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Kein Masterpiece, trotz mitreißender Geschichte


Für die Ewigkeit

Helmut Krausser hat in einer Vielzahl von Büchern bewiesen, dass er sich auf die richtige Mischung aus Melancholie und Drastik versteht, die seine Plots nicht nur zu spannenden und unterhaltsamen Geschichten, sondern zu erfahrbaren Auslotungen von Gefühlslagen und Schicksalen macht (darüber hinaus ist er ein großartiger Dichter, seine Lyrik, mitunter wunderbar bis schrecklich komisch, dann wieder meditativ, existenziell und alles dazwischen, ist jeder/m ans Herz zu legen).

Mit dieser Geschichte einer verbotenen Liebe im Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts ist ihm allerdings nicht eines seiner Meisterstücke geglückt. Zwar sind hier nach wie vor der Witz und die sprachliche Direktheit vorhanden, die viele seiner besten Bücher auszeichnen, aber das Setting und die Figuren nehmen sich, trotz der Bewegtheit, die sie dann und wann verströmen, ein bisschen sentimental und überzogen tragisch aus. Man kommt sich vor wie in einem erfolgreichen, aber schnell an seinen Grenzen gelangenden Fernsehfilm, in dem Historie, Romantik und Spannung zusammengebracht werden sollen.

Natürlich fälle ich dieses harte Urteil von der hohen Warte aus, auf der Kraussers beste Werke zu finden sind. Objektiv betrachtet hat die schnörkellose, aber dennoch immer wieder feingliedrige Erzählung durchaus viel für sich und verdient meinen Tadel wohl nicht im vollen Umfang. Dennoch: dieses Werk hat mir nicht, wie so manch anderes von Krausser, neue Horizonte und Untiefen eröffnet (oder um die Ohren geschlagen). Es ist ein in sich gelungenes Zelebrieren des eigenen Plots, auch gut für eine schnelle und spannende Lektüre, aber keine Offenbarung. Krausser kann mehr.

“Die man nicht sieht”, der neue Roman von Lucía Puenzo


die man nicht sieht Meine erste Begegnung mit Lucía Puenzo hatte ich, als ich ihren Roman “Das Fischkind” las, ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckte. Später sah ich dann ihren Film “XXY”, den ich nach wie vor großartig finde – eine einzigartige Coming-of-Age-Geschichte, verstörend und einfühlsam.

“Die man nicht sieht” ist im Gegensatz zu diesen beiden eigenwilligen Werken fast schon konventionell (in seinem Plot, in seiner Narration) – was nicht heißt, dass nicht die übliche Finesse der Autorin zu erkennen wäre. Sie erzählt schnörkellos und beweist durchgehend ein Gespür für die Fragilität ihrer Figuren, ihr Nachgeben und ihr Drängen. Gerade bei einer Geschichte über drei Kinder kommt dieses Gespür voll zum Tragen.

Ein weiteres Talent von Puenzo ist die Verbindung einer spannenden Erzählung mit sozialkritischen Ansätzen. In “Die man nicht sieht” ist diese Verbindung besonders geglückt. Hier wird die Kluft zwischen arm und reich, zwischen dem Überfluss und der Armut – die in südamerikanischen Ländern längst schon gewaltige Ausmaße erreicht hat – am Beispiel einer Bande von einbrechenden Kindern geschildert, die den Reichen gerade so viel wegnehmen, dass sie es nicht bemerken.

Diese Geschichte wird im Verlauf des Buches durchaus noch recht brutal und Puenzo kombiniert die Sympathie für die Figuren geschickt mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit. Der Mix passt: “Die man nicht sieht” ist ein spannendes, realistisches und gleichsam aufrüttelndes Portrait südamerikanischer Gesellschaften, fesselnd und erschütternd, direkt und doch mit dem richtigen Maß an Entfaltung in den Beschreibungen. Lesenswert.

Zu Julio Cortázars Erzählung “Die Katzen”


Die Katzen Wer ihn noch nicht kennt, dem/r rate ich, das schleunigst zu ändern. Vor allem, wenn man für jene besondere Art von Faszination anfällig und empfänglich ist, die phantastische, irreale und dennoch fesselnde Elemente erzeugen, die als bedrohliche, unheimliche und irritierende Momente innerhalb einer Erzählung eingesetzt werden und die Realität gleichsam umdeuten und hinterfragen.

Julio Cortázar hat eine Handvoll Erzählungen geschrieben, die ich wirklich liebe, die mich immer wieder begeistern (nicht zu vergessen: jenen irren Roman „Rayuela“, der gleich Joyce „Ulysses“ eine lange (möglicherweise nie endende) Vorlaufzeit braucht, bevor man ihn wirklich in Angriff nimmt, außerdem “Der Verfolger” eine der schönsten Novellen über Musik, die ich kenne). Die meisten davon sind in dem ersten Band der gesammelten Erzählungen bei Suhrkamp, „Die Nacht auf dem Rücken“, zu finden.

