noch eine andere Sache: den richtigen Zeitpunkt. Aber es ist reine Glückssache, ob der sich jemals ergibt und ob man ihn dann auch erkennt/nicht versaut.”

An diesen Satz musste ich öfters denken, während ich Sally Rooneys zweiten Roman, der mir vielfach empfohlen wurde, las. Zunächst, auf den ersten Seiten, war ich skeptisch. Die Sprache gefiel mir nicht und die Story schien mir irgendwie vorhersehbar, die Charaktere auch; es hatte etwas von einem leicht gehobenen Jugendbuch. Aber bald schon kippte ich doch hinein, wurde teilweise sogar mitgerissen.

Am Ende bin ich zwar nicht hingerissen, aber doch davon überzeugt, dass “Normale Menschen” den Hype durchaus verdient hat. Nicht etwas, weil es ein literarisch hochbedeutendes Meisterwerk ist, sondern weil es ein Buch ist, das einer Vielzahl von Leser*innen nahe gehen, ihnen etwas geben kann. Es beschreibt nämlich im Kern ein Dilemma, mit dem sich die meisten Menschen, wenn sie jung sind, im Zuge ihrer ersten Liebe, einmal konfrontiert sehen: Was ist romantische Liebe, was muss und kann sie mir bedeuten, wie wichtig ist sie mir im Gegensatz zu allem anderen, was kann sie mir geben, das ich nirgendwo anders finde? Und: inwiefern unterscheidet sich guter Sex von echter Nähe? Wie hängt das zusammen, Anziehung und einander etwas geben können.

Es gibt ein, durch viele Hollywoodfilme und Geschichten geschürtes, Ideal der romantischen Liebe, das in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt. Wobei, schon bei Platon gibt es die Geschichte von den Kugelmenschen, die auseinandergerissen wurden und jetzt über die Erde wandern, um ihr Gegenstück wiederzufinden und sich wieder zu vereinigen. Mittlerweile ist dieses Ideal zwar etwas aufgeweicht, durch neue Beziehungskonzepte auf der einen und wissenschaftsorientiertem Zynismus (es geht ja immer nur um Fortpflanzung, das ist alles nur Hirnchemie) auf der anderen Seite, aber beides dürfte kaum den Gefühlen von Teenager*innen Einhalt gebieten, die sich das erste Mal verlieben, sich das erste Mal heftig und heimlich zu jemandem hingezogen fühlen.

Geschichten über diese erste Liebe, dieses erste Begehren werden also wichtig bleiben und viele Menschen werden etwas von/über sich darin wiederfinden. Rooney kombiniert diesen Aspekt noch auf sehr gelungene Art und Weise mit dem Faktor der Angst. Der Angst vor Verlust, der Angst vor Gewalt, der Angst vor der Zukunft, der Angst vor dem Scheitern. Alles Regungen, die, meist uneingestanden, unsere Entscheidungen immens beeinflussen. Rooney legt die Auseinandersetzung mit diesen Ängsten nicht direkt offen, aber unterfüttert damit klug die ganze Geschichte um Marianne und Connell.

Noch ein Wort zur Form: ich habe oben gemeint, dass Rooneys Buch kein literarisches Meisterwerk ist, möchte hier aber noch mal betonen, dass ich seine Form dennoch als sehr gelungen empfinde. Es ist unterteilt in Kapitel, die jeweils abwechselnd aus der Sicht der beiden Protagonist*innen erzählt werden und jeweils so und so viele Tage, Monate nach dem letzten Kapitel spielen (das ist dann die Kapitelüberschrift). Es ist beeindruckend wie souverän Rooney dabei lose Fäden wieder aufnimmt und neue Entwicklungen durch Verzögerung mit Spannung auflädt.

Mein Kritik oben hat daher auch mehr mit den Motivationen und Handlungen der Figuren zu tun, die zwar nie aus dem Ruder laufen, in manchen Abschnitten aber doch etwas “over the top” sind. Dann erscheint es so, als müsse jetzt noch mal ganz deutlich gemacht werden, wie diese Figur drauf ist, obwohl es eigentlich sonst eine Stärke des Buches ist, dass es subtil vorgeht und viele Dinge eher indirekt verhandelt. Es ist schade, wenn auch nicht gänzlich unverständlich, dass es dann an einigen Stellen zu nicht ganz schlüssigen Ausbrüchen kommen muss.

