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Zu Javier Marías Fussballkolumnen in “Alle unsere frühen Schlachten”


alle-unsere-fruheren-schlachten_marias   Javier Marías ist ein großer Fußballfan und noch mehr ein Fan von Real Madrid. So ziemlich alles, was man über die Wurzeln der Königlichen wissen muss, vor allem über die glorreichen Zeiten von Ference Puskás und Alfredo Di Stefano und die Verortung innerhalb der spanischen Fußballwelt und der gesellschaftlichen Zusammenhänge, kann man teilweise aus diesen 34 Kolumnen erfahren.

Doch darüber hinaus sind es auch tagesaktuelle Texte, die sich mit den Ereignissen des spanischen und des Weltfußballs zwischen 1992 und 2001 beschäftigen, mit Phänomenen und Ereignissen, Ergebnissen und Wettbewerben. Es gibt einige Geschichten und Motive, die immer wiederkommen, u.a. der bereits erwähnte Di Stefano, der ein persönlicher Gott von Marías zu sein scheint, außerdem die verschiedenen Temperamente der Clubs in der spanischen Liga, die aus unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Hintergründen, historisch wie ideologisch, kommen-

Marías nicht gerade ein bedächtiger, sondern ein geradliniger Kolumnist, der aus seinem Unmut und seinen Vorlieben keinen Hehl macht, auch wenn er sie zu reflektieren weiß und dies auch tut. Das macht seine Texte manchmal zu einer engen, eigenwilligen Angelegenheit, gibt ihnen aber größtenteils einen erfrischenden und unterhaltsamen Spin, einen kurzweiligen Drive.

Insgesamt gelangt Marías hier und da zu einigen vorzüglichen Meinungsspitzen und sein oft gegen die öffentlichen Debatten eingestellter common sense ist in den meisten Fällen genau mit der Art von Idealismus und Entwirrung verbunden, wie man sie bei einem Position beziehenden Schriftsteller schätzt, selbst wenn es „nur“ um Fußball geht.

Und eigentlich geht es ja nicht „nur“ um Fußball. Denn dieser Sport ist ein Spiegel verschiedenster gesellschaftlicher Prozesse und Systeme, vom Kapitalismus bis zu Massenhysterie, er erzählt von gewählten Feindschaften und Grenzen überwindenden Sympathien und emotionalen Verdichtungen. Von solchen Dingen schreibt auch Marías immer wieder. Und es gelingt ihm dann und wann da Menschliche im Fußball zu spiegeln.

George Orwells Bericht “Mein Katalonien”


“Ich war nach Spanien gekommen, um Zeitungsartikel zu schreiben. Aber ich war fast sofort in die Miliz eingetreten, denn bei der damaligen Lage schien es das einzig Denkbare zu sein, was man tun konnte. […] Man hatte den Japanern erlaubt, in der Mandschurei zu tun, was sie wollten. Hitler war zur Macht gekommen und fuhr fort, die politischen Gegner aller Schattierungen zu massakrieren. Mussolini hatte die Abessinier bombardiert, während dreiundfünfzig Nationen abseits standen und fromme Sprüche von sich gaben. Aber als Franco versuchte, eine gemäßigt links orientierte Regierung zu stürzen, lehnten sich entgegen allen Erwartungen die spanischen Menschen gegen ihn auf. Es schien die Wende der Flut.”

Fast vier Monate lang blieb George Orwell in der katalonischen Miliz, bei einer Abteilung der anarchistisch-sozialistischen Arbeiterbewegung, erlebte die Front, das Lazarett und zuletzt die Straßenkämpfe, politischen Verwicklungen und Propagandaschlachten in Barcelona. Seine Schilderungen und Analysen zu letzterem bilden das wirkliche Kernstück dieses Buches und sind sein großer Verdienst, bis heute.

“Es war nämlich vor allen Dingen ein politischer Krieg. Kein Ereignis, besonders aus den ersten Jahren, ist verständlich, ohne eine Gewisse Kenntnis von dem Kampf zwischen den Parteien, der sich hinter der Frontlinie der Regierungsseite abspielte.”

