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Der Berlin-Roman, den immer noch zu wenige kennen


Räuber

Was bezahlbaren Wohnraum angeht, da haben deutsche Großstädte ja bereits einige Schlagzeilen gemacht, meist keine guten. Wie dramatisch es aber teilweise wirklich ist und wie viele Menschen davon betroffen sind, das ist nur peripher ein Thema (zumindest in meinem Bekanntenkreis). Da wird dann von Gentrifizierung geredet und davon, dass man als Student*in in einem bestimmten Viertel ohne uralten Mietvertrag nicht mehr wohnen kann.

Doch natürlich gibt es wirklich Leute, bei denen die ganze Existenz von diesen Entwicklungen bedroht ist. Spätestens seit der Wohnungsmarkt eine Art Tummelplatz für Investor*innen geworden ist, die bspw. alte Sozialbauten abreißen lassen, um neuere Wohnungskomplexe zu bauen, ist Wohnungsnot nicht nur ein Thema für Zugereiste (und Erwachsengewordene), sondern auch für Ansässige. Eine neue Bodenordnung und eine Wohnungspolitik (das hat Hans-Jochen Vogel mit 94(!) in seiner letzten Veröffentlichung „Mehr Gerechtigkeit“ sehr gut dargelegt) sind geradezu unumgänglich geworden, um einen gesellschaftlichen Kollaps in den Großstädten zu verhindern. Doch noch ist dergleichen, in Berlin und anderswo, nicht in Sicht.

Eva Ladipo hat sich in ihrem zweiten Roman „Räuber“ diesem Themenkomplex gewidmet, auf so unverhofft kluge und unterhaltsame Weise, dass ich zunächst skeptisch war, darauf gewartet habe, dass die Qualität irgendwie abfällt, das entweder der gesellschaftspolitische oder der Spannungsteil zu überwiegen beginnt; ich konnte einfach nicht glauben, dass es das geben kann: einen unterhaltsamen Roman, bei dem zugleich ein hochbrisantes, aktuelles Thema (aus Deutschland) im Mittelpunkt steht. Es gibt durchaus einige sehr gute Essayist*innen in diesem Land (von Stokowski über Czollek bis Juli Zeh) und gelungene Sachbücher, die wichtige Problematiken offenlegen, aber diese Kombination aus Unterhaltung und Aufklärung in Romanform, ist, in meinen Augen, eine Seltenheit.

Zum Plot: Der Bauarbeiter Olli Leber, der schon seit geraumer Zeit für seine Mutter und sich allein aufkommen muss, weil sein Vater nach einem Arbeitsunfall permanent zu einem Pflegefall wurde, bevor er dann starb, hat gerade erst die Beerdigung hinter sich gebracht, da folgt schon der nächste Nackenschlag: die Sozialwohnung, in der er und seine Mutter leben, wird verkauft und das Gebäude soll abgerissen werden. Doch Olli hat sich schon auf der verkorksten Beisetzung geschworen: nie wieder einfach beiseite treten, nie wieder Duckmäusern. Er wird sich wehren. Sein Weg kreuzt sich mit dem der Journalistin Amelie Warlimont, die ein ganzes anderes Leben führt und sich trotzdem an Ollis Seite stellt. Schon bald haben sie einen Plan, wie sie es der Stadt und der Politik in der Gestalt des Finanzsenators Falk Hagen heimzahlen können …

Im Netz kann man zahllose Leser*innenkommentare finden, in denen steht, sie hätten das 540 Seiten-Buch in einem Rutsch durchgelesen. Das hielt ich zunächst für übertrieben. Aber auch ich konnte mich dem Sog dann schwer entziehen und hätte ich nicht spät abends angefangen das Buch zu lesen, vielleicht hätte ich es auch am selben Tag noch beendet. Diesen Sog verdankt das Buch sicher seiner guten Kombination aus Sozial- und Kriminalgeschichte (ebenfalls einen wesentlichen Anteil haben auch die gut konzipierten Figuren, die abwechslungs- und temporeiche Struktur), aber das allein kann den Sog nicht erklären.

Das Erfolgsgeheimnis des Buches liegt, so glaube ich, in den unterschiedlichen menschlichen Dimensionen, die es darstellt. Ganz gleich, ob es um Amelies erste Tage mit ihrem neuen Baby geht, um Ollis Innenleben auf der Beerdigung des Vaters oder um Hagens Wunsch nach einem letzten Lebenshoch – das alles wird nachvollziehbar und intensiv geschildert, man kann sich zu jedem Zeitpunkt sehr gut in die Gefühlswelten einfinden bzw. muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

Diese Nähe zu den Charakteren, die Anschaulichkeit ihrer jeweiligen Existenzen, macht das Buch zu einem Erlebnis, das viele Ambivalenzen aufwirft und zugleich wichtige humanistische Ansätze vertieft. Kurzum: Es geschieht genau das, was gute Literatur in uns „anrichten“ sollte: eine Diversifikation, Multiplikation der Einblicke in die Lebenswirklichkeit und gleichsam das vor Augen halten der Gemeinsamkeiten, der Wichtigkeit des menschlichen Miteinanders. Dazu sollte gute Literatur imstande sein und uns am besten auch noch: unterhalten. Eva Ladipo gelingt in „Räuber“ eine vortreffliche Verknüpfung dieser beiden Qualitäten.

Zu “Technophoria” von Niklas Maak


Technophoria „Nie hatte man so viel Geld verdienen und gleichzeitig der Menschheit und der Natur so viel Gutes tun können.“

Smart Homes, Smart Citys, Roboter, die sich wie Menschen verhalten, Serverfarmen, die mit Ökosystemen gekoppelt sind, selbstfahrende Autos, Überwachung der meisten Interaktionen zum Schutz und der Optimierung aller Abläufe – in Niklas Maaks Roman betreten wir eine Welt, an deren Schwelle wir längst stehen, die aber immer noch futuristisch anmutet, wenn man sie, mit all ihren innovativsten und fortschrittlichsten Zügen, vorgesetzt bekommt.