Alles in allem ist es aber ein Buch, das ich empfehlen kann.

Ein Meisterwerk langsam anschwellender Ungeheuerlichkeit


Der Schrei der Eule

Am 19. Januar dieses Jahres hätte die große Erzählerin Patricia Highsmith ihren 100. Geburtstag gefeiert. Sehr zu meiner Freude hat der Diogenes Verlag anlässlich dieses runden Jubeljahres einige Roman ihrer Stammautorin neu aufgelegt, darunter auch meinen persönlichen Favoriten “Der Schrei der Eule”.

Es ist schwierig, über Lieblingsromane zu reden, zu schreiben. Allzu oft neigt man (zumindest ich) aus Begeisterung dazu, die Vorzüge des Romans zu überzeichen und provoziert damit Widerspruch und Enttäuschungen. Ich werde also versuchen, das Buch und seine Vorzüge etwas sachlicher, als ich eigentlich will, zu beschreiben.

Gleich die erste Szene ist schon ungeheuerlich und eigentümlich beruhigend, ein Sinnbild für die Atmosphäre des ganzen Buches: Ein Mann beobachtet durchs Fenster eine junge Frau bei ihren Abendverrichtungen in der Küche. Schnell ist klar, dass der Mann die Frau nicht kennt, aber nicht die Absicht hat, ihr etwas anzutun. Auch sexuelle Motive hat er nicht, er will sie nicht nackt sehen oder sich ihr in irgendeiner Weise nähern. Ihr unkompliziertes, allem Anschein nach frohes Dasein beruhigt ihn einfach; es geht ihm besser, wenn er ihr zusieht und sich vorstellt, wie glücklich sie ist in ihrem Haus, mit ihrem Freund, mit ihrem Leben.

Robert, der Mann, ist schon öfter bei dem Haus gewesen, seitdem er einmal per Zufall aus der Ferne auf die Frau aufmerksam wurde. Jetzt zieht es ihn regelmäßig hin, auch wenn er sich jedes Mal schwört, dass es das letzte Mal ist. Die Frau und ihr Freund haben schon den Verdacht, dass manchmal jemand ums Haus schleicht, aber bisher ist er immer davongekommen. Dann, eines Abends, entdeckt sie ihn doch, reagiert aber völlig anders, als er erwartet hat …

Manche würden Highsmit Werke als pyschologische Romane, manche vielleicht sogar als Thriller bezeichnen, aber ihre besten Bücher sind vor allem eines: mustergültige Tragödien, nach antikem Vorbild. Ein paar kleine Vorzeichen und dann ein einziger Augenblick, ein Initialmoment, und schon ist etwas ins Rollen geraten, dass die Leser*innen über hunderte von Seiten in Atem hält. Die Schicksalhaftigkeit die den Wendungen und Zuspitzungen des Plots dabei anhaftet, hat gleichsam etwas Absolutes und etwas Ungeheuerliches – eine Kombination, in welcher der Ambivalenz des freien Willens, seiner Getriebenheit und Machtlosigkeit wunderbar Ausdruck verliehen wird.

Highsmith gelingt es immer wieder greifbare und doch nicht bis ins letzte durchschaubare Charaktere zu zeichnen, die einen mit ihren Entscheidungen und Denkmustern in den Wahnsinn treiben und zu denen man doch ein enges Band knüpft, um deren Entscheidungen man bangt und von deren Schicksal man sich schwer distanzieren kann. Tom Ripley ist der bekannteste dieser Charaktere, aber in “Der Schrei der Eule” warten auch mindestens drei von ähnlichem Kaliber.

Dabei ist der Roman eigentlich sehr unscheinbar, in vielen Bereichen, und läuft so langsam an, dass man glauben könnte, es werde zum Schluss vielleicht eine Eskalation geben, einen Turn, einen Kniff und das sei der ganze Plan. Stattdessen nimmt der Roman plötzlich nach einem Viertel des Textes Fahrt auf und auf einmal weiß man gar nicht mehr, wie es dazu kommen konnte, dass die Situation so zugespitzt ist und man fast genauso angespannt auf jede neue Entwicklung wartet, wie die Hauptfiguren.

