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Warten auf den Fatalismus, Italien 1939/40


9783949203077

„Es ist merkwürdig, in welcher Eintracht hier alle die Möglichkeit eines Krieges gar nicht erst in Betracht ziehen. Ich meine nicht nur die Bevölkerung, die die Fakten nicht kennt, sondern auch Kenner der Materie. (Venedig, 16. Juli 1939)“

Die Schriftstellerin Iris Origo wurde in England geboren, als Tochter eines reichen amerikanischen Industriellen und einer irischen Adeligen. Von 1927 bis zu ihrem Tod lebte sie jedoch mit ihrem Mann in Italien, in Chianciano Terme nahe Montepulciano (in der Toskana) und in Rom.

Die meisten ihrer Werke sind historischer Natur und beschäftigen sich mit italienischen Persönlichkeiten, u.a. Francesco Datini und Giacomo Leopardi. Bekannt wurde sie international durch ihr Toskanisches Tagebuch, ein Bericht aus den Kriegsjahren 1943/44, der zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, dann aber doch 1947 erschien.

Unveröffentlicht blieben zunächst, obwohl bekannt, Origos Aufzeichnungen aus den Jahren 1939/40; sie erschienen erst nach ihrem Tod, vermutlich weil sie unspektakulärer waren als die Schilderungen aus den späteren Kriegsjahren.

Es ist aber gut, dass diese Aufzeichnungen doch noch erschienen sind und auch in einer Übersetzung von Anne Emmert (mit einem Vorwort von Lucy Hughes-Hallett und einem Nachwort von Katia Lysy, der Enkelin von Origo) auf Deutsch vorliegen. Es fehlt ihnen beileibe auch nicht an Dramatik, ganz im Gegenteil: die Leser*innen werden Zeug*innen der aufgeladenen Atmosphäre am Vorabend des Krieges, der in Italien alles andere als sicher und gewollt erscheint.

Vielmehr schildert Origo bei verschiedenen Gelegenheiten das Bangen der Land- und Stadtbevölkerung um ihre Söhne und den Frieden, oft gipfelnd in dem Wunsch, nicht in den „deutschen“ Krieg hineingezogen zu werden. Überhaupt hat ein Großteil der Italiener anscheinend nicht viel für den deutschen Verbündeten übrig (wenn auch nicht viel für die Franzosen und Polen, noch etwas mehr für die Engländer, zumindest zunächst), selbst wenn man gemeinhin vom italienischen Faschismus, mal mehr mal weniger glühend, überzeugt ist. Die meisten hoffen darauf, dass Mussolini seine Forderungen ohne Gewalt durchsetzen kann und Italien seine Unabhängigkeit zelebrieren darf, aber nicht verteidigen muss.

Origo schildert vor allem Gespräche mit Freund*innen und Zufallsbekanntschaften, gibt Zeitungs- und Rundfunkberichte wieder (mit ihrem teilweise verstörenden Mischmasch aus Informationen, Desinformation und Propaganda) und versucht die Stimmung in der Bevölkerung zu deuten. Ihre Darlegungen sind meist kurz und sachlich; die Persönlichkeiten und Zusammenhänge, auf die sie referiert, werden direkt am unteren Seitenrand erläutert.

Immer wieder findet Origo, trotz der dramatischen Entwicklung und ihrer eigenen Verwicklung in die Geschehnisse (ihr Patenonkel ist in der amerikanischen Botschaft tätig, ihre Mutter englische, sie selbst amerikanische Staatsbürgerin), auch Zeit für Anekdotisches, bspw.:

„Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.“ (15. Mai 1940)

„Eine seltsame Zeit des Wartens“ kann wohl nicht bedenkenlos allen Leser*innen empfohlen werden, ist aber, so wage ich zu behaupten, auch kein gewöhnliches Tagebuch. Vom März 39 bis Juli 40 (danach schloss sich Origo freiwillig dem italienischen roten Kreuz an und begann, wie oben erwähnt, erst wieder 1943 mit ihren Aufzeichnungen) gibt es uns einen ziemlich guten Einblick in die Geisteswelt und die Gefühle eines Teils der italienischen Bevölkerung – und zeigt auf, wie unklar, verwirrend und wechselhaft diese Monate für viele Menschen in Italien waren, wie sehr das erste Kriegsjahr dort nicht allein von Begeisterung und Eifer, sondern Misstrauen, Hoffnung und Zweifeln begleitet war. Am Ende obsiegt, so möchte man pointiert und zynisch schreiben, nicht der Faschismus, sondern der Fatalismus in den Herzen der Bevölkerung.

