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Zu Italo Calvinos “Warum Klassiker lesen?”


Warum Klassiker lesen Italo Calvino war eine mannigfaltige und einzigartige Autorenpersönlichkeit. Man begegnet ihm an den unterschiedlichsten Orten – etwa in einem Buch über italienische Comickultur und in einer Agentenserie, in der ein männlicher Protagonist eines seiner Bücher im Flugzeug liest, dann aber auch in Studien zum metaexperimentellen und postmodernen Roman – und seine Werke stehen in den unterschiedlichsten Kontexten – in der Tradition von Oulipo, aber auch in der Tradition des italienischen Furioso und des magischen Realismus borgesker Prägung, der Widerstandsliteratur und einigen anderen – und aufgrund seines frühen Todes wird er gerne als verhinderter Nobelpreisträger genannt.

Viele seiner Bücher sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre und erfreuen sich einer breiten Leser*innenschaft. Gleichzeitig sind sie oft unendlich komplex, was mit ihrer spielerischen Art auf einzigartig-verfängliche Weise in Zusammenhang steht. Calvino war ein großartiger Romancier und ein heiter-melancholischer Geschichtenerzähler, ein Tüftler und ein Metaphysiker.

Über sein eigenes Werk hinaus hat sich Calvino als Leser und Theoretiker einen Namen gemacht. Sein nur wenige Jahre vor seinem Tod publiziertes Werk „Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft“ legt davon ebenso Zeugnis ab wie die nach seinem Tod publizierten Harvard-Vorlesungen, die er nicht mehr halten konnte („Sechs Vorschläge für das nächste Jahrhundert“) und dieses Buch „Warum Klassiker lesen?“ mit Aufsätzen und Essays zu Büchern und Autoren.

Wer glaubt mit diesem Buch einfach nur auf eine weitere Leseanleitungssammlung zu den klassischen Texten gestoßen zu sein, der/die wird womöglich eine Überraschung erleben, wenn er/sie ein paar Seiten darin gelesen hat. Vielleicht wird er/ sie auch frustriert sein.
Denn zum einen Kreisen Calvinos Betrachtungen oft um Texte, die man als Klassiker nicht unbedingt auf dem Zettel hat (oder zumindest nicht als klassische Bücher von durchaus klassischen Autoren (leider sind es auch nur Bücher von männlichen Autoren)) und zum anderen kann man seine Ausführungen nur als „sprunghaft“ bezeichnen, so schnell saust er manchmal von Motiv zu Motiv oder klappt mit einem Mal eine ganze Gedankenpalette zu einem Gegenstand auf, die einem durch ihr dringliches Auftrumpfen mit allerlei Begriffen und Ideen schnell entgleitet und davonzurollen droht.

Dies klingt zunächst nach einer mühsamen Lektüre und es wäre auch ein Akt des Beschönigens, würde man Calvinos Essays als zugänglich und wohlstrukturiert bezeichnen. Dafür haben sie aber andere, furiose Qualitäten, die teilweise ihrem Chaos entspringen.
Zum einen zeigen sie auf nachhaltige Weise, wie komplex die Plots, Figuren und Motive von so unterschiedlichen Klassikern wie der Odyssee, Candide oder den Werken Raymond Queneaus sind, wie weit man sie in viele Richtungen denken kann. Er schildert diese Bücher nicht nur als große Geschichten, die man kennen sollte, sondern als Zugänge zur Welt, in denen Archetypen, wertvolle Vorstellungen und Problematiken das Licht der Welt erblickten, die uns jetzt, hier und heute, mehr denn je um die Ohren fliegen, sich in manchen Konflikterscheinungen und in vielen Darstellungen festgesetzt haben. Es gelingt ihm die ganze Besonderheit von vielen Autoren und ihren (oft unbekannteren) Werken hervorzukehren, umständlich manchmal, aber letztlich bestechend.