Vor allem, weil sich schnell die Frage stellt, wie sich das vereinbaren lässt: auf der einen Seite die immer mehr in Richtung Perfektion und Reibungslosigkeit verlaufende Evolution der Technik und auf der anderen Seite der Mensch, dieses ganz und gar nicht reibungslose Wesen (das „Reibung“ sogar benötigt, in vielerlei Hinsicht), das mit dieser Evolution kaum Schritt halten kann, ohne dessen Mitwirkung die Visionen der Technik aber nichts weiter sind als ausgeklügelte Mechanik, der die Funktion (und der Sinn) fehlt.

Wie weit ist das Menschsein heute schon über Interaktionen zwischen Mensch und Maschine definiert (oder bewegt sich zumindest auf neue Definitionen zu)? Können Natur und Technik verschmelzen, können Herkunft und Errungenschaften des Menschen zu einem gemeinsamen Lebensumfeld werden?

„Technophoria“ geht diesen Fragen auf den Grund und das extrem schnörkellos. Wer ein geruhsam aufgebautes Narrativ erwartet, der wird rasch eines Besseren belehrt: das Buch ist ebenso schnelllebig wie die Zeiten, von denen es erzählt. Damit ist keineswegs gemeint, dass Maak einen platten, uninspirierten Schreibstil pflegt – seine Sprache ist präzise und bringt doch immer wieder erstaunlich poetische Bilder hervor, durchaus mit feinen Nuancen. Es ist vielmehr so, dass das Buch einfach niemals wirklich innehält, sondern geradezu unaufhaltsam seine Episoden abspielt.

Fixpunkt und roter Faden in dieser Abfolge von Episoden rund um den Globus ist zumeist Turek (nebst einer Gruppe von weiteren Protagonist*innen, in deren Innenleben wir allerdings nur begrenzt, meist nur in einer einmaligen Sequenz, Einblick erhalten). Er arbeitet am Anfang für einen Smart-City-Pionier namens Driessen, der in Berlin gerade ein Viertel modernisiert, mit allem was dazugehört: von Lichtern, die nur angehen, wenn jemand in ihrer Nähe ist, bis zu selbstfahrenden Autos. Ein anderes Projekt, das immer wieder eine Rolle spielt und eine Art Rahmen für das Buch bildet, ist das Anlegen eines Grabens vom Mittelmeer zur Qattara-Senke in Ägypten, zur Senkung des Meeresspiegels und der Schaffung einer neuen wirtschaftlichen High-End-Region, ähnlich dem Silicon Valley.

Aber auch zu Gorillas in den Urwald, Roboterpionieren in Japan und zu Serverfarmen in der Wüste Montanas verschlägt es Turek. Überall ist er konfrontiert mit den Auswüchsen der Globalisierung und, unter der dünnen Schicht aus Technik, Wirtschaft und Politik, einer gleichbleibenden Menge an menschlichen Emotionen.

Denn das arbeitet Maak gut heraus, wenn er es auch selten direkt zum Thema macht: ganz gleich, wie weit die Technik schon ist und was die Menschen alles schon für sich entdeckt (oder wiederentdeckt) haben: noch immer sind da, die Begierden, die Irritationen, die guten alten Affären, die unerwiderte Liebe, die Geltungssucht, die Sehnsüchte generell. Turek glaubt an die formende und erneuernde Macht der Technik, die Erlösung der täglich aufs Neue verlorenen Menschheit durch ihre kühnsten Schöpfungen – und doch bringt der Mensch mit jeder neuen Schöpfung mehr zwischen sich und seine Ursprünge und vielleicht auch zwischen sich und andere Menschen.

Wie steht es um die Vereinbarkeit von Innovation, Ressourcenmanagement und Ökologie? Können wir eine Welt erschaffen, die wie für uns gemacht ist oder verlieren wir gerade diese Welt aus dem Blick? Welche Hoffnungen und Ängste verbinden wir mit Technologie? Maaks Roman ist ein kleines Panorama technischer Möglichkeiten und der damit verbundenen Hoffnungen und Abgründe. Zwar sind die Figuren nicht unbedingt Sympathieträger*innen und man baut keine wirkliche Beziehung zu ihnen auf, aber man erlebt als Leser*in eindringlich, wie sie mit ihrer Umwelt und deren technischer sowie animalischer Natur verbunden sind/interagieren – und das ist, auf Umwegen, dann doch ein Blick in den Spiegel.

„Je neuer die Dinge sind, hatte Driessen gesagt, desto mehr muss man den Leuten einreden, dass alles so wie immer ist.“

Zu “Desintegriert euch!” von Max Czollek


Desintegriert euch Ich lebe in einem Land der reuevollen Nachfahren von Täter*innen/Anhänger*innen/Diener*innen einer zerstörerischen und menschenverachtenden Ideologie – mit dieser Erzählung bin ich aufgewachsen. Kann ich diese Vorstellung aufrechterhalten, wenn ich mir die Entwicklungen der letzten Jahre um den NSU und andere rassistisch motivierte Gewaltverbrechen, die AfD, Thilo Sarrazin, etc. (nebst ihrer Vorläufer wie Solingen, die NPD, Jürgen Möllemann, etc.) vor Augen halte?

Natürlich reicht schon ein Blick in die unmittelbare Nachkriegsgeschichte (die auch Czollek in seinem Buch beleuchtet), mit ihrer nicht wirklich vonstattengegangenen Entnazifizierung, um an der Erzählung vom reuevollen Deutschland zu zweifeln, aber spätestens die unmittelbare Gegenwart hat es offengelegt: dieses Land, diese Gesellschaft, sie haben ein Problem. In dem Versuch, auf irgendeinem Weg wieder ein „gutes“ Deutschland herzustellen, ignorieren sie nicht nur gegenläufige Entwicklungen, sondern instrumentalisieren alles für diesen Zweck, was nur irgendwie dafür infrage kommt.

Allen voran werden, so legt Czollek gut dar, die Juden (und Jüdinnen) für diesen Zweck eingespannt, als Überlebende/Nachkommen der größten Opfergruppe, die zu hofieren vermeintlich Absolution verspricht. Schon gleich zu Anfang legt Czollek dar, dass es in seinem Buch um dieses Missverhältnis und seine Nebenwirkungen & Folgen und natürlich um Gegenmaßnahmen geht.