Zu einer Auswahl aus Katherine Mansfields Tagebüchern


Fliegen wirbeln tanzen Eines der ersten Bücher, die ich auf einem Flohmarkt kaufte, war eine vollständige Ausgabe der Tagebücher von Katherine Mansfield, herausgekommen bei der Deutschen Verlags Anstalt 1975. Hätte ich sie damals doch aufmerksamer studiert und nicht nur nach Anekdoten und Frivolitäten abgesucht! Hier hätte ich vielleicht, in der Jugend, Linderung für die Auseinandersetzungen mit meinen Gefühlen gefunden.

Denn derlei begegnet einem bei Katherine Mansfield in Hülle und Fülle: ein Bekenntnis der Gefühle, vom tiefsten Sturz & härtesten Boden bis zur großen Leichtigkeit & hohem Flug. Der Titel des Auswahlbandes bei Manesse „Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben“ ist daher gut gewählt, er fängt ein wie bewegt diese Notate sind – wenngleich die vier Begriffe vielleicht etwas zu positiv besetzt sind.

Das Leben der Katherine Mansfield war kein leichtes, nicht nur, weil sie mitunter rücksichtslos gegen sich selbst war, sondern auch weil sie ein freieres und ungezwungeneres Leben führen wollte, als es den meisten Frauen damals möglich war. Immer wieder versuchte sie „ihrer Seele das Sklavische auszutreiben“, geriet dabei aber in Konflikt mit den Erwartungen anderer und auch mit ihren eigenen Ansprüchen, deren steten Wandel man in den Tagebüchern miterleben kann.

„Solange Menschen leben und sterben, werden diese Stücke relevant sein“, hat Harold Bloom über die Stücke Shakespears gesagt. Und solange Menschen zwischen Konventionen und Gefühlen, Ideen und Enttäuschungen ihr Dasein fristen, solange werden die Tagebuchaufzeichnungen von Mansfield von Bedeutung sein und vielleicht Trost spenden, vielleicht auch nur zeigen, wie recht man hat sich „verwundet zu fühlen von Umständen, die nicht vergehen wollen.“

Zu “Ich erwarte die Ankunft des Teufels” von Mary MacLane


Ich erwarte die Ankunft „Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.“

Auch der Titel eines Spielfilms aus dem Jahr 2019 wäre wohl ein brauchbarer Titel für dieses wiederentdeckte Werk von Mary MacLane aus dem Jahr 1902 (übersetzt und mit einem Nachtwort von Ann Cotten + einem Essay von Juliane Liebert) gewesen: „Portrait einer jungen Frau in Flammen“.

Denn nicht mehr und nicht weniger ist dieses Buch: eine flammende und knisternde, sich selbst in Ansätzen verzehrende und auf alle Bestandteile der Welt übergreifende Selbstverortung einer jungen 19jährigen, die sich zu größerem als dem vor ihr, in Landschaft und Gesellschaft, ausgebreiteten Dasein berufen fühlt und schier platzt vor Bedürfnissen und dem Wunsch nach Erfahrungen, die es mit der Spannung, den Bewegungen in ihrem Geist aufnehmen können.

„In mir trage ich den Keim eines intensiven Lebens. Wenn ich leben könnte, und wenn es mir gelingen könnte, mein Leben aufzuschreiben, würde die Welt seine schwere Intensität spüren.
Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. […]
Kann ich sein, was ich bin – kann ich ein seltsames, seltenes Genie besitzen und doch mein Leben verborgen in diesem ungehobelten, verzerrten Städtchen in Montana fristen?“

In Tagebuchform breitet Mary MacLane vor uns ihr Leben aus. Wobei, es ist weniger ihr Leben, es sind vielmehr ihre Vorstellungen, die in ihrer überbordenden Art nur dann und wann auf den schmalen Raum zurückweisen, der ihr im ländlichen Montana im Jahr 1901 zum Leben gegeben ist und den sie mit allen Zügen ihrer Philosophie und ihrer Gedanken und Hoffnungen zu verlassen sucht.

Fast phänomenologisch muten ihre teilweise ins Gewaltige gehenden, dann wieder manisch an einem kleinen Gegenstand oder Gedanken hängenden Eintragungen an, manchmal erscheinen sie eher wie Gesänge, ja, wie ein Anti-Walt-Whitman-Gesang, ein Gesang von einem Ich, das sich nicht auflöst und niederschlägt in den amerikanischen Städten und Landschaften, sondern diese mit seinem Geist, seinem Wesen übertrumpfen, überflügeln will.

