Kann der Mensch neben Kriegen, Zerstörung, Wut, bösen Worten, Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung, kann der Mensch inmitten des Gifts von Nationalismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus, das ganze Gesellschaften zersetzt, nicht doch auch Wunderbares schaffen?
Eine berechtigte Frage. Je nachdem, ob man die Menschheit an der Gesamtheit der entstandenen Kunstwerke oder der Gesamtheit der begangenen Verbrechen beurteilt, ihr Wesen danach skizziert, entstehen sehr unterschiedliche Bilder unserer Spezies. Wir haben erstaunliche Dimensionen an Verständnis und Reflexions- sowie Vorstellungsvermögen entwickelt, sind aber andererseits kaum in der Lage, die Zerstörung unserer Lebensräume und die Auswirkungen unserer diversen technologischen Errungenschaften zu begreifen, geschweige denn zu kontrollieren.
Selbst in der Kardinalsfrage, der Frage nach dem Glück, sind wir, so scheint es, nach Jahrtausenden und Jahrhunderten immer noch gleichermaßen nah dran und weit entfernt von irgendwelchen Rezepten, selbst in unserer hypermedialen und selbstoptimierten Wohlstandsgesellschaft. Virginie Despentes schrieb in ihrem Essayband „King Kong Theorie“:
Alles in unserer Gesellschaft ist auf das kurze Sofortglück angelegt, Espresso, Zucker, Facebook-Likes, Porno, Drogen, Alkohol – immer geht es um Instantbefriedigung. Alle Hormone aber, die für echte Zufriedenheits- oder Glücksgefühle zuständig sind, werden bei diesem Verhalten eher heruntergefahren als angeregt. Die Sofortbefriedigung hindert uns an tieferem Wohlbefinden.
Schnelligkeit, Druck, Optimierung, das sind ein paar zentrale Schlagwörter unserer Zeit – eine Zeit, in der kaum noch jemand Zeit hat. Nicht nur keine Zeit zum Pause machen, Ausruhen, sondern auch kaum Zeit, um in sich zu gehen oder (und damit sind wir bei dem Buch von Thomas Girst angelangt) Zeit, um sich längerfristig und ohne klares Ziel mit etwas zu beschäftigen.
Letztlich sind es aber gerade die langwierigen Prozesse, die Bleibendes oder Beachtliches hervorbringen. Die ganze Geschichte der Naturwissenschaften, immer noch nicht abgeschlossen (und wohl nie zu Ende gehend), ist eine Geschichte der unermüdlichen Beschäftigung mit den immer gleichen Dingen, aus der ständig neue Erkenntnisse und auch neue technologische oder sonstige Erfindungen hervorgingen und -gehen. Gerade in unseren rasanten, von Schlagzeilen überschütteten Zeiten ist es wichtig, derlei zu bedenken
und nicht müde zu werden auf den Unterschied von Information und Wissen hinzuweisen. Erstere steht uns im Technologiezeitalter immer und überall zur Verfügung, Letzteres gilt es sich zu erarbeiten.
In etlichen kurzen Kapiteln nimmt uns Girst mit auf eine Reise zu den Errungenschaften und Entdeckungen, die sich stetigen und langen Prozessen verdanken. Da sind zum einen kuriose bis beeindruckende Kunstwerke, sei es nun der Palais idéal des Briefträgers Ferdinand Cheval, den er über 33 Jahre nur aus den aufgeklaubten Steinen und Muscheln auf seinem Berufsweg baute oder die langen Klang- und Kunstinstallationen in zahlreichen Museen der Welt, und zum anderen historische und wissenschaftliche Beispiele oder jene von Menschen und Einrichtungen, die sich den langsamen Prozessen verschrieben haben.
Girst trägt sehr viel zusammen und reiht es gekonnt aneinander, türmt es begeistert auf. Mitunter ist es vielleicht ein bisschen viel, was da an Kunst und Wissenschaft, Vergangenheit und Zukunft geballt beachtet und bedacht werden soll, aber diese Fülle macht das Buch andererseits sicher zur einer noch oft zur Hand genommenen Lektüre.
Auf Raumschiff Erde gibt es keine Passagiere. Wir sind alle Teil der Crew.
Die Fülle der Beispiele weiß jedenfalls zu überzeugen und ebenso die Botschaft. Ich habe mich beim Lesen öfters an Alessandro Bariccos „Die Barbaren“ erinnert gefühlt, in dem er von einem Paradigmenwechsel in der Moderne berichtet, während dem die Epoche der sich vergewissernden, sich versenkenden Erfahrung, sich zeitnehmenden Beschäftigung, durch die Epoche des Spektakels abgelöst wurde.
Girst versöhnt in seinen kurzen Geschichten und Essays beide Epochen ein wenig miteinander, plädiert für ihrer beider Errungenschaften, beschwört die Lesenden aber, aufmerksam zu sein für die Schönheit und allgemein die Idee langer Prozesse, sich nicht nur auf schnelle Erfolge und nahe Ziele einzuschießen, sondern zu lernen vom Gang der Dinge, von den Mühen und Freuden unserer Vorgänger*innen, von den Perspektiven, die sich uns bieten, wenn wir nicht nur auf uns und unsere naheliegenden Wünsche schauen, sondern den Blick heben und uns selbst dabei zurücklehnen, einmal einkehren in die Zeit, die wir haben, die uns bleibt, die uns niemand nehmen kann, außer wir selbst.
Wer Bäume setzt, obwohl er weiß, dass er nie in ihrem Schatten sitzen wird, hat zumindest angefangen, den Sinn des Lebens zu begreifen.