Er [der Text] ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren – und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen damit zu tun haben. […] Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. […]
Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen. […] Nach wie vor bewegen sich Juden und Jüdinnen in einem Koordinationsfeld, das vom Begehren einer deutschen Position bestimmt wird. Dieses Begehren beschränkt die Repräsentation des Jüdischen auf Erfahrungen mit Antisemitismus, die Haltung zu Israel und den möglichen familiären oder künstlerischen Bezug zur Shoah. […] Deutsche wissen heute über Juden vor allem das eine: dass man sie umgebracht hat.

Gegen diese Rollenzuweisung und die damit verbundene Fremdbestimmung des Bildes von Juden und Jüdinnen in der deutschen Öffentlichkeit begehrt Czollek auf und führt zusätzlich aus, dass eine solche externe Zuweisung auch bei anderen Bevölkerungsgruppen vorgenommen wird, immer mit dem Ziel, eine „deutsche“ Identität in Opposition/im Kontrast zu (vermeintlich einheitlich) anderen, „fremden“ Vorstellungen zu konstruieren.

auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen.

So verbindet Czollek sein Aufbegehren gegen die eigene Fremdbestimmung mit dem Aufruf an alle dafür offenen Teile der Gesellschaft, Rollenzuweisungen an sich und andere zu überdenken. Darin (und in einer Desintegration, also dem Zurückweisen solcher Rollen) sieht er das Potenzial für ein Umdenken, das den Weg für eine Gesellschaft bereiten könnte, in der es wirklich um das Zusammenleben auf Augenhöhe und nicht um die von einer Gruppe vorgegebene Lebenswelt geht, in der andere mitleben dürfen, wenn sie sich allen Bedingungen und Parametern dieser Lebenswelt unterwerfen (das Wort „dienen“ am Ende des letzten Zitat ist also ein ziemlich passender Begriff) und nicht aus der Rolle fallen, die sich für die Konstruktion dieser Lebenswelt als nützlich erwiesen hat.

Dass solche singulären Lebenswelten, ausgerichtet nach Vorstellungen von Leitkultur oder Heimat, immer Konstruktionen sind und nichts mit der Wirklichkeit, der bereits vorhandenen Vielfalt (auch innerhalb der vermeintlich klaren Bevölkerungsgruppen „Deutsche“, „Juden“, „Muslime“, etc.) zu tun haben, macht Czollek mehr als deutlich.

Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines politischen und kulturellen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als ‚deutsch‘ versteht. […] Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich und meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. (Sollte es jemals eine jüdisch-christliche Kultur in Deutschland gegeben haben, dann ist das eine Kultur der Aneignung jüdischer Kultur und Schriften durch eine christliche Mehrheit, die sich einen Dreck um die kulturellen Beiträge und existenziellen Bedürfnisse der Juden und Jüdinnen in ihrer Mitte scherte und diese in guter Regelmäßigkeit verbannte, enteignete oder umbrachte) […] Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht. […] Wenn ich Ihnen, verehrte Leser*innen, »Desintegriert euch!« zurufe, dann geht es um mehr als eine jüdische Emanzipation aus einer allzu engen Rollenerwartung. Es geht um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten.

Anhand verschiedener historischer Ereignisse, wie etwa die Rede von Friedrich von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Martin Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels, die Fußball WM 2006 und den Einzug der AfD ins Parlament 2017, arbeitet Czollek den Wandel im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte heraus. Für ihn ist diese vor allem eine Geschichte der Aneignung und Umdeutung, eine Dynamik, die auch heute noch stur fortgesetzt wird.

Ein Beispiel zur Aneignung:

Es ist ein Akt der Aneignung, wenn Joachim Gauck am Holocaust Gedenktag 2015 behauptet, die Rückkehr der Juden sei »ein Geschenk für uns Deutsche.« Juden und Jüdinnen sind keine Geschenke, schon gar nicht an Deutsche. Und sie sind nicht wegen, sondern trotz dieser Deutschen und ihrer Geschichte hier. […] In der Dankbarkeit des damaligen Bundespräsidenten drückt sich dieselbe narzisstische Selbstverständlichkeit aus, mit der Deutsche davon ausgehen, ihr Bedürfnis nach Normalisierung wäre ein allgemein geteiltes Bedürfnis. Das ist es nicht. Auch nach Auschwitz muss sich nicht alles um die deutschen Täter*innen drehen.

Ein Beispiel der Umdeutung:

Weil die Deutschen nicht mehr völkisch, antisemitisch und rassistisch sein wollen, muss sich die politische Realität entsprechend verhalten. Da werden die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen eben von einer Affirmation völkischen Denkens zu einem Ausdruck politischer Frustration umgedeutet. […] Rechtes Denken hat eine besondere Qualität in Deutschland. Weil das so ist, will dieses Buch mit größtmöglichem Nachdruck für mehr Unnormalität plädieren. Wir müssen weg von der Sehnsucht nach Normalität.

Alles läuft letztlich mehr oder weniger darauf hinaus: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte ist sehr viel ungeklärter als ihr Selbstbild glauben lassen will; dieses Selbstbild ist ein Zerrbild, das nur mithilfe von vielerlei Konstruktionsmechanismen einigermaßen glatt aussieht (wobei es dennoch, wenn bspw. Czollek gelesen hat, so schwammig wirkt, dass man sich schon fragt, wer darauf hereinfallen soll). In dem Versuch, irgendwie die Verbrechen des Dritten Reiches hinter sich zu lassen, was im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit ist, behilft man sich mit frommen Überwindungswünschen, mit Absichtserklärungen, mit Inszenierungen, statt mit Taten, die zeigen, dass man die Vergangenheit und alle ihre noch vorhandenen Auswirkungen ernst nimmt und nicht nur den Eindruck aufrechterhalten will.