„Sie dürfen das Bild vorne in diesem Buch betrachten und bewundern. Es ist das Bild eines Genies – eines Genies mit einem guten, starken, jungen Frauenkörper, – und im Inneren des abgebildeten Körpers befindet sich eine Leber, eine MacLane-Leber, von bewundernswürdiger Perfektion.“

In mancherlei Zügen habe ich mich an Emmy Hennings „Brandmal“ oder auch, sehr viel entfernter, an manche Passagen bei Djuna Barnes erinnert gefühlt. Wobei der Vergleich mit Hennings noch am ehesten greift, da in beiden Büchern das Ausleben der Selbstbeschreibung/-erschließung, der Versuch, das eigene Innenleben als das Leben, das Lebendige schlechthin abzubilden und zu propagieren, bis zur Erschöpfung betrieben wird.

In MacLanes Tagebuch noch erschöpfender als bei Hennings. Die ausufernden und gleichsam immer wieder um fixe Ideen kreisende Wucht des Textes trägt dabei durchaus repetitive, beschwörende Züge, als würde die Autorin ein einziges langes Plädoyer zur Verteidigung ihrer Gefühle und Ansprüche halten und dabei eine eigene, ciceronische Rhetorik entwickeln. Auch manche Motive sind in diese Wiederholungen eingespannt: ihre Leber bspw., die sie immer mal wieder erwähnt und der Teufel, den sie als eine Art besseren Schöpfer inszeniert und dem sie sich, teils spielerisch, teils ernsthaft, andient; auf dessen „Ankunft“ sie wartet, da mit ihm, so hofft sie, eine neue Freiheit in ihr Leben Einzug hält.

„Die Welt besteht hauptsächlich aus nichts. Davon kannst du dich überzeugen, wenn ein bitterer Wind deine falschen Vorstellungen davongefegt hat.“

Es gibt großartige Passagen, zum Beispiel einen Abschnitt, in dem sie in vollster Zufriedenheit von ihrem Essen, einem Steak und ein paar Zwiebeln, erzählt und in denen auch eine kompromisslose Komik durchscheint. Letztlich steht im Zentrum dieser zweihundert Seiten, inmitten dieses geballten Manifests von der Notwendigkeit einer Perspektive, einer Aussicht auf etwas, jedoch die Verzweiflung. Wo MacLanes Schreiben ein Feuer ist, rauchen Verzweiflung und Einsamkeit daraus hervor – und sind gleichsam das Brennmaterial, an dem sich das Feuer entzündet.

Ist das Buch als Dokument oder auch als Literatur wertvoll, diese Frage könnte sich für manche Leser*innen stellen, die mit einer zweihundertseitigen Rekapitulation der eigenen Bestimmung im Jahr 1901 nicht viel anfangen können. Ich glaube, man muss tatsächlich die poetischen (und teilweise die humoristischen) Aspekte des Buches schätzen (lernen), um wirklich Genuss bei der Lektüre zu empfinden.

Aber natürlich ist das Werk auch ein Dokument und muss auch als solches gesehen werden – als Portrait eines Individuums, geboren in die Zwänge einer Zeit und einer Gesellschaft, mit ihren Idealen und Vorstellungen, das versucht, seinen Status als Individuum auf irgendeinem Weg Geltung zu verschaffen, hier vor allem durch die Niederschrift, durch die Gestaltung des eigenen Mythos. Ein Thema, das auch in unserer Zeit nichts von seiner Sprengkraft eingebüßt hat, sondern, im Gegenteil, wohl eine Art ewiges Narrative darstellt, wenn man sich die „Weltliteratur“ anschaut.

Teilweise wirkt das Buch naiv in seiner Unbedingtheit, aber gerade diese „Naivität“ hat auch etwas Erfrischendes, Unumgängliches.

„Wenn ich vierzig bin, werde ich mich auf mich selbst zurückblicken und auf meine Gefühle mit neunzehn – und ich werde lächeln.
Werde ich wirklich lächeln?“

Zur neuen Edition des “Kopfkissenbuch”s von Sei Shōnagon


Kopfkissenbuch

Jemand ist zu mir nach Hause gekommen und unterhält sich mit mir. Währenddessen reden meine Familienangehörigen im Nachbarzimmer laut und offen über die privatesten Angelegenheiten, und ich muss das mit anhören, ohne es unterbinden zu können. Ebenso peinlich ist es, wenn mein Geliebter im Vollrausch das Gleiche tut.