In “Der Schrei der Eule” kann man einer großen Ungeheuerlichkeit beiwohnen, die mit einer ganz kleinen Ungeheuerlichkeit beginnt. Vielleicht nicht anders beginnen kann. Es beginnt mit einer Unschuld im Gewande eines Verbrechens und endet mit Verbrechen im Gewande der Unschuld. Es geht um die Einsamkeit des Menschen im Angesicht des Todes und um die fatalen Ideen, die sich der Mensch zurechtlegt, um die Einsamkeit zu überwinden. In jedem Fall: für mich ein Meisterwerk. So, jetzt ist der Überschwang doch durchgebrochen.

 

In einer unsicheren Welt …


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Die Welt ist unsicherer geworden. Nein, das stimmt eigentlich nicht, eigentlich ist sie sicherer geworden, zumindest für die meisten Menschen in Europa, vor allem in Westeuropa. Und doch erlebt gerade dieses Westeuropa, 70 Jahre nach dem letzten verheerenden Krieg, den eine populistische Partei anzettelte, eine neue Welle von Populismus, Antisemitismus und Extremismus.

Diese Übel wurden nicht, wie manche anmerken und propagieren (Propa(ganda)-gieren im wahrsten Sinne des Wortes), eingeschleppt. Sie haben ihren Ursprung in einem Gefühl der Machtlosigkeit, das trotz allem Wohlstand und aller Sicherheit in unseren Gesellschaften Einzug gehalten hat. Zwar leben wir in Europa in einer sicheren Welt, dank der medialen Omnipräsenz wissen wir aber, dass diese sichere Welt bereits wenige Zentimeter hinter unseren Grenzen enden kann. Und was im Moment noch draußen vor der Tür ist, kann plötzlich auch drinnen im Raum sein.

Wir leben also tatsächlich in einem “Königreich der Angst”. Noch nie konnte die Menschheit vor so vielen Dingen gleichzeitig Angst haben und noch nie konnte diese Angst gleichsam so signifikant und gleichsam irrational sein. Wir wissen Bescheid über das, was überall auf der Welt passiert und kennen auch die Gründe, warum es passiert – und warum auch wir davon betroffen sind/sein werden. Und doch sind die wenigsten Menschen in der Lage, etwas zu ändern oder sie zögern oder sie verdrängen schlicht, dass etwas getan werden müsste.

Tief drin kann der Mensch auf Angst nur auf zweierlei Weisen reagieren: Flucht oder Angriff. Resignation oder Wut. Und so nehmen einerseits die Schuldzuweisungen zu, andererseits die Ignoranz – die sich auch beide noch bedingen. Wie kann dieser Teufelskreis bezwungen werden?

Martha Nussbaum zeigt in ihrem großartigen Buch, wie die Mechanismen der Angst unser Denken und Handeln, unsere Politik und unser Weltbild durchdringen. Und sie zeigt auch auf, wie wir unseren Fokus verschieben und unser Denken und Fühlen neu ausrichten können. Jede/r sollte dieses Buch lesen!

Zu “Frankenstein” von Mary Shelley


Frankenstein Wer glaubt in diesem Buch lediglich einem Monster und seinem Schöpfer zu begegnen, der wird schnell eines Besseren belehrt werden. Vielmehr ist Mary Shelleys Klassiker ein Buch über eine zutiefst von ihrer ausweglosen Existenz gepeinigte und von dieser Ausweglosigkeit getriebene Seele – und damit auch eine Geschichte des Menschen. Frankensteins Geschöpf ist ein Prototyp, ein Stellvertreter für das Dilemma des homo sapiens, einer zum Denken und komplexeren Empfinden verdammten Kreatur.

„Frankenstein“ gehört zu den Büchern, die in der Literaturgeschichte mehr durch ihre Bezüge verankert sind und weniger, weil viele Leute sie noch lesen. Das ist traurig, denn dieses Werk (das die Autorin mit 19 Jahren schrieb, in jenem Jahr, in dem wegen eines Vulkanausbruchs der Himmel verdunkelt blieb) ist ein exzellentes Beispiel für jene Variante des Roman, in dem komplexe Fragen erschlossen werden, aber im Zuge eines konstanten, mit Elementen der Spannung vorangetriebenen Narratives und nicht, wie später in den Romanen der Moderne, durch Verfremdungen und Modifikationen dieses Narratives.