In seinem 2015 erschienen Film „Where to invade next“ besucht der amerikanische Regisseur Michael Moore Länder, von denen er glaubt, dass ihre Einstellung zu bestimmten Aspekten ein Vorbild für die USA sein sollte. In Deutschland geht es dabei um die Erinnerungskultur, die Moore der fehlenden US-amerikanischen Auseinandersetzung mit Sklaverei & dem Genozid an den Ureinwohner*innen gegenüberstellt. Czollek zeigt, dass, wenn wir diesem Bild gerecht werden wollen, die Art, wie wir diese Erinnerungskultur inszenieren und instrumentalisieren, überdenken müssen (Betonung auf müssen). Sie kann, richtig reflektiert und ausgerichtet, ein wichtiger Beitrag zu einer Welt sein, die bereit ist, aus der Geschichte zu lernen (so meine Überzeugung, ich weiß nicht, inwieweit Czollek sie teilen würde), aber ist derzeit auf dem besten Weg, dazu beizutragen, dass Geschichte sich wiederholt.

Am Ende seines Buches, das noch um einiges vielschichtiger ist, als ich bis hierhin dargestellt habe (u.a. gibt es noch jede Menge Überlegungen zu Rache, Kunst, Humor, in deren Zusammenhang Czollek vor allem (zeitgenössische) jüdische Positionen erarbeitet/darstellt), zitiert Czollek den armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink: „Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ Ich glaube, das ist ein wichtiger Merksatz, wenn es um die Sicherung des Überlebens der positiven und Diversität beanspruchenden Errungenschaften geht, die eine offene Gesellschaft überhaupt erst gewährleisten können. Insofern: beherzigen! Und: lesen!

 

Zu “Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß” von Maja Präkels


Als ich mit Hitler „»Mimi, nimm’s nich so schwer. Für die kleenen Leute hat sich noch nie wat zum Bessern jewendet. Biste unten, bleibste unten.«
»Was hat das denn mit den Nazis zu tun?«
»Na allet!«“

Ich war sehr gespannt auf Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, wurde mir das Buch doch als „der Roman zur Wende, wie sie wirklich war“, angepriesen. In dieser Hinsicht wurde ich auch nicht enttäuscht und es gibt sicher wenige Bücher, die so eindringlich den Bruch in der jüngsten deutschen Geschichte beschreiben und aufzeigen, auf welche Arten und Weisen dieser Bruch nicht einfach nur ein historischer Fixpunkt war, sondern auch ein (Um)Bruch in den Biografien unzähliger Menschen.

Wie Präkels (geb. 1974) ist auch ihre Protagonistin im Teenageralter, als die Mauer fällt und kurze Zeit später die Wiedervereinigung über die Bühne geht, die in ihrer Heimatstadt, genannt die Havelstadt, vor allem zu Arbeits- und Perspektivlosigkeit führt – und in weiterer Folge zu Banden von Schlägern, die durch die Ortschaften ziehen und jagt auf Andersgesinnte und Fremde machen, mit Drogen dealen und bei denen sich schnell die Ideen der Neonazis festsetzen.

Während die Familie der Protagonistin Mimi den um sich greifenden neuen Wahn nicht wahrhaben will, vor allem aber einfach mit den eigenen enttäuschten Hoffnungen klarkommen muss (die Mutter war stolze DDR-Bürgerin, der Vater steht kurz vor dem Organversagen wegen seiner Trinkerei), flüchtet sie sich zunächst in die Gegenkultur der Punks und Außenseiter*innen, später auch nach Berlin und anderswohin.

Doch immer wieder kehrt sie zurück in die Havelstadt, deren Schicksale sie nicht loslassen, obgleich ihr immer wieder das Grauen in die Glieder fährt, wenn sie dort ist – schließlich ist sie hier Zeugin einiger entsetzlicher Verbrechen geworden, hat viele persönliche Abstürze und Rückschläge hinnehmen müssen.

Vor allem kommt sie nicht los von der Angst vor/den Gedanken an den Nachbarsjungen, mit dem sie einst lose befreundet war und der nach der Wende zu einer Art Anführer der Skinheads aufstieg, sogar den Spitznamen „Hitler“ erhielt. In diesem Konflikt, aber auch in der ganzen Geschichte, spiegeln sich letztlich einige zentrale Dilemmata einer ganzen Generation von (jungen) Ostdeutschen wider.

Trotz dieser beeindruckenden Darstellung wirkt das Buch mehr wie eine Autobiographie und nicht wie ein Roman. Viele Figuren bleiben Randerscheinungen, viele Handlungselemente werden nicht zu Ende gebracht, was aber nicht an einer mangelhaften Darstellung liegt, sondern einfach daran, dass die Geschichte wie etwas Nacherzähltes und nicht wie etwas Fiktives aufgeführt wird, was gut ist für die Authentizität ist, aber, wie gesagt, wenig von einem Roman hat.

Das nimmt dem Buch zwar nichts, aber diese falsche Etikettierung hätte man trotzdem vermeiden können. Es ist klar: am besten verkaufen sich die Bücher, wo Roman draufsteht, aber „autobiografische Erzählung“ oder „Schilderungen einer DDR-Jugend“ oder etwas in der Art wäre eine ehrlichere Bezeichnung gewesen. Davon abgesehen gibt es an dem Buch selbst wenig zu bemängeln, es ist sprachlich stark und es wäre gut, wenn viele es läsen, bietet es doch neben einer spannenden Geschichte wichtige Einblicke in die Beschaffenheit der ostdeutschen Realität nach der Wende und damit in die Geschichte einer heimlichen Katastrophe, die bis heute andauert und in den letzten Jahren einige weitere hässliche Erscheinungen, Entdeckungen und Entwicklungen nach sich zog.

Zu Vladimir Nabokovs drittem Roman “Lushins Verteidigung”


Lushins Verteidigung Die Angst, man könnte sich nicht mehr zurechtfinden, ist allgegenwärtig, ebenso wie der Wunsch sich zurechtzufinden (sich als etwas Zurechtes vorzufinden). Deswegen gibt es Konventionen, Normen, Regelwerke, Traditionen und Misstrauen gegen alles Neue und auf der anderen Seite das Verlangen nach Neuem, nach Diversität, Freiheit, Emanzipation. Jeder Mensch will in Umständen leben, in denen sein (gewähltes) Verhältnis zur Welt (und zu den Mitmenschen) repräsentiert oder zumindest ermöglicht wird.