Der spanische Bürgerkrieg wird in der historischen Betrachtung meist leichtfertig zusammengefasst als Kampf von Demokratie gegen Faschismus, als ein Aufbegehren von liberalen, kommunistischen, sozialistischen, demokratischen Elementen gegen die Flut des Totalitarismus. Aber gerade der ideologische Kampf auf Seiten der republikanischen Seite, der (zumindest in Katalonien) einen Bürgerkrieg in sich darstellt, wird dabei gerne verschwiegen; es wird gerne ausgespart, dass im republikanischen Spanien der Jahre 1937-38 eine der größten kommunistischen Säuberungsaktionen des 20. Jahrhunderts stattfand und einige anarchistische Arbeiterschaft-Verbände mit Terror und Willkür unterdrückt wurden.

Orwell kam im Dezember 1936 nach Barcelona, das Buch erschien 1938, noch bevor der Krieg beendet war. Es ist daher kein umfangreicher Bericht über den Bürgerkrieg selbst und auch keine Analyse des Kriegsverlaufes. Es ist ein persönlicher Erlebnisbericht aus dem Räderwerk des Bürgerkriegs, nicht nur des Fronteinsatzes, sondern vor allen Dingen der politischen Prozesse, die währenddessen abliefen.

Als Orwell nach Barcelona kommt, hat die Arbeiterschaft dort eine fast perfekte sozialistische Utopie umgesetzt. Es gibt keine Unterschiede in Sold und Gehalt mehr, alles liegt in den Händen der Arbeiter. Er tritt der anarchistischen Arbeitermiliz P.O.U.M. bei und geht an die Front. Als er ein paar Monate später zurückkehrt, haben sich sowohl die realpolitischen Verhältnisse geändert, wie auch die gesellschaftlichen. Alles war wieder zum bourgeoisen Standard zurückgekehrt. Orwell zog die richtigen Schlüsse und erkannte früh, was ein Problem des 20. Jahrhunderts war und ein Erbe geworden ist, das das 21. Jahrhundert weiterhin mitträgt:

“Im Namen der Demokratie gegen den Faschismus zu kämpfen, heißt, im Namen einer Form des Kapitalismus gegen eine andere zu kämpfen, die sich zu jeder Zeit in die erste verwandeln kann. Die einzig wirkliche Alternative zum Faschismus ist die Kontrolle durch die Arbeiter. Wer sich irgendein kleineres Ziel als dieses setzt, wird entweder Franco den Sieg aushändigen oder im besten Falle den Faschismus durch die Hintertür hereinlassen.”

Der Kapitalismus und die staatliche Gewalt sind, wie Orwell aufzeigt, die wesentlichen Probleme und die wesentliche Unterdrückung der menschlichen Gesellschaft. Später wurden die Arbeiterverbände nicht nur aus der Regierung gedrängt, sondern vollständig aufgerieben, verhaftet, in Kerkern zum dahinvegetieren verdammt oder insgeheim erschossen. Die linke Presse in aller Welt druckte damals munter die kommunistische Propagandalüge, dass alle Mitglieder der Anarchisten geheime Handlanger Francos sein – eine Behauptung die nicht falscher sein konnte, lagen doch zum größten Teil Mitglieder der anarchistischen Miliz zu der Zeit an der Front und hielten sie.

“Als eine der traurigsten Wirkungen dieses Krieges erkannte ich, dass die Presse der Linken bis ins kleinste genauso falsch und unehrlich ist wie die der Rechten. […] Das ist in allen Kriegen immer dasselbe. Die Soldaten kämpfen, die Journalisten schreiben. […] In Wirklichkeit unterliegt jeder Krieg mit jedem Monat, den er länger dauert, einer gewissen sich steigernden Entartung. Begriffe wie individuelle Freiheit und wahrhaftige Presse können einfach nicht mit dem militärischen Nutzeffekt konkurrieren.”

Orwells Buch ist ein verdammt wichtiges Dokument und eine Lektion in Antipropaganda und wider der historischen Geschichtsschreibung, die sich der Wirkungen verpflichtet sieht und nicht der Ursprünge und der Schicksale, Tatsachen und Ideen, die auf der Strecke bleiben. Es ist kein besonders spannendes Werk, teilweise auch nicht gerade großartig geschrieben, aber in seiner unaufgeregten und völlig unheischenden Dimension gewinnt es einen Grad an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit für sich, der mich sehr beeindruckt hat. Orwell schreibt am Ende, dass man seine Ausführungen kritisch hinterfragen soll und er meint es völlig Ernst. Und doch öffnet er einem mit dem Buch eine Sicht auf ein völlig verstelltes Kapitel des spanischen Bürgerkriegs und des zivilen und gesellschaftlichen Kampfes im 20. Jahrhundert. Und legt den Finger auf eine Frage, dessen Antwort weiterhin auf sich warten lässt: Wie kann man gewährleisten, dass die Interessen von allen in einem staatlichen Konzept gehört und bedacht werden?