Denn die Texte sprühen zum anderen vor Begeisterung. Manchmal ein bisschen zu viel und hoch, das man fast die Augen abwenden muss. Aber das Gute daran ist: es geht ja auch nicht darum, ein Buch wirklich erklärt zu bekommen (dazu reichte ein Essay ja nicht aus), sondern darum, einen Eindruck zu bekommen und im besten Fall einen Initiationsmoment zu erleben, der einen dazu bringt, das Buch selbst zu lesen. Und dafür sind diese Texte mehr als geeignet, gerade weil sie vielleicht nach ein paar Sätzen schon übersprudeln und man sie nicht zu Ende liest – derweil man trotzdem fasziniert ist von dem Bild des Buches, das Calvino schon in den wenigen Zeilen skizziert und illuminiert hat.

Nicht alle Texte aus diesem Buch sind lesenswert. Manche sind bestimmten Lieblingsbüchern von Calvino gewidmet, die wohl kein/e andere/r Leser*in, vor allem nicht ohne Kenntnis des Italienischen, so begeistert lesen wird. Dafür gibt es Texte (bspw. zur Odyssee, zu Denis Diderot, zu Charles Dickens und Mark Twain), die wirklich großartig sind, ungeordnet und überladen, aber eine Reise wert, die vielleicht keinen Ursprungsgedanken verfolgt oder ein klares Ziel vor Augen hat, aber die pure Freude am Entdecken und Beobachten der vielen Stärken und Einzigartigkeiten der Bücher zum Ausdruck bringt und damit die Bedeutung und Schönheit dieser Facetten hervorhebt.

Keines von Calvinos Büchern ist leichte Kost, aus unterschiedlichen Gründen. Aber wer Bücher sucht, die einen etwas aufhalten, aber dabei auch zu ganz vielen Anregungen führen, zu Rätseln und kleinen Offenbarungen, denen Aberwitz und Nachdenklichkeit innewohnen und die einem vieles im gleichen Moment erzählen, der wird hier fündig werden – in diesem Buch und im ganzen Werk von Italo Calvino.

 

Eines der wertvollsten Bücher überhaupt: Daniel Pennacs: “Wie ein Roman”


“Richtiges Lesen rettet vor allem, einschließlich vor einem selbst.”

“Lesen ist eine seltsame Tätigkeit, ebenso wie Küssen.” Dieses Zitat von Jean Cocteau stammt nicht aus diesem Buch, aber es hätte doch sehr gut hineingepasst; denn es illustriert, wie ich finde, recht schön, wie schwierig es ist, sich dem Lesen in Vergleichen, Ansichten, Beschreibungen und Texten zu nähern. Denn genauso wie bei der Liebe will man auch das Lesen nicht angetastet, analysiert oder erklärt, sondern verstanden sehen – und das Verständnis, in Wort und Schrift, von Mensch zu Mensch, ist immer noch eine der größten Herausforderungen der Literatur und gleichsam ein Zeichen, an dem man große/schöne Literatur erkennen kann, wenn ihr dieses Kunststück gelingt.

“So entdeckte er die paradoxe Wirkung des Lesens, die darin besteht, uns von der Welt abzulenken und dabei einen Sinn für sie zu finden.”

Leser sind Menschen, die sich verführen und austricksen lassen, jedoch nur, weil sie wissen, dass Ihnen innerhalb dieser Illusion etwas Großes und Schönes zuteil werden kann, dass auch ihren Sinn für die Wirklichkeit beeinflussen, ja, manchmal sogar befreien kann.  

Daniel Pennacs wundervolles Buch ist vieles: Vor allem und zuerst eine Liebeserklärung an das Lesen. Aber auch Reflexion über selbiges und die damit verbundene Lesekultur, angefüllt mit einigen Geschichten und Anekdoten über das Lehren und die Begegnung mit Literatur, des Weiteren hier und da auch ein bisschen schelmisch-amüsant-polemisch gegen die festgefahrenen Strukturen, in denen man das Lesen heute im gesellschaftlichen Konsens – einzig – vertreten sehen will und propagiert.
Und es ist auch, nicht zuletzt, unter der Hand, eine Rückführung in die Ausläufer einer magischen Ursprungs-Welt, in der wir uns als Kinder einst dem Lesen gegenüber, nicht wie vor einem Spiegel, sondern wie in einer offen, weiten Welt voller Wunder benahmen.