Was ist aber, wenn man es nicht schafft, ein Verhältnis zur Welt und zu den Menschen zu entwickeln? Was, wenn alles, was die Gesellschaft und die Welt einem bieten, einen nicht reizt? Was wenn man sich mit dem Zurechtfinden übermäßig schwertut, und keine Basis für eine Teilnahme am Leben finden kann?

Vladimir Nabokovs dritter Roman “Lushins Verteidigung” handelt von einem Sonderling; keinem exzentrischen, aufregenden Sonderling, sondern einem stillen, unkommunikativen Geschöpf. Lushin ist ein seltsames, trübsinniges Kind, findet keinen Spaß am Toben, an Raufereien, zeigt aber zunächst auch keine besonderen, autistischen Begabungen, scheint kein Interesse an irgendwas zu haben, will vor allem in Ruhe gelassen werden. Von den meisten Menschen wird er für beschränkt gehalten und Emotionen scheinen bei ihm unterentwickelt zu sein; selbst den Eltern gegenüber verhält er sich abweisend.

Dann findet sich doch noch ein Fixpunkt für sein Leben: Schach. Er ist sofort fasziniert von diesem Spiel und nach kurzer Zeit brilliert er nicht nur darin, sondern findet auf dem Brett und in den Figuren einen Lebensraum, eine Wirklichkeit, in der er sich zurechtfinden, in der er existieren kann. Über Jahre spielt er Turnier um Turnier, beheimatet in der Welt der Diagonalen und Geraden, der Züge und Stellungen, der Abläufe und Möglichkeiten. Schließlich setzt seinem Verstand die permanente Auseinandersetzung damit zu, die Welt der Schachformen droht ihn zu verschlingen. Doch wie soll Lushin die Welt anders begreifen…

Der Roman ist nicht unbedingt ein Unterhaltungsglanzstück, aber das großartiges Portrait eines Menschen mit Inselbegabung. Nabokov lässt sich Zeit mit der Beschreibung von Lushins Innenwelten, vermittelt keine frontalen Erkenntnisse über und von ihm, sondern kleidet seine Narration in fast schon beiläufige Schilderungen, bevor sie sich an bestimmten Stellen zu Erkundungen von Lushins Wesen verdichtet; Leser*innen sollten eine Freude an Detailverliebtheit und psychologischer Finesse mitbringen.

Lushin wurde mit bestimmten Anlagen geboren, aber machten die Reaktionen seiner Umwelt ihn zu dem Menschen, der er am Ende ist? Nabokovs filigrane Erzählung wirft, neben vielen anderen, auch diese Frage auf, hütet sich aber, den Fall in die eine oder in die andere Richtung auszudeuten und streut lediglich ein paar Hinweise. So bleibt das Buch für die Lesenden bis zum Schluss eine Erforschung von Lushins Psyche und man schwankt zwischen Erbarmen und Unverständnis.

“Lushins Verteidigung” ist wohl Nabokovs erstes Meisterstück. Hier zeigt sich auch zum ersten Mal sein Faible für Außenseiter und Querköpfe, die in seinen bedeutendsten Romanen (wie “Lolita”, “Pnin” und “Fahles Feuer”) die Protagonisten stellen werden. Leicht hätte der Stoff des Buches zu einer leeren Hybris werden können, aber Nabokov gelingt es, die Aufmerksamkeit auf Lushin als Mensch zu konzentrieren und nicht auf Lushin als Schachgenie.
Somit ist “Lushins Verteidigung”, ähnlich wie Stefan Zweigs “Schachnovelle”, kein Buch in dem es primär um Schach geht. Aber in beiden Büchern wird Schach zu einer großartigen Metapher für die jeweiligen Inhalte.

“Lushins Verteidigung” ist ein sinnliches, mitunter betont langsames Werk, das seine volle Wucht in den Untertönen, den unauffälligen Umwälzungen entwickelt. Es ist keine mitreißende oder einnehmende Lektüre, aber so filigran, dass man durchaus gebannt ist von der Entwicklung in jedem neuen Abschnitt, auch wenn eigentlich nicht viel passiert. Wie gesagt: man sollte Interesse an einer Seelenerkundung mitbringen – denn nichts anderes ist dieses vortreffliche Werk.

Zu Vladimir Nabokovs zweitem Roman “König Dame Bube”


König Dame Bube Vladimir Nabovos zweiter Roman spielt, wie schon der erste, im Berlin der 20er Jahre, wo sich auch der Autor zur Zeit der Niederschrift aufhielt. Während der erste Roman “Maschenka” unter russischen Emigrant*innen spielt, werden die Lesenden in “König Dame Bube” Zeugen/innen einer Dreiecksgeschichte in einem gewöhnlicheren Milieu.

Franz kommt nach Berlin, um für seinen Onkel Dreyer zu arbeiten, der einige gute Geschäfte macht und in einem großen Haus am Stadtrand lebt. Dort begegnet Franz auch zum ersten Mal Martha, Dreyers Frau und seiner Tante, und ist, als Unschuld vom Lande, von ihrer Schönheit sofort in Beschlag genommen.

Sie ist erfreut über diese unerwartete, jugendliche Schwärmerei und bald begierig darauf, ihre Chance auf eine Romanze mit Franz zu bekommen, wo doch ihr eigener Mann sie erotisch (und auch ansonsten) überhaupt nicht reizt. Und sie beginnt darüber nachzusinnen, wie perfekt alles wäre, wenn Dreyer nicht mehr unter ihnen weilen würde…

Auf der Rückseite des Buches steht etwas davon, dass Nabokov sich in diesem frühen Werk als “Meister delikater Psychologie” zeigt. Das finde ich etwas hochgegriffen. Es ist ohne Frage eines von Nabokovs ausgelasseneren Büchern, mit viel Witz und einer eher leichtfertigen, wenngleich beschwingten Psychologie. Er zeigt seine Figuren als mitunter einfältige, eitle, emotionsbefeuerte Wesen, die in den seltensten Fällen auf Feinsinn oder Reflexion zurückgreifen. Sie tragen alle einen gewissen Übermut in sich – oder das Gegenteil, Angst oder Verzweiflung – die das Buch lebendig halten.