“Nada”


“Die ersten Straßenbahnen nahmen ihre Fahrt durch die Stadt auf, ihr Gebimmel drang gedämpft durch die geschlossenen Fenster zu mir, wie damals im Sommer, als ich sieben war und zum letzten Mal zu Besuch bei den Großeltern. Eindrücke stellten sich ein, zwar schemenhaft, doch so lebendig, als brächte sie der Duft von einer frisch gepflückten Frucht. Eindrücke aus dem Barcelona meiner Erinnerung.”

Carmen Laforet gehört sicherlich zu den weniger spektakulären Autoren des 20. Jahrhunderts, in Spanien allerdings ist sie bis heute eine der wichtigsten Erzählerinnen in und nach der Franco-Diktatur. Nada, geschrieben im Alter von 19 Jahren, ist ihr Debütroman und erschien 1944, am Ende des zweiten Weltkriegs. In ihm hat sie, sagen manche, die drückende Atmosphäre des spanischen Lebens unter Franco beschrieben, andere wiederum schreiben dem Roman alleinige autobiographische Intentionen zu.

Aber, wie der Titel schon sagt, das ist Nada, “Nichts”, das sind Schemata, wie sie jeder Roman alleine schon für einen Klappentext oder einen kritischen Ansatz, über sich ergehen lassen muss. Romanleser wissen dagegen, dass man keinen (guten) Roman letztendlich festlegen kann, auf keine einzelne Thematik und kein theoretisches Resümee. Ein guter Roman ist ein vielschichtiger Roman, der auf jeder neuen Seite Einblicke bietet und seine Geschichte nie einseitig werden lässt (Ausnahmen bestätigen die Regel) – was wären all die großen Romane, wenn man aus Ihnen nur ziehen könnte, was man auch allgemein über sie sagen kann.

Gerade wenn wir etwas nicht definieren können, bemerkte Borges klug, wissen wir sehr viel darüber, weil wir dann die Facetten bemerken und mit der Zeit bei der Lektüre etwas entstehen kann, ein Verhältnis zwischen Leser und Buch, das größer ist, als alle seine plastischen Elemente. Und wegen dieser Momente, wegen der kleinen sprachlichen Verblüffungen und Einzigartigkeiten, wegen der einzelnen, tiefgreifenden Szenen und eben dem Gemälde, dass sich geradezu unnachgiebig und ungreifbar in den Stimmungen ergibt, sollte man Romane lesen, die großen Romane der Weltliteratur.

Nada ist ein Roman, der dazugezählt werden kann. Es passiert nicht viel darin, eigentlich passiert sogar fast schon extrem wenig darin, oder doch zumindest wenig, was das Anfangssetting noch sprengt, das nach 40 Seiten bereits aufgebaut ist.

Im Zentrum des Buches steht das Mädchen Andrea und eine Wohnung in der Calle de Aribau, die Andreas Großmutter einst kaufte, als diese noch mitsamt der Straße in den Randbezirken von Barcelona lag und die jetzt, 50 Jahre danach, mittendrin in der Stadt liegt. Andrea, 18 Jahre alt, kommt aus den ländlichen Gegenden Nordspaniens in die Stadt, um in Barcelona Literatur zu studieren.

Als sie 7 war ist sie zuletzt dort und alles hat sich sehr verändert. Die Großmutter ist senil geworden, die Wohnung quillt über von alten Möbeln im muffigem Stadium des Verschleißes und die beiden schwierigen Onkel von Andrea, Román und Juan, leben wieder bei ihrer Mutter: Juan zusammen mit seiner scheinbar lasterhaften Frau und Román in einer Mansarde über der Wohnung.
Die beiden sind sich spinnefeind – warum, das ist ein ewiges, unverständliches Geheimnis.

Einer der Kernsätze des Buches (“Zum ersten Mal überkam mich das dunkle Gefühl, das Interesse und Wertschätzung für jemanden nicht immer zusammengehören”) gibt ganz gut vor in welchen Welten die Konflikte der Familie und auch der anderen Figuren angesiedelt sind: In der Welt zwischen versuchter Zuneigung und der Faszination, der menschlichen Schwäche für das Andere, das Dunkle, Aufregende..