Viele dieser Texte arbeiten mit zwei Arten von erzählerischer Technik. Zum einen mit einer atmosphärischen Beschreibungskunst, die einem das Geschilderte nah an die Haut heranträgt. Cortázar ist kein Erzähler, der sich nur an seinen Ideen erfreut und dem es genügt, sie zu präsentieren, auszuwalzen – er will, dass die Lesenden die emotionale Komponente seiner Texte abbekommen, ja, sie ist oft die wahre Kraft, die in dem Text wirkt und die zweite Komponente als Vehikel benutzt.

Diese zweite Komponente sind die geschickt eingeflochtenen, immer tiefer verwobenen Irritationen, die aus der scheinbaren Wirklichkeit (in der man den Text zunächst verortet glaubt) eine Anderswelt machen, eine alternative Wirklichkeit, die sich bei Cortázar aber nicht als fremd entpuppt, sondern nur einen unscheinbaren Hauch entfernt ist und oft in einem kleinen Schritt, mit einer Bemerkung, in den Text eintritt und alle Spielregeln ändert. Diese Verschiebung ist immer wieder großartig zu beobachten und vollzieht sich auf so unterschiedliche Arten und Weisen, dass sich die Überraschung und Bewunderung angesichts dieses Kniffs nicht abnutzt; die Gewänder und Pointen, Ausgangspunkte und Verläufe sind vielfältig, geistreich, teilweise würde ich nicht zögern sie als genial zu bezeichnen.

Die aus dem Quasi-Nachlass stammende Erzählung „Die Katzen“ (in dieser Edition übersetzt von Henriette Terpe und Frank Henseleit, allerdings zweisprachig abgedruckt) ist ein Text aus dem Jahr 1948, kurze Zeit bevor die ersten wichtigen Erzählungen publiziert wurden. In ihr wird man keinen Tropfen jener erzählerischen Magie nach Art der zweiten Komponente finden – es gibt keine phantastischen Elemente in dieser Erzählung. Dafür tritt der erste Aspekt noch stärker hervor und die typische Aufgeladenheit einer Cortázar-Erzählung wird hier allein über den Aspekt des Emotionalen erreicht (die ja in ihren Extremen auch etwas Phantastisches, Transzendentes hat).

Schauplatz ist das Haus einer argentinischen Familie in den 40er Jahren. Carlos María wächst zusammen mit seiner Cousine im Haus seiner Eltern auf; ihre Eltern sind tot, wobei die Geschichte ihrer Herkunft nicht ganz klar ist. Die beiden Kinder spielen Verstecken, Fangen und Cowboy und Indianer – letzteres ein Spiel, das Carlos María bevorzugt, weil er seine Cousine dabei an den Marterpfahl binden kann, wo sie ihm ausgeliefert ist.
Schon zu Anfang wird klar, dass „Die Katzen“ die Geschichte einer Obsession werden wird, eine starke Anziehung zwischen den Heranwachsenden im Mittelpunkt steht. Im weiteren Verlauf wird zunächst das Widerstreben behandelt, das die beiden in Bezug auf ihre Zuneigung zueinander an den Tag legen. Die Mutter hält sie, kaum sind sie dabei in die Pubertät einzutreten, möglichst fern voneinander – und bald gesellt sich auch ein neuer Verehrer der Cousine dazu …

„Die Katzen“ ist vordergründig eine Geschichte vom Erwachsenwerden, mit einen leichten Hauch von Tabu versehen, der dann und wann hervorblitzt. Vielmehr als um die verbotene Liebe zwischen den gemeinsam aufgewachsenen Kindern, geht es um die, als prekärem Einschnitt empfundene, allgemeine Aufwallung des Begehrens; jenen Wunsch sich mit jemandem zu balgen, spielerisch wie einst als Kind, aber mit einem unterschwellig-heftigen Drang, der auf irgendeine Art und Weise „weiter“ gehen will. Keusche Verehrung und rasender Nähe- und Besitzwunsch prallen aufeinander, zusätzlich verstrickt in die sozialen Konventionen und die sich täglich wandelnden Verhältnisse, sowie die unklaren Dimensionen, als die sich die Gefühle der anderen Menschen darbieten und die man nicht aufdecken kann, nur schwerfällig ausdeuten.

Diese emotionale Achterbahnfahrt, mit all ihren kleinen Momenten, Wendepunkten, Erschütterungen, fährt Cortázar in seiner Erzählung ab, zeichnet jede neue Facette gekonnt und unreißerisch nach. Man kann den beiden Übersetzer*innen und Nachwortschreibenden nur danken, dass sie diesen Text ausgewählt haben (sowie dem Lilienfeld Verlag, dass sie ihn publiziert haben), denn in ihm wird eine weitere Qualitätsfacette von Cortázars Werk greifbar. An alle daher die Empfehlung – lesen!