Die japanische Literatur kennt zwei frühe Werke, die von Autorinnen verfasst wurden und zur Weltliteratur gezählt werden müssen: Einmal „Genji Monogatari“ (Die Geschichte des Prinzen Genji) von Murasaki Shikibu, ein nach wie vor großartiger Roman, und das „Kopfkissenbuch“ von Sei Shōnagon. Es gibt einige Parallelen zwischen den beiden Büchern, aber natürlich auch entscheidende Unterschiede.

Beide Autorinnen waren um etwa 1000 n.Chr. (eine Zeit lang auch gleichzeitig) Hofdamen am Kaiser*innenhof und ihre beiden Werke „spielen“ ebendort, berichten vom Leben, Lieben und den sonstigen Beschäftigungen der Elite des Landes. In ihren beiden Werken ist es hauptsächlich eine Mischung aus Klatsch, Intrigen und Nebensächlichem, welche die Handlung bestimmt.

Während sich Shikibu mehr auf die Geschichte ihres Prinzen konzentriert (dabei allerdings auch allerlei andere Geschichten und Blickwinkel einbindet, oft sehr geschickt), erhalten wir bei Shōnagon mehr Einblicke in die Welt und die privaten Momente eines damaligen Frauenlebens bei Hof. In ihrem Kopfkissenbuch hat sie nämlich alles notiert, von Befindlichkeiten und erotischen Details bis zu Anekdoten, Gerüchten und Vorgängen in den ihr bekannten Familien und Institutionen. Kurze, fast dem Haiku ähnliche Sentenzen und Notizen kommen ebenso vor wie längere Beschreibungen, Erzählungen.

Insgesamt sind es über 300 Einträge, zu denen sich in dieser Ausgabe ein umfassendes Anmerkungsverzeichnis, plus Nachwort und Begriffsregister, gesellt. Damit ist dieses Manessebuch, übersetzt und herausgegeben von Michael Stein, vermutlich die umfangreichste Edition auf dem Markt und somit auch die beste Art, sich diesem spannenden Werk und Meilenstein der autobiographischen Literatur zu nähern. Enthalten ist auch der ein oder andere Ratschlag, die ein oder andere philosophische Betrachtung, oft irgendwo zwischen Naivität und Weisheit liegend.

In unserer Welt verhält es sich doch so, dass unleidliche Dinge den Menschen grundsätzlich verhasst sind. Selbst der Verrückteste sollte eigentlich Wert darauf legen, sich nicht unbeliebt zu machen.

 

 

Zu “Tagebuch eines frischvermählten Dichters” von Juan Ramón Jiménez


Tagebuch eines frischvermählten Dichters besprochen beim Signaturen-Magazin.de

Zu Perecs Traumnotaten in “Die dunkle Kammer”


“Aus Deutschland erhalte ich einen Brief, der mir mitteilt, dass Eugen Helmlé gestorben ist. Ich hatte ihm noch am Vortag geschrieben.

Nach und nach wird mir klar, dass ich träume und das Eugen Helmlé nicht tot ist.”

Gott sei Dank war es nur ein Traum – denn was für Übersetzungen und Werkzugänge wären uns entgangen, wenn Eugen Helmlé gestorben wäre. Es wäre uns wahrscheinlich nie möglich gewesen Anton Voyls Fortgang zu lesen, Helmlé geniale Übersetzung von “La Disparation”, dem Roman ohne den Buchstaben “e”. Oder Perecs Opus Magnum Das Leben: Gebrauchsanweisung, das man laut Harry Rowohlt einmal im Jahr lesen sollte. Und ich hätte vielleicht nie das Glück gehabt, dem für mich nach wie vor ungeschlagene Kleinod Träume von Räumen zu begegnen, einer vielschichtigen, epiphanischen Meditation über die Vorstellungen des Raums.

Träume, Schlaf. Die Belassenheit der Dinge, die aber gleichsam im Inneren ungeheure Kapazitäten bereithält. Themen, die in Perecs Werk immer wieder auftauchen. Das Sprachspiel, die Schule von Oulipo, war das Eine; das lieferte die Formen, die Freude, den Spaß, die Herausforderung. Auf der anderen Seite sind da die eigenen Untiefen, aus denen jeder Schreibende schöpft. Gerade bei Perec prallen an der Schnittstelle durchaus einige Gegensätze aufeinander. Denn so genial viele seiner Werke sind, es geht darin oft um Verlassenheit, um Zwingendes und Furchteinflößendes, um das Negierende. In seinem Nachwort schreibt der Übersetzer und Herausgeber Jürgen Ritte:

“Unter den vielen literarischen Wunderwerken, mit denen Georges Perec im Laufe seines viel zu kurzen Lebens die Welt beschenkte, ist die Dunkle Kammer […] gewiss das verstörendste.”