Andrea, die mit Hoffnungen auf Freiheit, Liebe, Selbstbestimmung und Glück nach Barcelona aufgebrochen war, bemerkt schnell, dass es in einem solchen Umfeld in ihrer Zeit in der Calle de Aribau nicht darum gehen wird, endlich über das Leben und ihr eigenes Mauerblümchenwesen zu triumphieren – nein, sie muss diese Zeit, die für sie auch wegen ihres Eintritts ins Erwachsenenalter eine eh schon schwierige und ambivalente ist, einfach nur überstehen – es gelten die Zeilen, die eines der bekanntesten Rilke-Gedichte beenden: “Wer spricht von Siegen/ Übersteh’n ist alles.”

“Oft muss ich an die Nächte in der Calle de Aribau denken zurückdenken. Diese Nächte, die wie ein schwarzer Fluss unter den Brücken der Tage vorüber zogen und faulen, gespenstischen Dunst verströmten.
Ich erinnere mich an die ersten Herbstnächte, die ersten Vorboten der Unrast, die sie entfachten. An die Winternächte mit ihrer klammen Schwermut: das Ächzen eines Stuhls, das mich aus dem Schlaf aufschreckte, und der Schauer, wenn sich zwei leuchtende Augen – die der Katze – in meine bohrten. In diesen eisigen Stunden gab es Augenblicke, in denen das Leben seine Scham abgelegte und ganz nackt vor mir stand, um sich eine Herzensqual von der Seele zu schreien, die für mich nur entsetzlich war. Eine Qual, die der Morgen schnell wegwischte, als hätte sie nie existiert. Dann kamen die Sommernächte. Laue, behäbige Mittelmeernächte über Barcelona, schwer vom goldenen Saft des Mondes und dem feuchten Duft der Meerjungfrauen, die sich ihre Wasserhaare über den weißen Rücken und dem goldenen Schuppenschwanz kämmten. In manchen warmen Nächten steigerte der Hunger, die Traurigkeit und die Energie der Jugend die Ohnmacht meiner Gefühle bis hin zu einem körperlichen Bedürfnis nach Zärtlichkeit, wie es gierig und staubig die ausgedörrte Erde fühlt, die ein Gewitter nahen spürt.”

Auf dem Buchrücken steht, dass das Buch existenzialistisch sei und in gewissem Sinne stimmt das auch. Es ist ein Roman, der mehr durch die Existenz- und Augenblicksängste und durch die vielen Stimmungen von Andrea lebt, als durch die Handlung. Die Handlung ist die Welt und die ist so wie sie ist, voller Vergeblichkeit, Alltag und minderguten/minderschlechten Überraschungen, in scheinbar immer gleichen Kreisen. Aber das wirkliche Chaos, der wirkliche Kampf des Lebens findet in Andrea und findet in der Sprache des Buches statt, in den kleinen Ausbrüchen von inneren Gefühlen und darin getränkten Beschreibungen. Im Kern zeigt uns der Roman eine existenzielle Erfahrung, wie sie eines Camus würdig gewesen wäre: die Erkenntnis, dass das eigene Leben ein Zirkel ist, den wir nicht aus seiner Verankerung reißen könne, so heftig wir auch ziehen, träumen, leben, soweit wir uns auch spannen. Wir bestimmen die Form und Größe unserer Kreise, aber nicht den Ausgangspunkt, der wir einfach sind, in einer Welt, die wir begehen müssen, weil sie unseren Weg enthält – weil sie unsere Existenz, wie sie ist, enthält. Eine Existenz voller Angst, Wünsche, Freuden und Glück enthält. Unsere einzige Existenz, fern aller anderen.

“Ich sah zu, wie der böige Wind dicht über die Erde fegte und den Staub und das Laub in einer Art Totentanz der Dinge aufwirbeln ließ.”

Nada ist ein außergewöhnlicher Roman, ein Kunstwerk der kargen, dann wieder der überwältigenden Sprache. Gerade weil man immer direkt beim Geschehen ist, möchte man das Buch am liebsten in einem Ruck durchlesen; es entsteht ein ungeheuer, lebensechter Sog. Viele Romane sind gewiss umfangreicher, detaillierter, versierter als dieser, aber diesen Sog, diesen ständigen Puls von echtem Leben – ihn findet man selten.

Link zum Buch

*diese Rezension ist in Teilen bereits auf Amazon.de erschienen.