“Die Zeit zum Lesen ist immer gestohlene Zeit. (Genauso wie die Zeit zum Schreiben, übrigens, oder die Zeit zum Lieben.)
Wem oder was gestohlen?
Sagen wir, der Pflicht zu leben. […]
Die Zeit zum Lesen dehnt, wie die Zeit zum Lieben, die Lebenszeit.”

Pennac hat hier ausgebreitet, was das Herz erwärmt und gleichzeitig nachdenklich stimmt; beschreibt und nennt hier vieles, was einen kurzzeitig in sich selbst versenkt und einen doch wieder gerade aus dem selbst in die Welt hinausholt. In kurzen Kapiteln macht er mit uns Ausflüge in die verschiedensten Besitztümer und Zweige des Lesens – und es ist eine helle Freude und doch eine Reise, bei der man viel lernen kann: Über das Lesen, die Faszination und sich selbst.

Vielleicht wird man danach das Lesen, neben seinen anderen Vorzügen, auch wieder als das Wunder der bloßen Lust am Lesen und dem Glück des Imaginierens und der Zweckfreiheit begreifen, der Zweckfreiheit, “die die einzige Währung der Kunst ist.” Und vielleicht auch die zehn wundervoll erläuterten Rechte des Lesers endlich in Anspruch nehmen wollen (ganz unten), die Pennac am Ende anführt und die ein paar der schönsten Ansichten zu Literatur enthalten, die ich je gelesen habe.

“Wiederlesen ist nicht wiederholen, es ist der ständig erneuter Beweis einer unermüdlichen Liebe.”

Anhang: [SPOILER] Noch drei längere Zitate aus dem Buch + die Rechte des Leser.

Über das Schweigen über die Lektüre nach dem Lesen:
“Das Schweigen ist der Garant für unser intimes Verhältnis zum Buch. Es ist ausgelesen, aber wir sind noch drin. Das bloße Zurückdenken daran ist eine Ausflucht für unsere Ausflüchte. Es bewahrt uns vor der großen Außenwelt. Es bietet uns eine Beobachtungswarte weit oberhalb der zufälligen Szenerien. Wir haben gelesen und wir schweigen. Wir schweigen, weil wir gelesen haben.”

Über das, was uns wichtig ist:
“Das Schönste, was wir gelesen haben, verdanken wir meistens einem uns teuren Menschen. Und mit einem uns teueren Menschen werden wir zuerst über die Lektüre sprechen. Vielleicht eben weil das Charakteristische des Gefühls – wie des Wunsches zu lesen – darin besteht, vorzuziehen. Lieben heißt letztendlich, denen, die wir vorziehen, das zu schenken, was wir vorziehen. Und dieses Teilen macht die Zitadelle unserer Freiheit aus.”

Die zehn Rechte des Lesers
1. Das Recht, nicht zu lesen.
2. Das Recht, Seiten zu überblättern.
3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen.
4. Das Recht, noch einmal zu lesen.
5. Das Recht, irgendwas zu lesen.
6. Das Recht auf Bovarysmus
7. Das Recht, überall zu lesen
8. Das Recht herumzuschmökern
9. Das Recht, laut zu lesen.
10. Das Recht zu schweigen:

“Der Mensch baut Häuser, weil erlebt, aber er schreibt Bücher, weil er weiß, dass er sterblich ist. Er wohnt im Rudel, weil er ein Herdentier ist, aber er liest, weil er weiß, dass er allein ist. Dieses Lesen ist für ihn eine Gefährte, der keinem anderen den Platz wegnimmt, der aber auch von keinem anderen ersetzt werden könnte. Es bietet ihm keine letztendliche Erklärung seines Geschicks, webt aber ein Netz von Einverständnissen, die das paradoxe Glück zu leben selbst dann noch ausdrücken, wenn sie die tragische Absurdität des Lebens verdeutlichen. Demnach sind unsere Gründe zu lesen genauso seltsam wie unsere Gründe zu leben. Und niemand ist befugt, von uns über so etwas Vertrauliches Rechenschaft zu verlangen.”

Link zum Buch: http://www.amazon.de/Wie-ein-Roman-Daniel-Pennac/dp/3462033905/ref=cm_cr_pr_pb_t

*diese Rezension ist in Teilen schon auf Amazon.de erschienen