Das ist meiner Meinung nach etwas zu hoch gegriffen, ich halte W oder die Kindheitserinnerung definitiv für das verstörendste Werk Perec; es trifft einen wie einen Wucht, gerade wenn man vorher die eher spielerischen oder meditativ-philosophischen Texte von Perec kannte. Aber beiden Büchern ist die Eigenschaft gemein, gleichsam autobiographisch und doch in gewissem Sinne undurchsichtig, undurchdringlich zu sein.

Im Titel “Die dunkle Kammer” ist natürlich die Idee der Dunkelkammer enthalten, der Ort, wo man aus Negativen Fotos entwickelt. Und tatsächlich ist die Niederschrift von Träumen ein ähnlicher Vorgang. Man erlebt etwas und mit der Linse hält man es fest, wie den Traum mit dem Stift, und es kommen dabei Objekte heraus die eine Version des Traums/des Erlebnisses sind und doch wieder nicht. Es sind Rahmungen, es sind Festsetzungen von etwas, das nicht festgesetzt werden kann.

Trotzdem gelingt Perec in den 124 Traumnotaten Erstaunliches. Sehr oft fängt seine nüchterne Nacherzählung der Träume gut die additive und zugleich kontemplative Bewegung der Träume ein, den Verlauf. Vor allem das Bewusstwerden, das im Traum – noch einmal mehr als in der Wirklichkeit – meist eine geradezu erschütternde, direkt Dimension bekommt. Das ermöglicht es den Lesenden einzutauchen in die andere Seite der Nacht, in die seltsame Kreativität unserer Unterströmung, die alles Mögliche anschwemmt, das einmal in den Strudel unserer Wahrnehmung, unserer Erinnerungen, unserer Bedeutungsaneigung geriet.

“Ich bin A. in meinem Zimmer – und mit einem Zufallsbekannten, dem ich das Go-Spiel beizubringen versuche. Er scheint das Spiel zu begreifen, bis zu dem Augenblick, da mir bewusst wird, dass er glaubt, gerade die Bridge-Regeln zu lernen.”

Die Berichte der Träumen sind von unterschiedlicher Ausführlichkeit und von unterschiedlicher Schwere, je nachdem ob es um ein eher obskures, wie eine Phantasie anmutende Traum-Szenario geht, z.B.:

“Ich gehöre zu einer Gruppe Hippies. Auf einer Landstraße stoppen wir den Verkehr. Wir umzingeln eine Luxuskarosse und rücken ihr bedrohlich näher.”

oder ob Lebensthemen im Zentrum der Träume eine gewisse Gravität einbringen. Einmal träumt Perec, er und ein Freund hätten in “Anton Voyls Fortgang” lauter e’s gefunden; plötzlich tauchen sie auf, stechen hervor, dann sind sie wieder weg. Die Holocaust-Vergangenheit von Perecs Familie und seine privaten Beziehungen sind andere Themen, die oft einfließen; das Bergwerk, zu dem der Traum immer wieder zurückkehrt, um zu schürfen. Und dann sind es wieder von jeglichem Betrachter losgelöste Träume, entkörperte Filme hinterm Auge des Schlafs.

“Nach einer langen Abwesenheit kehrt der Rächer aus Mexiko zurück. Ein Verräter schickt sich an ihn von hinten zu erschießen, als eine hell behandschuhte Hand auftaucht und ihn daran hindert.”

Die dunkle Kammer ist ein reiches Buch, ein Buch mit dem man sich sehr lange beschäftigen kann und dafür muss man nicht einmal an Perec oder seinem Werk im Besonderen interessiert sein. Wobei auch der- oder diejenige auf seine/ihre Kosten kommt, zumal das Nachwort sich sehr gelungen zu Perecs Werk auslässt (und dabei vielleicht ein bisschen zu wenig zu “Die dunkle Kammer”).

Für alle, die sich für den Traum interessieren, für das Wartende, Schlummernde, das erwacht, wenn wir einschlafen, eingefasst und durchdrungen von den Symbolen unseres ganzen Lebens und doch nur in unordentliche Zustände gekleidet, denen wird dieses Buch ein Schatz sein. Jorge Luis Borges zitierte einmal Arthur Schopenhauer mit dem Satz: “Wach sein heißt, das Buch des Lebens lesen, Träumen heißt, darin zu blättern.”