Natürlich gibt es jede Menge spannende Kontexte, bei denen das Buch nach wie vor regelmäßig herbeizitiert wird: von den Gefahren der künstlichen Intelligenz, über die Frage nach dem Zusammenhang von Glück und Schönheit/Attraktivität und Fragen der Willensfreiheit, bis zur generellen Frage, ob der Mensch sich erdreisten kann, schöpferisch in die Natur einzugreifen, ohne möglicherweise etwas zu erschaffen, das ihn zu zerstören vermag.

Die neue Edition bei Manesse enthält ein gutes Anmerkungsverzeichnis und ein kluges, wenn auch mitunter etwas zu determinierendes Nachwort von Georg Klein. Das kleine, gebundene Format lädt darüber hinaus dazu ein, das Buch mit sich herumzutragen und den Bericht des Dr. Frankenstein bei allen kleinen Gelegenheiten hervorzuziehen und ihm weiter zu folgen.

Zu Vladimir Nabokovs Debüt “Maschenka”


Maschenka

Und über diese Straßen, die jetzt so breit sind wie glänzende schwarze Meere, zu dieser späten Stunde, da die letzte Kneipe längst zugemacht hat, läuft ein Mann aus Russland, bar der Fesseln des Schlafs, in hellseherischer Versunkenheit umher; zu dieser späten Stunde über diese breiten Straßen Welten, die einander vollkommen fremd waren; kein Passant, sondern jeder eine völlig abgeschlossene Welt, jeder eine Ganzheit aus Wundersamem und Bösem. […] In Augenblicken wie diesen geschieht es, dass alles mythenhaft und unauslotbar tiefgründig wird und das Leben schrecklich und der Tod noch viel schrecklicher erscheint. Und dann, während man schnellen Schrittes durch die nächtliche Stadt dahineilt, durch Tränen nach den Lichtern blickt und in ihnen eine herrliche, blendende Erinnerung an vergangenes Glück sucht – etwas, das nach vielen Jahren öden Vergessenseins wieder emportaucht –, wird man plötzlich in seinem wilden Voranjagen höflich von einem Fußgänger angehalten und gefragt, wie er wohl in die und die Straße gelangen könne, gefragt in einem ganz alltäglichen Ton, aber in einem Ton, den man niemals wieder hören wird.

Debüts sind zumeist entweder sehr unbeschwert/einfach oder sehr ambitioniert (oft sind die Autor*innen des ambitionierten Debüts gezwungen, danach immer und immer wieder gegen dieses Debüt anzutreten, sie versuchen sich davon abzugrenzen, versuchen daran anzuknüpfen, führen die Grundmotive endlos fort, etc., während die Autor*innen der unbeschwerten Debüts meist mehr Entfaltungsspielraum haben und eine deutliche Entwicklung durchlaufen.) Autoren wie Virginia Woolf, Albert Camus oder Kazuo Ishiguro starteten ihre Karriere mit eher unbeschwerten Büchern – so auch Vladimir Nabokov, mit seinem Emigranten- und Jugendlieberoman „Maschenka“.

Inhaltlich dreht sich der Roman um zweierlei: er wirft zum einen Schlaglichter auf die Schicksale einiger Menschen, die gemeinsam in einer deutschen Pension in Berlin wohnen; ein großer Teil von ihnen russische Emigranten, die vor den Revolutionswirren geflohen sind. Darunter ein alter Dichter, der hofft nach Paris weiterreisen zu können, was sich wegen seiner Passsituation als schwierig erweist, zwei Tänzer und ein schwatzender Wichtigtuer, der sehnsüchtig auf seine Frau wartet, die ihm demnächst folgen soll.

Gleichzeitig schildert das Buch in Rückblenden Episoden aus dem Leben des Protagonisten Ganin, der ebenfalls in der Pension wohnt. Durch einen Zufall wird er mit einem Bild seiner ersten Liebe Maschenka konfrontiert und mit ihr kehrt nicht nur die Erinnerung an seine Heimat Russland, sondern auch der ganze Mythos einer Reihe von Tagen in seiner späten Jugend, eine Zeit voller erster Reize und Entdeckungen, Umbrüche und Hoffnungen, zurück. Der derzeit in Berlin gestrandete, unschlüssige und perspektivlose Ganin verliert sich in diesen Erinnerungen, die von Zeiten künden, in denen zumindest die Jagd nach Gewissheiten, nach der Erfüllung von Sehnsüchten, ihn immer begleitete, noch in ihm brannte. Das alles ist mit Maschenka verbunden, sie steht wie eine Ikone im Zentrum dieser Zeit.