Dennoch (oder gerade wegen dieser Machart) ist “König Dame Bube” ein unterhaltsamer Roman, der hier und da mit Sprachverliebtheiten und Beschreibungsfiligranitäten auftrumpft, die einen Nabokov in der Probierphase verraten, der es sich bei diesem Buch anscheinend gegönnt hat, weniger Balance und mehr Esprit walten zu lassen. Immer wieder macht der Roman Spaß, hat aber auch gewisse Längen. Nicht der beste Nabokov und wenn man etwas von den früheren Werken lesen will, dann sollte man eher zu “Maschenka” oder “Lushins Verteidigung” greifen.

Zu Emily Fridlunds “Eine Geschichte der Wölfe”


Eine Geschichte der Wölfe Direkt vorweg: “Eine Geschichte der Wölfe” ist ein sehr, sehr bemerkenswertes Buch. Nicht primär wegen dem Plot oder der Sprache, sondern weil es schlicht und einfach unter die Haut geht. Wurde ich bisher nach einem umfangreicheren Roman von einer zeitgenössischen Autorin, der unter die Haut geht gefragt, nannte ich meist Marisha Pessls “Die amerikanische Nacht”, manchmal auch “Die Vegetarierin” von Han Kang (wobei nicht so umfangreich). Jetzt kann ich auch noch “Eine Geschichte der Wölfe” nennen.

Linda (oder Madeleine, Linda scheint ihr selbstgewählter Name zu sein) lebt mit ihren Eltern in einer kleinen Hütte im amerikanischen Middlewest-Nordstaat Minnesota, in der Nähe eines Sees. Das Verhältnis zu ihren Eltern (ehemalige Hippies) und ihre Lebensumstände sind trostlos, in der Schule ist sie eine Außenseiterin. Ein neuer Lehrer verspricht für sie und die andere Außenseiterin Lily ein Hoffnungsstreif zu werden, aber sehr schnell offenbaren sich unheimliche Züge in dessen Persönlichkeit.

Linda erzählt die Ereignisse um ihn und ihre Kindheit rückblickend. Inzwischen ist sie 14 und freundet sich mit einer jungen Mutter an, die ein Sommerhaus am See bezogen hat; ab und zu babysittet sie ihren kleinen Sohn. Bald tun sich aber auch in dieser Familie Abgründe auf und Linda sieht sich mit der Frage konfrontiert, inwieweit Erziehung und Lebenswelt Privatsache sind und wann sie problematische Züge annehmen.

Eine Geschichte der Wölfe ist fast durchgehend eine ungemütliche Angelegenheit. Es gibt Augenblicke der Wärme, aber die Grundstimmung hat etwas Herbes, etwas Sinisteres beizeiten. In Linda ballt sich immer wieder die gesammelte Ratlosigkeit des Individuums, das nicht tatenlos sein will, aber auch nicht weiß, was in seiner Macht steht und was nicht; daran zweifelt, dass es etwas erreichen kann in diesem Fall.

Wie verhält man sich zu jenen Erscheinungen des “Gefährlichen”, die sich am Rande des Verbrechens bewegen? Die Erkenntnis ist schon vorhanden, aber für eine eigene Tat sind sie nicht greifbar genug … Ein Dilemma, vor das sich jeder Mensch irgendwann einmal gestellt sieht. Emily Fridlund führt dies vor, eindrücklich, intensiv, nachhaltig. Großartig erzählt.

Zu der Anthologie “Sagte sie – 17 Erzählungen über Sex und Macht”, erschienen bei Hanser Berlin


Sagte Sie „(auch habe mich bei der Körperpflege, beim Schminken, Sportmachen und Rasieren schon häufiger mit schlechtem Gewissen gefragt, für wen ich das eigentlich tue, wenn nicht für die Männer beziehungsweise in diesem konkreten Fall C., und bin zu dem Schluss gekommen, dass mein Wille und ihrer nicht mehr trennbar sind, das heißt: Sie würden mir das gleiche Kleid aussuchen wie ich.“
(Antonia Baum)

Eine Frau beginnt zu sprechen, an ein Publikum gerichtet, gleichsam als würde sie in einem Raum, der halb Bühne, halb Gerichtssaal ist, ihren Fall vortragen. Sie spricht von ihren Zweifeln, davon wie sie selbst nicht ganz genau weiß, wie sich abgrenzen soll von der Art, wie sie gesehen wird, wie sie gesehen werden will (und wie sich das beides bedingt), dass sie sich schuldig fühlt und nicht weiß, inwieweit sie das sollte, erzählt wie sie wieder und wieder als Frau in soziale Konventionen verstrickt wird, die sie oft als unangenehm, manchmal aber auch als angenehm empfindet. Das alles breitet sie aus, aber eigentlich will sie von einem Erlebnis mit einem Arbeitskollegen erzählen; einem netten Typen, der aber dann im Taxi übergriffig wird.

Schon in dieser ersten Erzählung von Antonia Baum zeigt sich die Ambivalenz, die dieser Band und seine Thematik aushalten müssen und der in den Erzählungen, wie ich finde, letztlich über weite Strecken vielschichtig und gut Ausdruck verliehen wird. „Setzen sie sich!“ ist als Einstiegstext die perfekte Wahl, denn er erzählt einerseits eine ziemlich klare Geschichte, ist aber andererseits in seiner ganzen Inszenierung facettenreich, inkludiert viele weitere Aspekte.

Baums namenlose Frau muss sich nicht nur Zwischenrufe aus dem Publikum gefallen lassen, der ganze Rahmen, in dem sie ihr Erlebnis schildert, bildet wiederum einen Aspekt der Problematik ab: wenn sie davon sprechen will, muss sie sich ausstellen, sie muss es sich gefallen lassen, beurteilt zu werden (entweder als Opfer oder als Mittäterin, was sie natürlich beides nicht sein will) sie muss sich rechtfertigen, sich erklären. Sie findet keine Position, in der sie wirklich über sich und das Geschehene reden kann, umringt von einem Wust aus Details und Überlegungen, die sich in für und wider aufteilen, als ginge es nur darum, ob das Urteil zu ihren Gunsten ausfällt – und nicht um das Verstehen ihrer schwierigen Position, um ihre Gefühle und deren Verletzung; um sie als menschliches Wesen, nicht als Fall.

