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Zu “Fremd in ihrem Land – Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten” von Arlie Russell Hochschild


Fremd in ihrem Land “»Als ich ein kleiner Junge war, hielt man am Straßenrand den Daumen raus und wurde mitgenommen. Hatte man einen Wagen, nahm man Anhalter mit. Wenn jemand Hunger hatte, gabst du ihm zu essen. Es existierte eine Gemeinschaft. Wissen Sie, was das alles untergraben hat?« Er machte eine Pause. »Der Staat«”

Der Feind des Mitte-West-US-Amerikaners ist der Staat. Die Argumentation: Wer sollte besser wissen, wie man das Land bewirtschaftet, die Gesellschaft aufbaut, als die Leute vor Ort – und die Leute vor Ort sind zwangsläufig an verschiedenen Orten unterschiedlich, vor allem in einem so großen Land. Wie sollte also eine Regierung alle verstehen und bei ihren Entscheidungen alle Bedürfnisse berücksichtigen können? Diese Argumentation rührt an einem tatsächliches Problem innerhalb der Strukturen der Supermacht – doch konstruktive Ideen zur Lösung oder Überwindung finden sich nirgends. Stattdessen führen die Reibungen zu immer größeren Spannungen.

Das ferne Regierungsvolk in Washington ist in den letzten Jahren zum fixen Feindbild vieler US-Amerikaner geworden. Dieser Hass ging sogar soweit, dass sie einen unfähigen Mann zum Präsidenten wählten, der sich gegen das herrschende Establishment zu stellen schien, sich zumindest so inszenierte. Donald Trump kommt zwar nicht aus den elitären Kreisen der Washingtoner Politikerkaste, aber er kommt dafür aus einer anderen Kaste: der Kaste der Reichen und Mächtigen – und diese Kaste ist, polemisch runtergebrochen, das wahre Problem. Warum das niemand erkennt, warum sich Menschen bei politischen Fragen gegen ihre eigenen Interessen entscheiden?

Arlie Russell Hochschild ließ die Frage nicht los, wie ein so großer Unterschied zwischen ihren Ansichten und den Ansichten rechts-konservativer Amerikaner bestehen konnte, wo sie doch alle Zugang zu denselben Fakten hatten, zumindest theoretisch. Es musste da etwas geben, was diese Menschen davon abhielt, einige elementare Wahrheiten zu begreifen, mit ihrer eigenen Lebenssituation in Verbindung zu bringen.

“Unsere Polarisierung und die Tatsache, dass wir uns zunehmend schlicht nicht kennen, macht es allzu einfach, uns mit Abneigung und Verachtung zufriedenzugeben.”

Also reiste sie nach Louisiana und traf die Leute von dort, hörte sich ihre Sorgen und Meinungen an, versuchte die Gefühle hinter den politischen Entscheidungen zu verstehen. Denn letztendlich geht es immer darum: um Gefühle. Der Mensch ist kein rein rationales Wesen, ansonsten würden wir längst in der besten und emotionslosesten aller Welten leben. “Das Rationale am Menschen sind seine Einsichten, das Irrationale, dass er nicht danach handelt”, schrieb Friedrich Dürrenmatt.

Was fand Hochschild in Louisiana vor? Kein Volk von kruden Verschwörungstheoretikern, keinen überbordenden Hass, sondern vor allem: Wut, Armut, Perspektivlosigkeit. Hier regiert nicht Washington, hier regiert, wie mittlerweile an fast allen Orten des Planeten, der Kapitalismus. Chemiefabriken verseuchen das Wasser, es gibt kaum Arbeit, das Konkurrenz- und Klassendenken entfremdet die Leute einander. Wenn es keine Perspektiven gibt, sind Menschen für vieles empfänglich, was nach einer neuen Perspektive aussieht oder zumindest nach einer besseren innerhalb der alten. Bauernfänger haben leichtes Spiel – nicht weil die Bauern dumm sind, sondern verzweifelt und aus einem System ausgeschlossen, das nicht mit Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit arbeitet, sondern in dem Gier und Überfluss als Strom die Rädchen antreiben. Einen System das viel verspricht und dafür unter der Hand Dinge braucht und einfordert, die es wohlweislich verschweigt. Die Bauernfänger kommen und verbinden clever nostalgische Ideen mit großen Anklagen, leeren Beistandsheucheleien – und festigen dadurch den Einfluss, die Position ihres Systems, ihre eigene Stellung darin.

“Eine Wirtschaftsagenda für Reiche wird mit sozialen Fragen als Köder verbunden. Die Forderung nach Abtreibungsverbot, Recht auf Waffenbesitz und Schulgebet bringt Mike und seine gleichgesinnten Freunde dazu, eine Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ihnen schadet. […] Sie stimmen dafür, dass der Staat sie in Ruhe lässt – was sie kriegen, sind allgegenwärtige Kartelle und Monopole, von den Medien bis zur Fleischindustrie.”

Privilegien. Albert Camus hat einmal richtig angemerkt, dass es nie um etwas anderes geht oder ging. Das Problem Privileg lässt sich in den einfachsten und komplexesten Problemen verorten. Wir teilen uns diesen Planeten. Wer darf Welches Stück davon haben; Wer darf Was tun? Sollte? Kann?

Privilegien müssen, einmal gesichert oder bekommen, verteidigt werden. Um jeden Preis. Am besten in dem man die restlichen Anwärter gegeneinander ausspielt. Die armen Leute in den USA werden schon sehr lange gegeneinander ausgespielt, mit immer neuen Finten. Das hat zu dramatischen Verwerfungen geführt, die dieses Buch wie rote Fäden durchziehen. Ein Buch, das mit einigen Klischees aufräumt, auf eine nicht zwingende, aber anschauliche Weise, nah am menschlichen Aspekt und Faktor.

Kapitalismus in dem Stil, wie er heutzutage betrieben wird, bedeutet genau das: Entfremdung. Geld mag in rauen Mengen Sicherheit geben, mag im Überfluss ein Vertrauen verströmen: Ich und viele andere Menschen werden das nie erleben – wir werden nie dieses rauen Mengen besitzen. Und in dem derzeitigen System ist immer weniger Platz für Menschen, die es dahin schaffen, zu dem großen Geld. Der Platz an der Sonne ist schmal und auch mit ehrlicher Arbeit längst nicht mehr annähernd zu erreichen. Ein System, das so wenig Sicherheit für nur so wenige verspricht, das soll das beste System sein? Ich denke nicht.

“Fremd in ihrem Land” ist ein sehr empfehlenswertes Buch, weil es am kleinsten Beispiel eine exemplarische Situation unserer Zeit untersucht. Einiges hätte in der Ausführung etwas deutlicher sein können, aber Hochschild hat klugerweise (im Gegensatz zu mir) auf eine zu starke Politisierung und Positionierung verzichtet; sie hält sich nicht ganz raus, aber balanciert gut aus, was sie zu hören bekommt und was sie selbst noch ergänzt. Alles in allem: ein Lichtblick in der Welt des tagtäglichen Gegeneinander, der tiefe Schluchten offenbart – über die Brücken führen, die man wohl derzeit nur einzeln, mit viel Empathie bewaffnet, überqueren kann.