Sie benutzte ein billiges, süßliches Parfum, das «Tagore» hieß. Diesen Duft, vermischt mit den frischen Gerüchen des herbstlichen Parks, versuchte Ganin jetzt noch einmal einzufangen; aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch, der einst mit ihr verbunden war.

Von allen Romanen Vladimir Nabokovs war mir „Maschenka“ am wenigsten und zugleich am ahnungsvollsten im Gedächtnis geblieben; vielleicht weil er einen recht simplen Topos hat. Jetzt, beim Wiederlesen, überraschte es mich, wie sehr mich die Intensität der ersten Lektüre wieder einholte und für wie gelungen ich diesen Roman mehr denn je halte. Natürlich hält er einem Vergleich mit den ambitionierteren Werken Nabokovs insofern nicht stand, als spätere Romane vielfach existenzielle Dilemmata und Situationen verhandeln, während es in „Maschenka“ hauptsächlich um relativ unspektakuläre Emigrantenschicksale und einige Gefühlswelten geht.

Auf der anderen Seite tritt in der Ausformung dieser Gefühlswelten und in der Schilderung einiger Szenen bereits jene Kunst Nabokovs zutage, die in meiner Ansicht nach von vielen anderen Autor*innen unterscheidet: die Kunst, die emotionalen Auswüchse, die gefühlsbedingten Tendenzen, und die damit einhergehenden Gedanken und Empfindungsräume seiner Figuren malerisch und gleichsam prägnant und nachvollziehbar darzustellen. Diese Verdichtungen, die Sensibilität mit Anschaulichkeit verbinden, werden mich immer zu Nabokovs Werken hinziehen, ebenso wie die Bravour mit der Figuren entwirft, die zumeist nur wenig illustriert werden, aber gerade deswegen authentisch wirken, weil Emotionen und Handlungen, und die Art wie andere auf sie reagieren und sie sehen, ihre Gestalt vor dem Leser entstehen lassen.

Obgleich es vielerlei verhandelt, ist „Maschenka“ ein unscheinbares Werk. Mancher Nebenfigur mangelt es trotz geschickter Pinselführung an wirklicher Tiefe, hier und da wirkt manches Plot-Element etwas forciert, aber das alles tritt zurück hinter ein paar innige und unnachahmlich präzise Schilderungen, in denen Nabokov die Andeutung und Auslotung komplexer und langwidriger Gefühlszustände gelingt. Allein für diese Passagen lohnt es sich, „Maschenka“ zu lesen. Und sei es nur, um wie Ganin eine Reise in die Ferne (und Nähe) der ersten Liebe, der eigenen Biographie anzutreten.

Bittersweet Life… Die Depressionen in meinem Kopf… – Über den Film “Prozac Nation”


“Some people, they like to go out dancing
And other peoples, they have to work, Just watch me now!
And there’s even some evil mothers
Well they’re gonna tell you that everything is just dirt
Y’know that, women, never really faint
And that villains always blink their eyes, woo!
And that, y’know, children are the only ones who blush!
And that, life is just to die!
And, everyone who ever had a heart
They wouldn’t turn around and break it
And anyone who ever played a part
Oh wouldn’t turn around and hate it!”
Aus -Sweet Jane- von Lou Reed

Es gibt so Filme, die einen ganz speziell bewegen, weil sie einem die Möglichkeit geben, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, Dinge zu verstehen und sich, vor allem, verstanden zu fühlen. So mancher Film geht ganz bewusst und bemüht in die Tiefe, versucht sie ganz bewusst visuell oder stimmungsmäßig zu erreichen und manch anderer Film IST auf seine Weise einfach tiefgehend, wenn jemand in der Geschichte seine eigene Tiefe findet. Für mich war Prozac Nation ein Film letzterer Art.