Die folgenden Erzählungen von Anna Prizkau und Julia Wolf weiten das Thema „Sex und Macht“ auf ihre Weise aus. In Prizkaus „Boss“ ist der Job der Mutter an die Bedingung geknüpft, dass sie etwas mit ihrem Chef hat. Julia Wolfs Erzählung „Dickicht“ ist einer der eigenwilligsten Texte des Bandes, stark fokussiert auf die Eigenständigkeit des Narrativ. Er arbeitet auf verschiedenen Ebenen mit den Motiven Angst und Verletzlichkeit, ohne sich klar zu positionieren, bleibt ausdeutbar.

Anett Gröschners „Maria im Schnee“ ist dagegen die knappe, schonungslose Schilderung einer Vergewaltigung. Die namenlose Frau wird von diesem Gewaltakt wie in zwei gerissen – der betrunkene Vergewaltiger glaubt in ihr eine andere Person zu erkennen, eine Maria. So erleidet sie die Vergewaltigung zweifach: in den eigenen Schmerzen und Gefühlen und in der Taten- und Hilflosigkeit der Betrachterin gefangen. Sie ist das Opfer, aber auch Maria ist das Opfer. Maria und alle anderen Frauen, von denen Männer glauben, sie würden gerne oder willig ihrem sexuellen Verlangen Abhilfe schaffen (sie wären dazu da) und man könnte das einfach jederzeit von ihnen erwarten, verlangen, fordern. Gröschner schildert den Vergewaltiger als verstörten Mann, als Individuum, das fast schon Erbarmen weckt; aber sie zeigt im selben Moment: auch hilflose Gesten können Gesten der Gewalt sein. Es gibt in den gesammelten Essays von Magret Atwood eine Stelle, wo es heißt:

»Wieso fühlen sich Männer von Frauen bedroht«, habe ich unlängst einen Freund von mir gefragt […] »Ich meine, Männer sind doch größer«, sagte ich, »meistens jedenfalls, können schneller laufen, besser würgen, und im Schnitt haben sie auch viel mehr Macht und mehr Geld.« »Sie haben Angst, dass die Frauen sie auslachen«, sagte er. »Ihre Weltsicht belächeln.« Und dann fragte ich in einem improvisierten Lyrikseminar ein paar Studentinnen: »Wieso fühlen sich Frauen von Männern bedroht?« »Sie haben Angst, dass sie umgebracht werden«, hieß es lapidar.

Und diese Angst vor männlicher Gewalt ist leider alles andere als unbegründet; alle Zahlen belegen, dass Männer sehr viel gewalttätiger als Frauen sind (nicht nur gegen Frauen) und ihre Motive ändern nichts daran, dass es Gewaltakte sind.

Der folgende Text von Annika Reich, „Der Fleck“, besticht durch seine Bilder, durch seine Art, sich an Dinge heranzutasten. Die Protagonistin ist mit ihrer Mutter in China und erlebt dort eine ungewohnt asexualisierte Atmosphäre. Diese Abwesenheit bringt ihre Protagonistin zum Nachdenken. Vor allem denkt sie darüber nach, was die sexualisierte Atmosphäre zu Hause mit ihr macht/gemacht hat:

Ich hatte keine fremde Hand mehr am Arsch. Keine Hand mehr am Arsch, keine am Busen, keine an der Hüfte, der Taille, dem Nacken. Die fremden Hände waren von mir abgefallen wie Gipsabdrücke, die abgetrocknet keinen Halt mehr fanden, keinen Halt und vielleicht auch keinen Gefallen mehr an mir. […] Mein Körper, hin- und hergerissen zwischen einer hingebungsvollen und einer straffen Beziehung zu sich selbst, meist gleichzeitig weich und verspannt, hatte sich im Hohlraum dieser Griffe geformt.

Außerdem gibt es da noch ein totgeschwiegenes Familiengeheimnis, über das Reichs Protagonistin endlich mit ihrer Mutter reden will. Die ganze Konstellation, zusammen mit den introspektiven Einschüben, breitet eine Palette von Themen aus: das früher vorherrschende (und bis heute angewandte) fast schon chronische Verschweigen oder Kleinreden von sexuellen Übergriffen in der Familie; die in der Gesellschaft immer noch präsente Vorstellung, eine Frau sei nichts ohne einen Mann ganz gleich, ob sie nun glücklich ist oder nicht; das Flirten als Erwartung, als Pflicht geradezu, als Aufmerksamkeitsvoraussetzung, und anderes.

In der Beziehung Mutter und Tochter wird der Generationenkonflikt – die alten Muster auf der einen, die langsam sich durchsetzenden Überzeugungen auf der anderen Seite – verhandelt, aber auch das generationsübergreifende Verständnis füreinander, weil die Erfahrungen trotzdem oft dieselben sind.

Einen spannenden Text hat auch Margarita Iov geschrieben: „Das Wasser des Flusses Lot“, eine Geschichte, irgendwo zwischen Parabel und feingesponnener Erzählung liegend, die ich bereits dreimal gelesen und noch immer nicht ganz durchdrungen habe. Sehr lesenswert, ich wünschte, ich könnte mehr dazu sagen, traue mir aber eine Analyse nicht zu. Anja Kümmel ist in ihrer Besprechung beim Onlinemedium Fixpoetry sehr gut auf diese Erzählung eingegangen.

Ich gebe zu, dass mich die nächsten beiden Texte – Anna Katharina Hahns „Drei Mädchen“ und Helene Hegemanns „The day I fucked her husband at the lake“ – etwas ratlos zurückgelassen haben. Ich kann sie im Kontext verorten, aber ihre Dynamiken verblüffen mich.