Im deutschen Fernsehen wird der Film ab und zu ausgestrahlt, dann allerdings unter dem Titel “Sex, Pillen und Lou Reed”. Der Kommentar dazu ist dann meistens, dass dieser Titel verwirrend sei und dem Film nicht gerecht werde. Nun, ich denke, dass beide Titel dem Film gleichermaßen gerecht und nicht gerecht werden.
“Prozac Nation – Mein Leben mit der Psychopille” stimmt in sofern, da dies der Titel des Buches ist (geschrieben von Elizabeth Wurtzel), das hier als Vorlage diente; aber er passt auch überhaupt nicht, denn der Inhalt wird damit in keinster Weise richtig angedeutet, da der Film die Geschichte der Krankheit und kaum den Teil der Heilung beschreibt.
“Sex, Pillen und Lou Reed” ist so gesehen der bessere Titel, da er den oberflächlichen Dunst der Geschichte beschreibt, in dem die Protagonistin sich selbst einkettet, aber er ist auch schlecht, weil er falsche Erwartungen weckt, dahingehend, wie der Film gesehen werden sollte.

Jeder kennt wohl das philosophische Problem der Absurdität des Lebens, welches wohl kein anderer Denker so treffend formuliert hat wie Albert Camus in seinem Essayband „Der Mythos des Sisyphos“ und welches er in seinen Romanen „Der Fremde“ und „Die Pest“ dargestellt hat. Dies Absurde, das entsteht wenn man im Leben nach Sinn und nach Antrieben sucht: manchen drückt diese Sinnlosigkeit nur ab und zu im Schuh – und manche drückt sie vehement in die Knie und sprengt ihnen den Kopf. Man kann das Depression nennen; oder auch einfach Angst.

Dieser Film beschäftigt sich mit dieser Angst, mit den Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man seinen Stimmungen ausgeliefert ist – “Wieviel von unserem Glück hängt davon ab, das wir uns einfach glücklich fühlen” hat Tucholsky einmal geschrieben und in der Tat können nur wenige, die es nicht erlebt haben, die Komplexität der Situation nachvollziehen, gleichsam Leben zu wollen und doch außer diesem Willen gar nichts zu haben, was ihn unterstützt, weil alle Gefühle nur so dahinplätschern und sich in den Katakomben der Gedanken und Sehnsüchte verlieren. Also folgt man den haltlosesten Sehnsüchten, um irgendwas zu haben. “I hate it when people tell me to just be happy. So you think i chose to just be depressed?

“Wenn andere Leute sich schneiden, dann machen sie halt ein Pflaster drauf – ich blute weiter. […] Irgendwie muss man doch funktionieren.”
Lizzies Suche nach dem Absoluten im Schreiben, in der Liebe, der Poesie, der Musik – es ist eine Suche, die seit jeher die verschiedensten Menschen angetreten haben. Das Gefühl, dass da mehr in einem und in der Welt sein müsste, das alles immer auf einer Höhe bleiben müsst, der Höchsten – ist das ein Trugschluss, eine Sucht, eine Obsession; ohne Ziel oder Halt? Eine Sucht ist es auf jeden Fall, aber eine, die keine andere Droge kennt als die eigenen Gefühle und Vorstellungen.

Prozac Nation ist die Geschichte einer Frau, die talentiert ist, die wunderbar über Lou Reed und Bruce Springsteen schreiben kann (vor allem über Springsteen) nach Havard kommt und schon mit 19 für den Rolling Stone schreibt und die trotz all dem weder mit sich noch mit ihren Mitmenschen zufrieden ist. Sie verlangt viel von ihnen (- zu viel?). Sie verlangt viel vom Leben und von sich; sie will ein Genie sein – um jeden Preis?
Auf jeden Fall erleidet sie mit ihrem Leben Schiffbruch und betäubt den Schmerzüberschuss mit Obsessionen und radikalen Gefühlswallungen und versucht immer wieder sich mit ganzem Herz in etwas hineinzustürzen, dass sie erfüllen und heilen kann. Dank Christina Ricci ist diese Figur gleichzeitig zerrissen, lebendig und todkrank; eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Und ein beeindruckender, gefühlsechter Film, ein Film wie ein Song von Lou Reed, der einem dunkel und hell im Ohr herumflüstert.

Link zum Film: http://www.amazon.de/Prozac-Nation-Mein-Leben-Psychopille/dp/B002ZE4C8K/ref=sr_1_1?s=dvd&ie=UTF8&qid=1378796513&sr=1-1&keywords=Prozac+Nation#

*Diese Rezension ist bereits teilweise auf Amazon.de erschienen.