Hahn dreht den Spieß quasi um und schildert eine Kinderhortszene, in der die Mädchen als die stärkeren Personen auftreten, die Jungen dominieren und vielleicht auch ein wenig tyrannisieren. Ohne Zweifel ein spannender Beitrag, der auch die unbequeme Frage nach der generellen Problematik von Machtverhältnissen und ihrem natürlichen Zustandekommen aufwirft.

Hegemann wiederum erzählt eine Geschichte von einigen Aussteigern, die – halb Hippies, halb Millennials – am Meer in Kanada leben, ohne Strom, fließend Wasser – und ohne Sorgen. Hegemann verhandelt zwar gut die Themen Anziehung und Begehren (deren Individualität), und wie Rollenbilder, Besitzverhältnisse, etc. Einfluss darauf haben, trotzdem kommt ihr Text ein bisschen aus dem Nichts und verschwindet dort auch wieder, hat irgendwie keinen wirklichen Dreh- und Angelpunkt. Möglicherweise ist das aber auch ein Feature und kein Fehler.

Anke Stellings Text „Raus“ schildert die langsame Entfremdung der Ich-Erzählerin von einer befreundeten Dichterin, die von ihrem Mann tyrannisiert und nach allen Regeln der Kunst untergekriegt und abgeschottet wird, ohne, dass sie sich dazu in der Lage sieht, etwas dagegen zu unternehmen. Einer der geradlinigsten Texte, einer der psychologischsten.

Nora Gomringer entfaltet in ihren Monologen „aus dem dazwischen“ ein Kaleidoskop von Ansichten und Erlebnissen, angefangen beim noch nicht in die Pubertät eingetretenen Mädchen, das einen Übergriff durch einen Typen im Schwimmbad erlebt und beschließt, möglichst unauffällig, möglichst unattraktiv zu werden, um nicht mehr in Gefahr zu sein (denn nur als solche nimmt sie Begehren nun wahr: als Gefahr) bis zu einem Mann, der darüber klagt, dass er nicht mit allen Arschlöchern in einen Topf geworfen werden will, nur weil er einen Penis hat, den er schön findet, ebenso wie er Frauen schön findet und begehrt, während er damit hadert, dass sein Begehren auch als etwas Unerwünschtes wahrgenommen werden kann, als eine Zumutung.

Jackie Thomaes Beitrag „Unsexyland“, in einer nahen Zukunft spielend, überzeugt vor allem als klassische Narration, enthält eine der besten szenischen Schilderungen und zeichnet, ähnlich wie der Text von Hegemann, sehr gut Begehrensstrukturen nach, ihr Durchhaltevermögen, gleichsam ihre Irrationalität und ihre Fragilität.

Ein bisschen enttäuscht war ich von Margarete Stokowskis „Zurück“. Als großer Fan von „untenrum frei“ und der dort vorherrschenden, gelungenen Verquickung von Erlebnisbericht und essayistischer Ausformung, erscheint mir dieses Prosastück etwas blass, die Figurenkonstellation etwas zu gewollt. Vielleicht ist es eine wahre Geschichte – wenn sie fiktiv ist, wirkt das Nebeneinander zweier Thematiken (Obdachlosigkeit und sexueller Missbrauch – wohlgemerkt: nebeneinander, nicht in einer Figur zusammengelegt), etwas überinstrumentiert. Möglicherweise tue ich der Erzählung Unrecht – und mir ist klar, dass es problematisch ist, zu einem Text mit dieser Thematik einfach Geschmacksurteile abzugeben. Möglicherweise habe ich die Idee hinter dieser Zusammenführung nicht ganz verstanden.

Kristine Bilkaus „Die kurze Zeit der magischen Logik“ fängt einen weiteren Aspekt der Thematik Geschlecht und Macht ein. In ihrer Geschichte erlebt eine Mutter, wie ihre Tochter beim Spielen von zwei Jungen geärgert wird, ohne, dass die Jungen dafür von dem befreundeten Elternpaar wirklich gemaßregelt werden – am Ende ist es ihre Tochter, die sich bei den Jungen entschuldigt, weil sie wieder mitspielen will.

Am Ende noch zwei Highlights. Zum einen Mercedes Lauensteins Dialogtext „Die Wahrheit“, der die Lesenden auf ambivalente, mitunter durchaus amüsante, dann wieder ernste Weise mit Erwartungsstrukturen konfrontiert, wie vor allem Frauen sie ständig durchlaufen müssen, durch sie hindurchgeschleust werden. Und ständig in der Lage sind, reagieren zu müssen.

Fatma Aydemirs Text „Ein Zimmer am Flughafen“, mit dem der Band schließt, berichtet wiederum von einem Übergriff und wie eine Frau diesen Übergriff jemand anderem anvertraut. Die andere Person kennt den Übeltäter: es ist sein Schwager. Er will sie zu einer Aussage überreden, damit seine Schwester den Mann verlassen kann. Sie leugnet alles, zieht sich zurück. Im Licht dieser Erzählung wird noch einmal deutlich, was ein Übergriff mit einer Person macht, wie Machtausübung auch abseits des tatsächlichen Aktes geschieht, wie toxisch sie ist und wie viele Spuren von ihr zurückbleiben.

„Sagte Sie“ ist nicht nur ein Buch über sexuelle Gewalt, aber in jedem Text werden Gefälle sichtbar, zeigt sich die Schmalheit der Schwellen, an denen sich Begehren in Übergriffigkeit, Reiz in Gewalt, Interesse in Machtausübung verwandelt. Es erzählt, anschaulich und vielschichtig, und in seinen Erzählungen wird deutlich und ersichtlich, wie sehr menschliches Zusammenleben von den Auswüchsen der Problematik „Sex und Macht“ überzogen, umrankt, teilweise überwuchert wird; nicht in jedem Fall, aber oft genug.

Deswegen ist der Band lesenswert, sollte gelesen werden: als Auseinandersetzung, die viele Dimensionen abdeckt, die schildert, die den wichtigen Klartext mit wichtigen Zwischentönen versieht (ohne den Klartext damit zu untergraben). Das Buch sucht den Dialog und stellt gleichzeitig die Dinge dar, schlicht und direkt. Ich habe viel Eindrückliches mitgenommen und gleichsam viele Denkanstöße.